Die Zeit im Sommerlicht – Ann-Helén Laestadius

AutorAnn-Helén Laestadius
VerlagHOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Datum4. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten480
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMaike Barth, Dagmar Mißfeldt
ISBN-13978-3455017083

„Als sie das Internat betrat, hatten sich die Betreuerinnen in einer Reihe aufgestellt und die Kinder angelächelt, in deren Gesichtern die Tränen Spuren hinterlassen hatten. Vor allen stand die Heimleiterin Rita Olsson, die sie Hausmutter nennen sollten. Sie lächelte nicht.“ (Zitat Pos. 49)

Inhalt

Vor zwei Wochen war auch die siebenjährige Else-Maj in dem Bus gesessen, der die Kinder aus den Sami-Dörfern einsammelte und in die Nomadenschule brachte, ein Internat in Láttevárri, wo sie die schwedische Sprache und Kultur lernen sollen. Wer von der gefürchteten Hausmutter Rita Olssen dabei erwischt wird, samisch zu sprechen, wird streng bestraft. Hilfe und Unterstützung finden sie bei der jungen Erzieherin Anna, doch diese verlässt eines Tages plötzlich das Internat. Die Jahre in der Nomadenschule, fern von ihren Heimatdörfern und ihren Familien, traumatisieren und prägen die Kinder wie Else-Maj, Jon-Ante, Nilsa, Marge und Anne-Risten für ihr weiteres Leben. Auch wenn sie nicht über diese schlimme Zeit reden, die Erinnerungen lassen sie auch nicht los, als sie längst erwachsen und selbst Eltern sind.

Thema und Genre

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Sami auch in Schweden diskriminiert und unterdrückt, man zwang die Eltern, ihre Kinder auf sogenannte Nomadenschulen zu schicken, wo der Unterricht ausschließlich in schwedischer Sprache stattfand. Es war verboten, samisch zu sprechen und die Zustände in diesen Schulen haben die betroffenen Menschen über Generationen traumatisiert. Obwohl es sich hier um einen Roman handelt, sind viele reale Erinnerungen von Schülerinnen und Schülern der Nomadenschulen in die Handlung eingeflossen.

Erzählform und Sprache

Die Autorin folgt ihren Hauptfiguren in einzelnen Abschnitten und mit einigen Zeitsprüngen über mehr als dreißig Jahre, beginnend 1950. Durch den jeweiligen Namen und auch das Jahr in den Kapitelüberschriften ist die Handlung jedoch sehr klar strukturiert und nachvollziehbar. Gerade diese Art des Erzählens macht die Geschichte packend, lebhaft und vielschichtig auf Grund der Entwicklung der einzelnen Charaktere als Folge der Kindheitserlebnisse. In Verbindung mit der präzise schildernden, empathischen Erzählsprache ergibt sich ein eindrucksvolles, berührendes Gesamtbild.

Fazit

Eine fiktive Geschichte mit realem geschichtlichen Hintergrund, ein beeindruckender Roman über die Sami, ihre Kultur, ihr freies Leben in der Natur und die Schicksale ihrer Kinder, die mit etwa sieben Jahren aus diesem Leben gerissen und in strenge Internate gebracht wurden, wo man versucht hat, sie mit Zwang umzuerziehen. Eine Lektüre, die nachhallt und die man noch lange in den Gedanken behält.

Das Lächeln der Königin – Stefanie Gerhold

AutorStefanie Gerhold
VerlagGaliani-Berlin
Datum8. Februar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3869712987

„Bedeutenden Fund gemacht. Beschreiben nutzlos. Brief folgt. Borchardt. (Zitat Pos. 139)

Inhalt

James Simon ist der vermögende Inhaber einer florierenden Berliner Textilfirma. Sein Vermögen setzt er für viele soziale Projekte ein, aber er ist auch ein begeisterter Kunstmäzen. Während der Weihnachtsfeier 1912 erhält er ein Telegramm des Archäologen Ludwig Borchardt, dessen Ausgrabungen in Tell el-Amarna James Simon ebenfalls finanziert. Noch ahnt Simon nicht, welche Auswirkungen die Entdeckung der Werkstatt des Bildhauers Thutmes haben wird und vor allem der Fund der Büste der Nofretete. Bei der Aufteilung der Funde gelingt es Borchardt, die Büste der Königin für Berlin zu gewinnen, indem er dem Ägyptischen Museum den Klappaltar mit einem Bild des Königspaares Echnaton und Nofretete mit drei Kindern überlässt. 1913 erhält er tatsächlich die Ausfuhrgenehmigung nach Deutschland. Öffentlich ausgestellt wird bie Büste jedoch erst im Jahr 1924, und damit beginnen auch die Diskussionen um eine Rückgabe.

Thema und Genre

Obwohl es sich hier um einen Roman, somit um Fiktion handelt, sind die Menschen und Fakten real und auch die Ereignisse wurden von Stefanie Gerhold an die vorhandenen geschichtlichen Quellen wie Biografien und Fachliteratur angepasst. Themen sind Ausgrabungen, das alte Ägypten, aber auch das gesellschaftliche Leben im pulsierenden Berlin der Zwanziger Jahre als Zentrum der Kultur und Wissenschaft. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der bedeutende Sammler und Mäzen James Simon, dem die Berliner Museen wertvolle Sammlungen und Kunstschätze verdanken.

