Eine Frau – Sibilla Aleramo

AutorSibilla Aleramo
VerlagEisele Verlag
Datum25. April 2024
AusgabeGebundenes Buch
Seiten288
SpracheDeutsch
NachwortElke Heidenreich
ÜbersetzungIngrid Ickler
ISBN-13978-3961611850

„Denken, denken! Wie war ich nur so lange ohne das Nachdenken ausgekommen? Menschen und Dinge, Bücher und Landschaften, alles bot Stoff zum Nachdenken für mich.“ (Zitat Pos. 1645)

Inhalt

Die Ich-Erzählerin, die Älteste von vier Kindern, verbringt ihre Kindheit in Mailand. Als sie zwölf Jahre alt ist, nimmt ihr Vater eine neue Stellung als Direktor einer Fabrik in einem Dorf in Süditalien an. Damit nimmt ihr Leben eine völlig neue Richtung, denn in diesem Dorf gibt es zwar das Meer inmitten einer lichtdurchfluteten Landschaft, aber keine weiterführenden Schulen. Mit fünfzehn Jahren arbeitet sie schon als Assistentin im Büro ihres Vaters. Sie ist erst sechzehn Jahre alt, als sie einen zehn Jahre älteren, einfachen Mann heiratet, obwohl sie bereits berechtigte Zweifel hat. Als ihr Sohn geboren ist, wird das Kind für sie zum Mittelpunkt ihres Lebens. Dies ändert sich auch nicht, als sie das Dorf verlassen und nach Rom ziehen. Doch in dieser lebhaften Stadt findet sie gleichzeitig eine völlig neue Freiheit, Kultur, Bildung und die intellektuelle Herausforderungen, die sie so lange vermisst hat. Dann wird ihrem Mann die Direktorenstelle in der Fabrik im Dorf angeboten, die bisher ihr Vater innegehabt hatte.

Thema und Genre

In diesem stark autobiografischen Roman, der 1906 erschienen ist, geht es um Gesellschafts- und Sozialstrukturen, die Situation der Frauen besonders in einem von Traditionen geprägten Umfeld und die Anfänge der Frauenbewegung.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte schildert chronologisch die ersten fünfundzwanzig Jahre im Leben einer Frau zwischen Städten wie Mailand und Rom und einem Dorf im Süden Italiens. Die Erzählform in der ersten Person schildert neben den Erlebnissen und Ereignissen vor allem die eigenen Bewusstseinsströme, die Gedanken, heftigen Zweifel, Auflehnung, aber auch Hoffnungen der Ich-Erzählerin. Dies wird dadurch verstärkt, dass diese zu schreiben beginnt, aufschreibt, wie sie sich fühlt und gleichzeitig beginnt, ihr Verhalten zu analysieren. Mit einer neuen Aufmerksamkeit beobachtet sie die Welt um sich herum, besonders das Leben der Frauen, das soziale Gefüge der Gesellschaft und die neue Arbeiterbewegung, die nun auch ihr Land erreicht hat. Die Sprache der engagierten italienischen Journalistin, Schriftstellerin und überzeugten Feministin ist lebhaft und wortreich, in den intensiven eigenen Gedankenströmen teilweise etwas überbordend, was sicher der Ausdrucksweise der damaligen Zeit entspricht. Ein ihrem Nachwort verweist Elke Heidenreich auf viele Fakten aus dem Leben der Schriftstellerin Sibilla Aleramo, die sich bis ins Detail in diesem Roman wiederfinden.

Fazit

Ein authentisches Zeitbild, das sich mit den Lebensumständen der Frauen um die Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert in Italien auseinandersetzt. Diese deutlich autobiografische Geschichte beschreibt eindringlich und intensiv die schwierige Suche der Protagonistin nach einem freien, selbstbestimmten Leben. Ein Roman der zum Nachdenken anregt, auch über die Situation in unserer modernen Zeit, in der Frauen weltweit immer noch in patriarchalischen, traditionellen Strukturen leben, fern von Gleichberechtigung und persönlicher Freiheit.