Erzählform und Sprache

James Simon steht im personalen Mittelpunkt der chronologisch erzählten Ereignisse. Die Sprache schildert lebhaft und spannend und ist auch auf Grund der genauen Recherche interessant zu lesen. Ein Epilog erzählt mit historischen Daten und Fakten die hier als Roman begonnene Geschichte real zu Ende.

Fazit

Eine unterhaltsame, packende Geschichte zwischen Fiktion und Fakten, eine ausgewogene, gelungene Kombination aus Roman und geschichtlichem Hintergrund, die man mit Vergnügen liest.

Kamnik – Felix Kucher

AutorFelix Kucher
VerlagPicus Verlag
Datum26. Februar 2018
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3711720580

„Er hat Deutsch gesprochen. Ich habe versucht, Spanisch mit ihm zu reden, aber ich habe dann gemerkt, dass er mich nicht verstanden hat.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Anton Lipic wächst Anfang des 20. Jahrhunderts als jüngerer Sohn einer armen Bauernfamilie in Podgora auf, ein Dorf im slowenischsprachigen Südkärnten. Als er am 30. Oktober 1925 die Baustelle in Tirol verlässt, wo er als Bauarbeiter gearbeitet hat, weiß er, dass er im folgenden Frühjahr nicht zurückkehren wird. Ende Februar 1926 ist es so weit, er tritt als Auswanderer seine Reise nach Buenos Aires an. Er hatte es sich einfacher vorgestellt, in Argentinien Arbeit zu finden, doch er arbeitet hart und geht seinen Weg. August Kamnik, ebenfalls aus Kärnten, allerdings aus dem deutschsprachigen Teil, kommt erst 1945 nach Argentinien. Als Techniker hat er keine Probleme, in Buenos Aires Arbeit zu finden. Zwei sehr unterschiedliche Lebensläufe, und doch gibt es eine Verbindung.

Thema und Genre

Dieser Roman beginnt mit der Situation der Kärntner Slowenen, die Volksabstimmung 1920 und weiterhin hoffnungslose Armut der einfachen Bauernfamilien in den Jahren danach, die Zeit des Nationalsozialismus. Themen sind Familie, Sprache, Heimat, Identität. Vor allem jedoch geht es um das Leben der Auswanderer, die rasch aus ihren Zukunftsträumen erwachen und sich der Realität stellen müssen.

Charactere

Sobald Anton eine Chance sieht, nach Argentinien auszuwandern, lernt er Spanisch. Nach Europa will er nie mehr zurückkehren. Erst als er Kamnik kennenlernt, muss er wieder Deutsch sprechen, denn Kamnik spricht noch kaum Spanisch. Die Sprache eint und trennt, ein wichtiges Symbol in dieser Geschichte.

Erzählform und Sprache

Die Erzählform ist personal, verfolgt und schildert so die unterschiedlichen Lebenswege der beiden Hauptprotagonisten, lässt uns an ihren Gedanken, Verhaltensweisen und Entscheidungen teilhaben.  So wissen wir von Beginn der Geschichte an mehr, als Anton und Kamnik, vermuten rasch die Zusammenhänge. Gerade dieses Wissen macht die Geschichte spannend. Die Erzählsprache ist klar, ruhig, schildert anschaulich und eindrücklich, fügt die Handlung nachvollziehbar in den realen geschichtlichen Kontext ein.

Fazit

Eine eindringliche, sehr kluge und vielschichtige Geschichte mit zeitlos aktuellen Themen.

Das Herz von Paris – Veronika Peters

AutorVeronika Peters
Verlag OKTOPUS bei Kampa
Erscheinungsdatum 10. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3311300199

„Dies ist einer der Momente, die man einpacken und mitnehmen können sollte, dachte Ann-Sophie, für Zeiten, in denen alles wieder öde und leer und trostlos sein wird.“ (Zitat Seite 44)

Inhalt

Vor vier Wochen waren Ann-Sophie von Schoeller, dreiundzwanzig Jahre alt, und ihr Ehemann Johann von Berlin nach Paris gezogen. Für Johann, gerade erst am Beginn seiner Laufbahn als Jurist, ist das Angebot, als Partner und späterer Nachfolger in die Anwaltskanzlei seines Onkels in Paris einzusteigen, eine einmalige Karrierechance. Doch auch der milde Frühling in diesem April 1925 kann Ann-Sophie nicht überzeugen, sie findet Paris enttäuschend. Bis sie eines Tages in einer Gasse, zufällig einen kleinen Laden entdeckt. „SHAKESPEARE AND COMPANY, Bookshop, Lending Library”, ist auf der holzvertäfelten Front zu lesen. In der Auslage liegen Bücher in englischer Sprache. Hier, in der Rue de l’Odéon, öffnet sich für Ann-Sophie ein neues, unbekanntes Universum und bald auch der magische Zauber der Stadt Paris.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem Hintergrund geht es um das rasante, aufregende Leben in der Pariser Literatur- und Kunstszene in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen. Im Mittelpunkt stehen die zwei legendären Buchläden der ebenso legendären Buchhändlerinen und Verlegerinnen Sylvia Beach und Adrienne Monnier, sowie die Schriftstellerinnen, Schriftsteller, Künstlerinnen, Journalistinnen, mit denen sie befreundet sind – eine eigenwillige, buntschillernde Gemeinschaft von engagierten, selbstbewussten Frauen.