„Das Meer der Illusionen – Leonardo Padura

UntertitelDas Havanna-Quartett: Herbst
AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum16. September 2006
Ausgabe(metro) Taschenbuch
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzerHans-Joachim Hartstein
ISBN-13978-3293203747

„Man hat uns in die Schule geschickt, in die wir gehen mussten, dann auf die Uni zu dem Studium, das wir absolvieren mussten, und später zu dem Arbeitsplatz, an dem wir arbeiten mussten, alles, ohne uns zu fragen. Und man kommandiert uns weiter rum, ohne uns auch nur ein verdammtes Mal in unserem verdammten Leben zu fragen, ob wir das auch wollen …“ (Zitat Seite 20)

Inhalt

Ein angenehm warmer Herbstabend im Oktober 1989, doch Wirbelsturm Félix rast auf Kuba zu. Einige Tage vor seinem Geburtstag, nach zehn Jahren als Ermittler, ist für den Teniente Mario Conde die Zeit gekommen, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Doch sein neuer Chef, Coronel Alberto Molina, hat einen neuen, politisch brisanten Fall für ihn. El Conde, unterstützt von Sargento „Manolo“ Palacios,  muss rasch und sehr diskret ermitteln, nach Möglichkeit unter Einhaltung der Vorschriften. Einige Nächte zuvor war die Leiche eines Kubaners, inzwischen nordamerikanischer Staatsbürger, gefunden worden. Der Ermordete ist Miguel Forcade, ein ehemaliger Vizedirektor im Außenhandelsministerium, der sich 1978 in die USA abgesetzt hatte. Sofort stellt sich El Conde viele Fragen, der Fall interessiert ihn, warum hat man Forcade wieder ins Land gelassen, was unüblich ist. Wollte Forcade tatsächlich nur seinen schwer kranken Vater besuchen, oder hatte er auch noch andere Gründe, nach Kuba zurückzukehren. Forcade scheint eine reine Weste gehabt zu haben, doch der brutale Mord weist auf Rache als Motiv hin.

Thema und Genre

Auch in diesem Kriminalroman, dem vierten und letzten Teil des Havanna Quartetts, geht es um das Leben in Kuba 1989, Kunst und Kultur, Politik, die Macht der Parteifunktionäre, Enteignung, Bereicherung, Korruption, aber auch um Familie, Freundschaft und die Sehnsucht nach Liebe.

Charaktere

El Conde, über sich selbst: „Er erinnerte sich daran, dass dieser Tag sein offiziell vorletzter als Polizist sein konnte und ganz gewiss sein letzter als Mann von fünfunddreißig Jahren war.“ (Zitat Seite 95)

Mayer Rangel über El Conde: „Du bist das Schlimmste, das mir in meiner Laufbahn passiert ist, aber der beste Ermittler, den ich je gehabt habe.“ (Zitat Seite 99)

Erzählform und Sprache

Die Wahl der Erzählform, der Teniente Mario Conde ist die personale Hauptfigur, ermöglicht es Leonardo Padura einerseits, zusätzliche Spannung in die Handlung mit den vielen offenen Fragen, Möglichkeiten und Vermutungen zu bringen, andererseits erleben wir die persönlichen Zweifel  von El Conde, die Wünsche und Hoffnungen der Jugend, die das Leben nicht erfüllt hat, Erinnerungen und verlorene Träume. Mit El Conde werfen wir jedoch auch einen Blick auf das echte Havanna, die kleinen Lokale, Gassen, Plätze und die Menschen, die sich auf einen gewaltigen Wirbelsturm vorbereiten. Durch die Ermittlungen, die Gespräche und Recherchen wird die aktuelle Handlung nach und nach zu einem Gesamtbild, das weit in die Vergangenheit zurückführt.

Fazit

Ein spannender, vielschichtiger Abschluss der Tetralogie, ein Eintauchen in ein Meer von Illusionen. Kuba und die alten, auch nach den Umbrüchen immer noch mächtigen Familien, und El Conde und sein Freundeskreis als die kubanische Generation der Mittdreißiger, die ihr Leben hinterfragt und neue Wege sucht. Ein literarischer, politischer Kriminalroman mit eindrücklichen Schilderungen der Gesellschaftsstruktur und der Lebensumstände in Kuba im Jahr 1989.  