Charaktere

Ann-Sophie wollte einfach ein geordnetes Leben führen, doch tief in ihr ist mehr. Ann-Sophie und wir Lesenden treffen in diesem Roman auf unangepasste, eigenständige Künstlerinnen, sie alle haben ihre eigenen Träume, aber auch ihre inneren Dämonen. Djuna Barnes: „Wir segeln, jede auf ihre Weise, haarscharf an unseren inneren Abgründen entlang und nicht selten auch darüber hinaus.“ (Zitat Seite 53)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, ergänzt durch Rückblenden. Gespräche und Diskussionen fügen weitere Details hinzu und verbinden die fiktive Geschichte von Ann-Sophie mit dem Leben der bekannten, realen Persönlichkeiten der Rue de l’Odéon und mit den Künstlerkreisen der berühmten Salons und Lokale zu einem perfekten Ganzen. „Ich bin Sylvia. Kommen Sie herein, drinnen sind noch mehr zornige Frauen. Lassen Sie uns gemeinsam einen Tee trinken und das richtige Buch für Sie finden.“ (Zitat Seite 19) Bald zeigt sich, dass Ann-Sophie hier weitaus mehr findet, als nur das richtige Buch. Darum geht es in diesem Roman. Literaturbegeisterte werden beim Lesen rasch erkennen, wie genau die Autorin recherchiert hat, und die Quellenangaben am Buchende regen sofort an, einige der genannten Titel als vertiefende Weiterführung dieser Geschichte zu lesen. Ich habe schon den letzten Roman der Autorin, „Die Dame hinter dem Vorhang“, mit Vergnügen gelesen, doch dieser neue Roman über „Das Herz von Paris“ hat mich begeistert.

Fazit

Dieser Roman, in dessen Mittelpunkt die beiden Buchhandlungen in der Rue de l’Odéon stehen, mischt gekonnt Fiktion und die bekannten historischen Fakten. Eine charmante, lebhafte Geschichte über Frauen, die sich bewusst nicht mehr den Zwängen der damals vorherrschenden, traditionellen Gesellschaftsstrukturen und Rollenbilder unterordnen wollten. Sie folgten ihren eigenen Plänen, Träumen und Leidenschaften unbeirrt durch das Chaos, das sich Leben nennt. Lesevergnügen, nicht nur für Büchermenschen.

Ins Unbekannte: Die Geschichte von Sabina und Fritz – Lukas Hartmann

AutorLukas Hartmann
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257072051

„Menschen sind und bleiben unterschiedlich. Man kann sie zu Gutem erziehen, aber nicht zurechtstutzen wie Nutzpflanzen.“ Zitat Seite 118)

Inhalt

Sabina Spielrein, eine junge Russin aus begüterten Verhältnissen, wird 1904 von ihren Eltern in eine psychiatrische Privatklinik in Zürich gebracht. Dort wird sie von Carl Gustav Jung, damals Oberarzt, behandelt. Er ermutigt sie, ihrem Wunsch zu folgen und Medizin zu studieren. Die Psychoanalyse wird ihr Fachgebiet. Der junge Schweizer Fritz Platten ist begabt und interessiert, er möchte lernen, aber die Armut seiner Eltern macht den Besuch des Gymnasiums unmöglich. 1918 ist er einer der Initiatoren des Schweizer Landesstreiks, kämpft für eine gerechtere Gesellschaft. Sabina gerät in eine Demonstration und für einige Augenblicke kreuzen sich zufällig ihre Wege. „Einer, der zuvorderst ging, fiel ihr besonders ins Auge. Er trug einen weit geschnittenen Mantel, sein ungewöhnlich langes Haar wehte im Wind.“ (Zitat Seite 117)

Thema und Genre

In diesem Roman mit einem realen geschichtlichen und biografischen Hintergrund geht es um die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit Schwerpunkt Russland und Schweiz. Es geht um Fortschritt, Forschung und den Beginn der Psychoanalyse, um Bindungen, Familie, um persönliche Ziele, Träume, Ideologien, Gewalt, Unterdrückung, Aufbruch und Scheitern.

Charaktere

Bis auf einen kurzen, zufälligen Augenblick kennen die beiden Persönlichkeiten, um deren Biografie es in diesem Roman geht, nicht. Sabina Spielrein, Russin, Ärztin, eine der ersten Frauen, die sich auf das Fachgebiet Psychoanalyse spezialisiert, in langjährigem Kontakt und Gedankenaustausch mit C.G. Jung und Siegmund Freud. Fritz Platten, Schweizer, Nationalrat, zunächst Sozialdemokrat, dann überzeugter Kommunist, Revolutionär. Zwei Persönlichkeiten mit Zukunftsvisionen, eigenwillig und unangepasst.

Handlung und Schreibstil

Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei konträre Lebensgeschichten, die der Autor abwechselnd erzählt. Während er dem Leben von Sabina Spielrein chronologisch folgt, schildert er die wichtigen Ereignisse und Stationen im Leben von Fritz Platten rückwirkend und nicht immer chronologisch, sondern je nach dessen jeweiligen Erinnerungen und gedanklichen Dialogen während der Nachtstunden seiner späten Lebensjahre. Die einzelnen Kapitel tragen als Überschrift die Ortsangabe und die Jahreszahl, wodurch die Zuordnung beim Lesen übersichtlich bleibt. Der ruhige Erzählstil nimmt sich Zeit und das Vernetzen der fiktiven Romanhandlung mit den biografischen Fakten wirkt logisch und gelingt wunderbar, ohne je konstruiert zu wirken. Der Autor nimmt sich Zeit für beide Persönlichkeiten, es sind nicht nur Ereignisse und Erfahrungen in deren Leben, sondern ebenso viel Raum nehmen ihre Entwicklung, ihre Gedanken, Überzeugungen, aber auch Zweifel und widersprüchliche Entscheidungen ein. So ergibt sich ein packendes, lebendiges Gesamtbild.

Fazit

Diese beiden Biografien zu lesen fand ich sehr spannend, dieses immer wiederkehrende Auseinandersetzen mit dem eigenen Lebensweg und den Entscheidungen, auch das Hinterfragen, ergibt für mich einen sehr vielseitigen Roman, interessant zu lesen. Gerade bei Romanen mit biografischem Hintergrund, mit Personen, die wirklich gelebt haben und deren Biografien man nachlesen kann, ist es nicht einfach, den richtigen und glaubhaften Weg zwischen Fakten und Fiktion zu finden, für mich ist es Lukas Hartmann perfekt gelungen.

Wo vielleicht das Leben wartet – Gusel Jachina

AutorGusel Jachina
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 18. August 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten591
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHelmut Ettinger
ISBN-13978-3351038984

„Die Jagd nach Seife, Verpflegung und Kohle für die Lok brachte nichts, doch Dejew hatte das wichtigste Gesetz des Jägers verstanden, Augen und Ohren stets weit offen zu halten.“ (Zitat Pos. 4387)

Inhalt

Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, der Aufstände und des Bürgerkrieges, verbunden mit Ernteausfällen und politischen Entscheidungen, führen in Russland zu einer katastrophalen Hungersnot, bei der Millionen Menschen sterben. Kinder landen in Kinderheimen und Sammelstellen. Fünfhundert dieser Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren soll der Zugführer Dejew von Kasan nach Samarkand bringen, unterstützt von der Kinderkommissarin Belaja. Den Auftrag erhält Dejew am 9. Oktober 1923, doch es gibt keinen Zug, so muss er zuerst eine Lokomotive und Waggons finden. Die Zeit drängt, sollen die Kinder eine Chance haben zu überleben. Die Strecke beträgt mehr als 4.000 Kilometer, die Reise wird mindestens vierzehn Tage dauern und er hat Verpflegung für genau drei, maximal vier Tage bekommen. Doch nicht nur das Essen fehlt, er braucht auch Kleidung, Medikamente für die Kinder, Kohle und Holz für die Lokomotive – es fehlt einfach alles. Doch Dejew, der ehemalige Soldat, der bisher nur Waren transportiert hat, ist fest entschlossen, die Kinder nach Samarkand zu bringen, durch den Bürgerkrieg und unwegsames Gelände, dorthin, wo es genug zu essen geben soll. Seine Ideen und sein persönlicher Einsatz sind waghalsig, kreativ und sehr gefährlich.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem Hintergrund geht es um die Hungersnot in Russland in den 1920er Jahren, das Leben der Menschen, vor allem der Kinder. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen, Obrigkeit, Mut, Zusammenhalt, Menschlichkeit und Liebe, aber auch um Bürgerkrieg, Gewalt und Vorurteile und auch um Schuld und Sühne.

Charaktere

Als ehemaliger Soldat ist der junge Dejew von seinen Erinnerungen traumatisiert. Er ist mutig, scheut keine Gefahren, verzweifelt, wütend und zornig, wenn es ihm nicht gelingt, die dringend notwendigen Dinge zu erhalten. Er beugt sich keiner Obrigkeit und seine beinahe Vorurteile bleiben auch dort bestehen, wo er auf Menschlichkeit trifft.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, in sieben großen Kapiteln, die als Überschrift jeweils die Anzahl der Menschen tragen, die im Mittelpunkt stehen, und dazu den betreffenden Teil der Strecke. Im Laufe der Handlung ergänzen Erinnerungen der einzelnen Figuren die aktuellen Ereignisse. Diese Vorgeschichten der Figuren zeigen jeweils die eigene Entwicklung, Vergangenheit, prägende Erlebnisse und erklären ihren Charakter näher, ihre Einstellung und Handlungen in der Hauptgeschichte. So wird Verhalten, über das man sich beim Lesen zuvor manchmal gewundert hat, erklärt und nachvollziehbar. Spannende Situationen wechseln ab mit Schilderungen von politischen Hintergründen, des Umfeldes und der Natur, die dieser Zug auf seiner langen Reise durchquert, sowie der Gedanken und Befindlichkeiten der einzelnen Hauptfiguren. Diese ausführlichen Schilderungen und die sich wiederholenden ähnlichen Beschreibungen des Zustandes der hungernden Kinder führen trotz der erschütternden Eindrücklichkeit zu Längen. Denn die Sprache spart nicht mit allen grausamen Details, um dann wieder extrem gefühlsbetont ins Schwülstige zu wechseln. Hier wäre meiner Meinung nach weniger mehr gewesen.

Fazit

Eine eindringlicher, beklemmender Roman, geschrieben gegen das Vergessen. Eine packende Geschichte, interessante Hauptfiguren und faktische Hintergründe, lebhafte, sprachgewaltige Schilderungen, obwohl ich mir gerade hier manchmal eine leisere Sprache gewünscht hätte, machen dieses Buch lesenswert.