„Der entmündigte Leser“ Für die Freiheit der Literatur – Melanie Möller

AutorMelanie Möller
Verlag Galiani-Berlin
Erscheinungsdatum 11. April 2024
FormatKindle-Ausgabe
Seiten240 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3869713021

„Also bitte gar keine Kompromisse, keine Änderungen an den Texten, schon gar nicht bei toten Autoren, die sich nicht wehren können. Wer etwas nicht lesen möchte, darf es gerne lassen oder entsprechend kommentieren.“ (Zitat Pos. 260)

Thema und Inhalt

Eine Streitschrift für die Freiheit der Literatur, so nennt die Autorin dieses Fachbuch. Schon das Cover zeigt aussagekräftig, worum es geht. Es ist ein eindringliches Plädoyer für die Freiheit der Kunst, hier die Freiheit der Literatur, und gegen alle zeitgeistigen Wokeness-Bestrebungen, Ecken und Kanten in aktuellen Texten zu entschärfen, klassische Texte nachträglich umzuschreiben. Derartige Eingriffe, die von den Lesern selbst nicht gewünscht werden, sind Versuche, so Marlies Möller, aus mündigen unmündige Leser zu machen. „In Sachen Kunst darf es keine Abstriche geben. Wer verwässert, entmündigt den Leser – und der ist schlauer, als man denkt.“ (Zitat Pos. 95)

Umsetzung

Melanie Möller ist Professorin für Latinistik an der Freien Universität Berlin. Daher stellt sie in neun Kapiteln jeweils einen griechischen oder römischen Autor der Antike einem klassischen oder modernen Autor oder Autorin gegenüber. Wobei das erste Kapitel hier eine Ausnahme macht, denn hier geht es um die großen Epen Homers einerseits und die Bibel andererseits. Es sind generell spannende und ungewöhnliche Gegenüberstellungen, wie zum Beispiel Catull und Casanova, Euripides und Annie Ernaux. Besonders interessant ist natürlich die jeweilige Begründung und Herleitung der Kombination und das Aufzeigen der literarischen und thematischen Gemeinsamkeiten. Mein persönliches Highlight ist das Kapitel 9: Sappho und Astrid Lindgren.

Mit Textbeispielen stellt Melanie Möller in allen Kapiteln, durchaus ironisch, die theoretisch-rhetorische Frage, ob nicht doch an den Zeitgeist angepasst werden sollte, besonders auch, was das Frauenbild betreffe, um zu begründen, warum genau das falsch wäre. Ihre Argumente und Ausführungen belegt sie durch Textzitate und fachlich fundierte Einblicke in das Leben, die Gesellschaft und die Gedankenwelt jener Zeit, in welcher die besprochenen Werke jeweils entstanden sind. Immer wieder erinnert sie daran, das reale Leben des Schriftstellers von seinem fiktiven Werk und den ebenso fiktiven Figuren zu trennen. So ergibt sich auch ein sehr interessanter Streifzug durch die Welt der Literatur und zum Beispiel auch die Problematik, die entsteht, wenn wir mit dem heutigen Wissensstand und Denkart literarische Frauenfiguren, Ausdrücke, Wortwahl, Sprache aus längst vergangenen Zeitaltern und völlig anderen Kultur- und Gesellschaftskreisen woke interpretieren wollen.

Fazit

Das vorliegende Buch ist kein Sachbuch, sondern definitiv ein Fachbuch. Es ist sicher eine Herausforderung für Leser wie mich, bei denen Latein und die Werke des klassischen Altertums (mit einer Ausnahme, Homers Illias, da mich der Themenkreis Troja nach wie vor fasziniert) mit dem Ende der Gymnasialzeit geendet haben. „Die Studie bemüht sich lediglich um einen weiträumigen Gang durch die Zeiten, um der Geschichte der Gewalt gegen die (in diesem Fall primär literarische) Kunst historische Tiefe und Breite zu verleihen.“ (Zitat Pos. 306). Dies ist der Verfasserin mit dieser lesenswerten Streitschrift gelungen.