Der Aufgang – Stefan Hertmans

AutorStefan Hertmans
Verlag Diogenes
Erscheinungsdatum 27. April 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten480
ÜbersetzungIra Wilhelm
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071887

„Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends fiel mir ein Buch in die Hände, aus dem ich erfahren sollte, dass ich zwanzig Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hatte.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Im Spätsommer 1979 sieht Stefan Hertmans das Haus in Gent, im Stadtteil Patershol, zum ersten Mal. Es wirkt verwahrlost, feucht, stand schon längere Zeit leer. Dennoch lässt es den Autor nicht mehr los und er kauft es. Mehr als zwanzig Jahre später sieht er ein Buch, verfasst von Professor Adriaan Verhulst, Historiker, bei dem auch Hertmans studiert hatte. Er entdeckt, dass Adriaan Verhulst seine Kindheit in genau diesem Haus verbracht hatte. Dies weckt sein Interesse und er beschließt, die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner zu erzählen.

Thema und Genre

Dieser Roman ist die Geschichte eines Hauses in Verbindung mit der Geschichte jener Familie, die es viele Jahre lang bewohnt hat. Er basiert auf historischen Fakten, die sich aus umfangreichen Recherchen in Dokumenten, Büchern, den Tagebüchern von Mientje Verhulst und Gesprächen mit noch lebenden Zeitzeugen ergeben, ergänzt durch fiktive Elemente. Themen sind der politische Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, die Besatzung Belgiens durch die Nationalsozialisten und die Zeit danach, aber auch Kindheitserinnerungen, Familie und Beziehungen.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte steht das Leben von Willem Verhulst und seiner zweiten Ehefrau Harmina „Mientje“ Wilhers, die Eltern von Adriaan Verhulst.

Handlung und Schreibstil

Der Autor erzählt, berichtet, es ist ein Roman über Belgien, der auf genau recherchierten Erinnerungen von Zeitzeugen, noch lebenden Familienmitgliedern, aufbaut, in Verbindung mit der umfangreichen Dokumentation, die man dem Autor zur Verfügung stellt. Wo er in seinen umfangreichen Recherchen keine Aussagen und Unterlagen fand, erklärt er, dass dies heute niemand mehr weiß, lässt Lücken, statt diese Lücken durch fiktive Vermutungen zu schließen. Die Handlung ergänzt der Autor durch Anekdoten und seine persönlichen Erinnerungen. Wir folgen Menschen vom Beginn ihres Lebens bis zum Ende, gleichzeitig besichtigen wir das Haus, in dem die wichtigsten Ereignisse dieser Menschen stattfanden, mit dem Autor im Jahr 1979 in der entgegengesetzten Richtung. Vom Keller bis zum Dachboden betreten wir die einzelnen Räume, sehen sie jetzt und damals, als die Familie Verhulst das Haus mit Leben gefüllt hat. Der Aufgang, eine fließende Bewegung statt eines Spannungsbogens.

Fazit

„Vielleicht möchte man durch den Besuch eines Ortes der Erinnerung, selbst wenn diese nicht die eigene ist, den Lauf der Geschichte für einen Augenblick aufhalten.“ (Zitat Seite 186). Mit diesem interessanten Roman, der ruhig und sachlich der Geschichte dieser Familie folgt, gleichzeitig aber atmosphärisch dicht das Haus selbst während der ersten Besichtigung des Autors vor dem Kauf beschreibt, ist dem Autor dies gelungen.

Träume und Kulissen – Alida Bremer

AutorAlida Bremer
Verlag Jung und Jung
Erscheinungsdatum 16. Juli 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990272589

„Ein kažin war auch die Politik, die in Split seit dem Beginn des Jahrhunderts fortlaufend Brüderschaften, Parteien, Verbände und Organisationen entstehen ließ, die sich für die verschiedensten Ideen so stürmisch einsetzten, dass es andauernd irgendwo krachte.“ (Zitat Seite 54)

Inhalt

Nach einer durchfeierten Nacht entdeckt der Apotheker Antonio Petrinelli im Hafen von Split einen Riesenfisch, der auf einem Berg von Fischernetzen liegt. Nur, dass es kein Fisch ist, sondern ein Toter. Es handelt sich um einen jungen Mann, Darco Barić, und er ist eindeutig ermordet worden. Kriminalkommissar Mario Bulat beginnt zu ermitteln, doch rasch erkennt er, wie schwierig es ist, zwischen Gerüchten und Wahrheit zu unterscheiden. In diesem Sommer 1936 ist Split, die nach einer wechselvollen Geschichte nun zum Königreich Jugoslawien gehörende Hafenstadt, die lebhaften Kulisse für Träume und deutsche Filmteams, ein buntes Sammelbecken für unterschiedliche Gruppierungen mit sehr unterschiedlichen politischen Interessen, Spione und die von ihnen beobachteten Flüchtlinge und Fluchthelfer. Gerüchte gibt es viele, über reale und vermutete Ereignisse und Hintergründe, nur zu diesem Mord scheint es nur wenige ernsthafte Hinweise zu geben.

Thema und Genre

Dieser Roman mit geschichtlichem Hintergrund ist ein facettenreiches Gesellschaftsbild Europas in diesem Jahr der Umbrüche, am Beispiel der adriatischen Hafenstadt Split. Es geht um das politische Geschehen und die Macht der aufstrebenden nationalen Parteien, um Schicksale, eingebettet in traumhafte Sommertage in dieser pulsierenden Hafenstadt an der Adria.

Charaktere

Die einzelnen Personen sind teilweise real, in diesem Roman jedoch sind ihre Handlungen und Schicksale fiktiv. Jede der Figuren ist einfühlsam, stimmig und ihr Verhalten nachvollziehbar geschildert.