Der Wind kennt meinen Namen – Isabel Allende

AutorIsabel Allende
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum15. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten335
SpracheDeutsch
ÜbersetzungSvenja Becker
ISBN-13 978-3518432006

„Wir sind nicht verloren. Der Wind kennt meinen Namen und deinen auch. Alle wissen, wo wir sind.“ (Zitat Seite 221)

Inhalt

Im Dezember 1938 versucht Rachel Adler im chilenischen Konsulat in Wien verzweifelt, Visa für sich, ihren Mann Rudolf, und den gemeinsamen Sohn Samuel zu erhalten. Doch die Zeit drängt und so besteigt der sechsjährige Samuel am 10. Dezember gemeinsam mit vielen anderen Kindern, aber ohne seine Eltern, den Zug nach England und ohne zu wissen, ob und wann er sie wiedersehen wird. Anfang Januar 1982 erreicht die kleine Leticia Cordero aus El Salvador in den Armen ihres Vaters, der in einer dunklen Nacht schwimmend den Rio Grande überquert, die Vereinigten Staaten. Nur durch einen Zufall sind die beiden dem Massaker von El Mozote im Dezember 1981 entkommen. Mitte Oktober 2019 wird die siebenjährige Anita Díaz aus El Salvador nach der illegalen Einreise über Mexiko in die Vereinigten Staaten gewaltsam von ihrer Mutter getrennt und in ein Auffanglager für Kinder gebracht. Dort wartet sie sehnsüchtig darauf, dass ihre Mutter sie findet und abholt. Drei Menschen, tief geprägt durch den Verlust von Heimat und Familie, auf der Suche nach Hoffnung und einem sicheren Platz in ihrem Leben.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Flucht, Vertreibung, Verlust und Eltern, die alles tun, um ihre Kinder zu retten. Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen jedoch die Kinder, denen es gelingt, durch Hoffnung und Phantasie Wege aus ihrer beinahe ausweglosen Situation zu finden und Menschen, denen sie früher oder später begegnen und die ihnen helfen.

Erzählform und Sprache

Isabel Allende schildert die Geschichte von drei Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten geboren wurden und deren Kindheit jeweils viel zu früh und plötzlich durch prägende Ereignisse zu Ende ist. In voneinander unabhängigen Handlungssträngen folgt sie ihren unterschiedlichen Hauptfiguren in einander abwechselnden Kapiteln. Jedes dieser Kapitel trägt als Überschrift den Namen, der im jeweiligen Abschnitt im personalen Mittelpunkt steht, sowie Ort, Monat, Jahr. So bleibt die Geschichte fließend und übersichtlich zu lesen, während die Ereignisse, ebenso wie die Fragen nach möglichen Zusammenhängen für Spannung sorgen. Die Autorin schreibt einfühlsam und nahe der Realität.

Fazit

Eine beeindruckende Geschichte zu zeitlos aktuellen Themen, klug aufgebaute Handlungsstränge, authentische Figuren und Schicksale – ein Leseerlebnis, das nachdenklich stimmt und auch sprachlich überzeugt.

Ein perfektes Leben – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum27. Juni 2005
AusgabeTaschenbuch
Seiten272
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHans-Joachim Hartstein
ISBN-13978-3293203440

„Mario Conde nahm die geschlossene Akte in die Hand. Ihm schwante, dass sie eine Art Büchse der Pandora sein könnte, und er verspürte keinerlei Lust, die Dämonen der Vergangenheit aus ihr zu befreien.“ (Zitat Seite 22)

Inhalt

Noch sehr angeschlagen von der Silvesterfeier, freut sich Teniente Mario Conde über sein freies Wochenende, als sein Chef anruft und dieses beendet. Denn am Abend des 1. Januar hat die Ehefrau von Rafael Morín Rodríguez ihren Mann als vermisst gemeldet. Dieser Fall ist brisant und Conde muss sofort zu ermitteln beginnen, denn Rodríguez ist der einflussreiche Leiter der Import-Export-Abteilung im Industrieministerium. Da es sich bei Rafael Morín um genau jenen Schulkollegen handelt, der Tamara Valdemira geheiratet hat, die heimliche große Jugendliebe von Mario Conde, begleiten persönliche Erinnerungen den Teniente bei seinen aktuellen Recherchen. Das Leben und Verhalten von Rafael Morín Rodríguez waren immer perfekt, ein untadeliger Mann mit einer weißen Weste, wo sind die Schatten?

Thema und Genre

Der vorliegende Kriminalroman spielt in Kuba. Es ist der erste Band der Serie Havanna Quartett und es geht hier um wesentlich mehr, als das Verschwinden einer Person. Themen sind Politik, Gesellschaft, Jugenderinnerungen, sowie die Lebensträume einer jungen Generation und die Veränderungen im Laufe der Jahre.