Handlung und Schreibstil

Die vier übergeordneten Teile sind in relativ kurze einzelne Kapitel unterteilt. Die Handlung spielt im Sommer 1936 in der Hafenstadt Split, wird chronologisch geschildert und Details werden durch Informationen in Form von Zeitungsmeldungen ergänzt. Innerhalb der Kapitel wird die Geschichte in kurzen Abschnitten erzählt, in denen jeweils eine der vielen unterschiedlichen Personen im Mittelpunkt steht. Dies macht die Handlung interessant, abwechslungsreich, packend und rasant. Gleichzeitig nimmt sich die Autorin Zeit und beschreibt  ihre ehemalige Heimatstadt Split mit viel Wissen und sehr viel Liebe zu den Details, sodass sich ein ungemein buntes, vielschichtiges Gesamtbild ergibt.

Fazit

Ein lebhaftes, facettenreiches Gesellschaftsbild während der Sommertage 1936 in der pulsierenden Hafenstadt Split, mit dem bunten Leben der Menschen aus vielen Nationen, mit ebenso vielen Ideen und Träumen, persönlichen und wirtschaftlichen Interessen und politischen Zielen. Poetisch und eindrücklich erzählt, ein interessantes, packendes, intensives Leseerlebnis.

Revolution der Träume – Andreas Izquierdo

AutorAndreas Izquierdo
SerieWege-der-Zeit-Reihe 2
Verlag DUMONT Buchverlag
Erscheinungsdatum 13. August 2021
FormatBroschiert
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832171162

„Hier ist alles neu, alles dreht sich rasend schnell! Bleib stehen, und du wirst herausgeschleudert. Du musst nicht alles gut finden, Carl, aber finden musst du dich!“ (Zitat Seite 186)

Inhalt

Die Menschen, von Krieg, Hunger und Trauer gezeichnet, wollen endlich Frieden. Am 9. November 1918 wird der Kaiser gestürzt, doch damit beginnt nicht die erhoffte Freiheit, sondern eine Zeit der Bürgerkriege. Am 6. Dezember 1918 kommt der Fotograf Carl Friedländer nach Berlin, auf der Suche nach seinen Freunden Isi und Artur. Er gerät in einen Straßenkampf und ausgerechnet hier trifft er Isi, die sich politisch links engagiert und, einfallsreich wie immer, ihre Geschäfte abwickelt. Kurz darauf findet Artur die beiden. Er investiert erfolgreich in diverse Unternehmen und bewegt sich gekonnt zwischen Unterwelt, Recht und Gesellschaft. Carl erhält eine Chance als Kamera-Assistent beim Film. Isi verliebt sich in den Adeligen Aldo von Torstayn. Während das Land, Spielball der unterschiedlichen politischen Gruppierungen, hungert, die Gewalt auf den Straßen andauert, suchen die drei Freunde nach ihrer persönlichen Zukunft.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem Hintergrund geht es um das Leben der Menschen nach dem Ende des ersten Weltkrieges, um die politische Situation und um Einzelschicksale. Ort der Handlung ist Berlin, Themen sind Hoffnung, Träume, Freundschaft, Liebe, aber auch Gewalt, Verrat, Rache.

Charaktere

Carl Friedländer, dreiundzwanzig Jahre alt, orientiert sich an Artur und Isi, weiß aber, dass er selbst nie so leben könnte, wie die beiden. Isi macht nach wie vor keine halben Sachen, ihr Leben muss aufregend sein. Artur legt sich mit der organisierten Kriminalität an, plant seine Schachzüge mit kreativer Genialität und Mut, doch er ist auch in der Vergangenheit verhaftet und will Falk Boysen vernichten. Alle Figuren dieser Geschichte sind überlegt und vielschichtig gestaltet. Das macht sie glaubhaft und interessant.

Handlung und Schreibstil

Carl schildert die Ereignisse als Ich-Erzähler und rückblickend. Oft lässt er daher eine Episode mit einem Hinweis auf nachfolgende Entwicklungen enden, deutet an, dass alles dann ganz anders kommen würde. Solche Hinweise (hints) werden gerne als Stilmittel verwendet, um den Spannungsbogen hoch zu halten, doch in dieser packenden Geschichte sind sie absolut entbehrlich, denn der Autor ist ein großartiger Erzähler und sowohl die realen, geschichtsbekannten Ereignisse, als auch die Erlebnisse seiner Figuren sorgen dafür, dass es diesen Seiten nie an Spannung und interessanten, überraschenden Wendungen fehlt.

Fazit

Eine spannende Geschichte zwischen wissenswerten historischen Fakten und Fiktion, stimmig, gut durchdacht, unterhaltsam und interessant. Diese Fortsetzung des ersten Bandes der »Wege der Zeit«-Reihe überzeugt und man liest sie mit Vergnügen.