Charaktere

Seit zwölf Jahren ist die Hauptfigur, Teniente Mario Conde, bei der Polizei und ebenso lang fragt er sich, warum. Gerade dieser aktuelle Fall führt El Conde weit in seine Vergangenheit zurück und kurz wünscht er sich, wieder sechzehn Jahre alt zu sein, einen anderen Weg für sein Leben auszuprobieren. „Eines Tages vielleicht würde er seine alten Illusionen wieder haben, würde in einem Haus in Cojímar wohnen, wie Hemingway, direkt an der Küste, in einem Holzhaus mit roten Dachziegeln und einem Zimmer zum Schreiben.“ (Zitat Seite 147)

Erzählform und Sprache

Die Handlung wird personal erzählt, die aktuellen Ermittlungen werden ergänzt durch Erinnerungen an Ereignisse im Jahr 1972 und Gedankenströme, sowie Beobachtungen und Schilderungen des Umfeldes und der Situation in Kuba. Zwischendurch wechselt die Erzählform sowohl bei Mario Conde, als auch bei seinem Mitarbeiter Manolo in die Ich-Form, was uns tief in die Gedanken der Figuren eintauchen lässt und die Geschichte auch sprachlich interessant und abwechslungsreich gestaltet.

Fazit

Ein vielschichtiger Kuba-Roman mit interessanten Themen und ebenso facettenreichen Figuren. Eine spannende Geschichte mit atmosphärischen Schilderungen Kubas, auch sprachlich überzeugend.

Der Wendepunkt: Ein Lebensbericht – Klaus Mann

AutorKlaus Mann
Verlag Rowohlt Taschenbuch
Erscheinungsdatum Neuausgabe 16. April 2019
FormatTaschenbuch
Seiten896
NachwortFredric Kroll
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3499276491

„Jeder Augenblick, den wir durchleben, verdankt dem vorangegangenen seinen Sinn. Gegenwart und Zukunft würden wesenlos, wenn die Spur des Vergangenen aus unserem Bewußtsein gelöscht wäre.“ (Zitat Seite 25)

Thema, Genre und Inhalt

Ein Lebensbericht, das Tagebuch eines intensiv gelebten Künstlerlebens ist in seiner Gesamtheit noch wesentlich mehr. Diese Autobiografie ist ein eindrückliches, differenzierendes und in seiner Vielseitigkeit umfassendes Bild der Zeit.

Ein kurzer Prolog schildert kurz die Familie Mann und ihr Umfeld bis zu jenem 18. November 1906, an dem Klaus Heinrich Thomas Mann geboren wurde. Ab hier schreibt Klaus Mann chronologisch, beginnend mit der Kindheit, daran anschließend die Zeit des ersten Weltkrieges und die Jahre danach. Wir erleben den Wunsch des jungen Klaus Mann, Schriftsteller zu werden, seine Liebe zur Literatur und zum Theater, seinen ersten Aufenthalt in Paris und die Atmosphäre dieser Stadt, die ihn sofort und für immer anzieht. Klaus Mann ist ein Suchender, der schon früh die gesellschaftspolitischen Entwicklungen, besonders in Deutschland, sehr kritisch und besorgt beobachtet. Diese Sichtweise teilt er mit seiner Schwester Erika und so ist klar, dass sein Lebensweg ins Exil führt. Die nachfolgenden Kapitel sind intensive Zeitdokumente der Situation der Emigranten, besonders der Künstler, die einander in den jeweiligen Städten weiterhin in Künstlerkreisen treffen. Klaus Mann führt der Weg während dieser ersten Jahre der Verbannung aus Deutschland nach Amsterdam, Paris, Nizza, Zürich, dazu kurze Reisen nach Wien und Moskau. Wie auch seine Schwester Erika hält er Vorträge gegen Krieg und Faschismus, zunächst in Europa, dann in Amerika. Das zwölfte und letzte Kapitel „Der Wendepunkt“ umfasst die Jahre 1943 bis 1945 und schildert die Ereignisse dieser Jahre ausschließlich in Briefen von und an Klaus Mann, der die letzten Kriegsjahre als Mitglied der amerikanischen Armee in Italien erlebt.