Die Schwarze Rosa – Birgit Rabisch

AutorBirgit Rabisch
Verlag duotincta GbR
Erscheinungsdatum 31. Juli 2019
FormatGebundene Ausgabe
Seiten264
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3946086505

„Sie begann sich für die verwickelten politischen Fragen zu interessieren, las die national ausgerichteten Zeitungen, die Paul ihr empfahl, und verstand immer besser, worüber er redete.“ (Zitat Seite 117)

Inhalt

Die Enkelin studiert schon in Hamburg, als ihre Großmutter 1975 stirbt. Doch erst zwölf Jahre später, nach dem Tod des Großvaters, findet sie im Familienstammbuch überraschende Daten und einen Zeitungsartikel über den Prozess gegen Paul Schulz. Sie erfährt, dass ihre geliebte Großmutter, bei der sie aufgewachsen ist, vor vielen Jahren mit Paul Schulz verlobt war und sie beginnt zu recherchieren. Die historischen Quellen werden die Grundlage für diesen fiktiven Roman. Es ist die Geschichte von Röschen, geboren 1899 als viertes Kind einer armen Weberfamilie in einem kleinen Dorf im Selketal. Als Deutsche gesucht werden, die bereit sind, in die deutsche Ostprovinz zu ziehen, übersiedelt die Familie 1910 nach Posen, wo der Vater Landwirt wird und aus Röschen, nun elf Jahre alt, Rosa. Doch 1920 gehört Posen zu Polen, sie werden vertrieben und in Rosa beginnt der Hass auf die Polen zu wachsen. Am 19. April 1921, an ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, lernt sie den Oberleutnant Paul Schulz kennen und lieben. So beginnt sie, sich für Politik zu interessieren. Paul Schulz ist der Organisator der Schwarzen Reichswehr und Rosa unterstützt ihn. Für den Herbst 1923 wird ein Putsch vorbereitet, der bewaffnete Marsch auf Berlin soll am 1. Oktober 1923 erfolgen.

Thema und Genre

In diesem Roman mit realem geschichtlichem Hintergrund geht es um die wirtschaftlich katastrophale Lage in Deutschland in diesen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, die Situation der Menschen in der Weimarer Republik am Beispiel der Familie Klapproth, die unterschiedlichen politischen Ziele, die Hintergründe für das Erstarken des Rechtsnationalen Lagers.

Charaktere

Die einzelnen Personen sind einfühlsam geschildert und der geschichtliche Kontext bleibt der Realität entsprechend gewahrt, während die privaten Beziehungen, die persönlichen Erlebnisse und ergänzenden Geschichten frei erfunden sind.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, sie beginnt mit Rosas Geburt und endet mit der Reichstagswahl 1930. Im Mittelpunkt steht Rosa Krause, geb. Klapproth, eine intelligente, wissbegierige Frau, die durch die Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend geprägt wird. Damit verbunden sind die Geschicke der Familie Klapproth, im Besonderen das Leben ihres Bruders Erich und die Taten und Fememorde der Schwarzen Reichswehr unter dem Kommando von Paul Schulz.

Fazit

Dieser Roman ist eine einfühlsame, packende Geschichte, die am Beispiel eines Frauenlebens und der Geschichte einer Familie die politische Lage in der Weimarer Republik schildert. Die genau recherchierten Fakten über das Leben der Menschen in dieser Zeit, die politischen Hintergründe und die Schwarze Reichswehr zeigen auf, wie auf dieser Basis die Nationalsozialisten so rasch erstarken konnten. Ein vielschichtiger, sehr interessanter, wichtiger Roman.

Ein Raum aus Blättern – Kate Grenville

AutorKate Grenville
Verlag Nagel & Kimche
Erscheinungsdatum 26. Juli 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ÜbersetzungAnne Emmert
ISBN-13978-3312012343

„Mein Leben konnte mir noch die eine oder andere Wegbiegung bescheren. Solche Biegungen mochten zum Besseren oder Schlechteren führen, ermöglichten aber doch zumindest eine gewisse Freiheit oder zumindest Geschmeidigkeit.“ (Zitat Seite 216)

Inhalt

1788 heiratet die einundzwanzigjährige Halbwaise Elizabeth Veale den etwa gleichaltrigen Ensign John Macarthur. Ihr Ehemann ist eingebildet und arrogant, obwohl er nur seinen Sold als Einkommen hat, vor allem aber ist er ehrgeizig und skrupellos. Er meldet sich zum New South Wales Corps und 1790 treffen sie in Sydney ein. Es ist ein völlig neues Leben in einem unbekannten Land, in dem es bisher nur diese 1788 errichtete Strafkolonie gibt. Doch Elizabeth lernt rasch, sich anzupassen, um ihre eigenen Ideen und Wünsche zu verwirklichen.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine fiktive Geschichte, eine neue Deutung der bekannten Fakten und Biografien von Elizabeth Macarthur. Geheime Aufzeichnungen schildern ungeschönt die wahren Lebensumstände der Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, in diesem Fall besonders der ersten Siedlerfrauen in Australien. Ein Thema ist die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von verbrieften historischen Fakten.

Charaktere

Schon als Kind ist Elizabeth neugierig, will alle Grenzen ausprobieren und darüber hinausgehen. In Sydney lernt sie rasch, sich der Gesellschaft nach außen hin anzupassen. Sie ist liebenswürdig, charmant, bleibt gleichzeitig unscheinbar, beinahe unsichtbar. Bald durchschaut sie die Denk- und Handlungsweise ihres Ehemannes und nützt dies, um ihre eigenen Ideen durchzusetzen, indem sie ihm diese als seine präsentiert.

Handlung und Schreibstil

Elizabeth ist bereits seit zwölf Jahren Witwe, als ihr nun erwachsener Sohn James sie bittet, einen Bericht über die Geschichte der Macarthurs von Elizabeth Farm zu verfassen. Sie beschließt spontan, parallel dazu einen zweiten Bericht zu schreiben, in diesem jedoch offen und ehrlich die Wahrheit zu schildern. Es ist dieser zweite Bericht, der etwa einhundertfünfzig Jahre später von der Autorin zufällig auf Elizabeth Farm entdeckt wird und der nun in diesem Roman veröffentlicht ist. Daher sind die einzelnen Kapitel entsprechend kurz, wie es tatsächlichen persönlichen Notizen und Aufzeichnungen entspricht. Elizabeth beginnt mit Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, schildert die einzelnen Ereignisse chronologisch. Gleichzeitig lässt sich uns an ihren persönlichen Gedanken und Handlungen in der jeweiligen Situation teilhaben. Wir erfahren auch, welche Bedeutung dieser „Raum aus Blättern“ für sie und ihre persönliche Entwicklung hat. Die Sprache ist nur in Bezug auf das Wissen und spezielle Bezeichnungen der damaligen Zeit angepasst, Elizabeth schreibt lebhaft, poetisch und mit einem feinen Humor.

Fazit

Ein angenehm und unterhaltsam zu lesender Roman mit realem geschichtlichem Hintergrund. Die Idee, die bereits vorliegenden Biografien der Elizabeth Macarthur, deren wichtige Rolle bei der Gründung der Wollindustrie Australiens bekannt und anerkannt ist, durch ihre eigenen, bisher geheimen Aufzeichnungen zu ergänzen, überzeugt und ist interessant umgesetzt.

Julius oder die Schönheit des Spiels – Tom Saller

AutorTom Saller
Verlag List Hardcover
Erscheinungsdatum 2. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3471360422

„Mit unendlicher Ruhe verfolgte ich seine Flugkurve, nahm Maß, und noch bevor ich den Schläger nach vorn gebracht hatte, wusste ich – war gewisse – es wäre mir unmöglich, einen Fehler zu machen. Ich traf den Ball im perfekten Moment.“ (Zitat Seite 44)

Inhalt

Eines Tages wird der junge Julius von einem ungewöhnlichen Lärm geweckt, sein Großvater legt einen privaten Tennisplatz auf dem weitläufigen Areal der heimischen Burg im Rheinland an. Rasch begeistert sich die Familie für diesen Sport, doch für Julius bedeutet Tennis weit mehr. Als er für sein Jura-Studium nach Berlin zieht, genießt er das Nachtleben, tagsüber trainiert er hart, spielt erste Turniere und macht Tennis endgültig zum Mittelpunkt seines Lebens.

Am 1. Juli 1984 verfolgt ein alter Mann das Einzelturnier der Herren in Wimbledon. Ein junger Deutscher gewinnt und der alte Mann erinnert sich an seinen damaligen Rivalen Julius von Berg und ihr legendäres Match in Wimbledon 1937, als er selbst für die USA gegen Julius, der für Deutschland spielte, auf dem Platz stand. Sie waren einander ebenbürtig, doch Julius liegt im letzten, entscheidenden Durchgang in Führung.

Thema und Genre

Dieser Roman ist fiktiv, der zeitgeschichtliche Hintergrund ist jedoch real und einige der darin vorkommenden Personen sind mit ihren echten Namen genannt. Im Mittelpunkt steht der Tennissport. Auch für den fiktiven Julius von Berg gibt es ein reales Vorbild, den deutschen Tennisspieler Gottfried von Cramm, damals Platz 2 der Weltrangliste. Ein eleganter Sportler, überzeugt von der Haltung Fair play, Sportsmanship, der sich nicht von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließ.

Charaktere

Julius von Berg liebt das Leben, auch das Berliner Nachtleben, doch sein Lebensmittelpunkt ist der Tennissport. Natürlich will er gewinnen, doch wichtiger als der Sieg ist für ihn die Schönheit des Spiels, sowie Respekt vor dem Gegner, Haltung, Anstand und Fairness. Er muss erkennen, dass sich Sport und Politik nicht trennen lassen. „Sag das nicht, Julius. Sobald du doch für ein Turnier meldest, bist du in den Augen der Öffentlichkeit nicht nur Sportler, sondern auch Deutscher und damit automatisch Vertreter deines Heimatlandes. Ob du willst oder nicht.“ (Zitat Seite 177)

Handlung und Schreibstil

Die angenehm und flüssig zu lesende Geschichte wird in drei Erzählsträngen erzählt, die einander abwechseln. Den ausführlichen Hauptteil, sein Leben bis zu den Ereignissen in Wimbledon 1937 schildert Julius als Ich-Erzähler, chronologisch, beginnend mit Episoden aus seiner Kindheit. Im zweiten Erzählstrang lässt uns Julius 1938 an seinen Gedanken teilhaben und die Erzählsprache wechselt ins Präsens. Der dritte Handlungsstrang findet 1984 statt und hier steht der damalige Finalgegner, nun ein alter Mann, personal im Mittelpunkt. Zusammengefügt ergeben diese drei Teile ein umfassendes Bild, schließen sich zu einer ganzen Geschichte mit allen Hintergründen und Details, die manche offene Fragen beantworten.

Fazit

Ein eindrucksvoller Roman, eine fiktive Geschichte mit einem realen zeitgeschichtlichen Hintergrund, deren Schilderungen der lebhaften Stadt Berlin in den Zwanzigerjahren, verbunden mit vielschichtigen Themen, dieses Buch nicht nur für Tennisbegeisterte zu einer interessanten, unterhaltsamen Lektüre machen.