Neben den Ereignissen und persönlichen Erlebnissen schildert Klaus Mann seine eigenen Gedanken und Eindrücke, seine Hoffnungen, seine Zweifel. „Die Veränderungen, die nach dem Wendepunkt kommen, mögen zunächst nicht  sehr drastisch sein, werden es aber im Lauf der Zeit, immer drastischer, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr: im Guten oder im Bösen. Ich prophezeie, daß wir um 1965 eine Welt haben werden, die sehr viel schlechter sein wird als die heutige – oder entschieden besser.“ (Zitat Seite 695)

Fazit

Diese beeindruckende Autobiografie, auch sprachlich großartig, ist ein intensiver, zeitlos aktueller Blick auf die Geschichte und Menschen dieser Zeit und gleichzeitig ein interessantes Bild der Kunst- und Kulturszene.

Tanger Transit: Ein Fluchtversuch – Claus G. H. Mayer

AutorClaus G. H. Mayer
Verlagtredition
Datum5. Juli 2023
AusgabeTaschenbuch
Seiten460
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3347981744

„Er würde vorsichtig so weit nachforschen, wie es ging. Vielleicht noch etwas weiter – Cotter kannte sich und er wollte immer wissen, was hinter dem Berg war.“ (Zitat Seite 27)

Inhalt

Cotter ist ein Freigeist, er liebt Camping, guten Kaffee und Nordafrika. Auf den Campingplätzen der spanischen Costa de la Luz findet er die Teilnehmer für seine geführten Touren mit Schwerpunkt Marokko. Es sind stürmische Märztage und Cotter weiß, dass nach solchen Nächten am Strand manchmal Schmuggelgut zu finden ist. Doch an diesem Märzmorgen am Strand von Tarifa findet Cotter keine Zigaretten, sondern Menschen, tot, ertrunken. Besonders ein Junge fällt ihm auf, da er sich von den anderen unterscheidet, vermutlich ein Saharaberber. Cotter interessiert das Schicksal hinter dieser Flucht, heimlich nimmt er die Tasche des Toten an sich und folgt dessen Spuren zurück nach Nordafrika.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Hintergründe der Migration aus Afrika nach Europa, das Geschäft mit den Flüchtlingen und die Schicksale der betroffenen Menschen. Themen sind das Leben in Nordafrika mit Schwerpunkt Marokko, Gesellschaft und Tourismus. Die Geschichte ist fiktiv, die Problematik, welche die Menschen in die Boote treibt, ist jedoch beklemmende Realität.

Charaktere

Es sind sehr unterschiedliche Menschen, auf die der Althippie Cotter während dieser besonderen Reise auf den Spuren eines jungen Marokkaners trifft, einige kennt er von früheren Touren, anderen begegnet er unterwegs und einige von ihnen begleiten ihn auf seiner Suche. Parallel dazu tauchen neue Charaktere auf, wir folgen ihrem Schicksal und ihren Entscheidungen. Eines haben alle Charaktere gemeinsam, sie sind eindrücklich und glaubhaft geschildert, ihr Verhalten nachvollziehbar.

Erzählform und Sprache

Der Autor erzählt die Ereignisse in mehreren Handlungssträngen, die aktuell und gleichzeitig stattfinden, oder in einer nahen Vergangenheit stattgefunden haben. Im Mittelpunkt der Handlung stehen immer die jeweiligen Protagonisten, manche vorerst mit ihrer eigenen, unabhängigen Geschichte. Wie der Autor einige diese einzelnen Handlungsstränge der einander zunächst fremden Einzelfiguren als themenverstärkende Erklärungen einsetzt, und sich im späteren Verlauf der Ereignisse annähern lässt, ist gekonnt, lebendig und packend. Hier schreibt ein Theaterregisseur, der jede Szene, jede Entwicklung bis ins Detail überlegt hat. Die Sprache zeigt viele Facetten zwischen salopp, einfühlsam, emotional, eindringlich, und beeindruckt durch lebhafte Schilderungen des Lebens in Nordafrika, der Menschen, der Natur, aber auch der Gedanken und Hintergründe. Hier schreibt ein Autor, der sich auskennt, genau beobachtet, und die Problematik sachlich und fundiert von unterschiedlichen Seiten beleuchtet.

Fazit

Eine spannende Geschichte, dazu viele Informationen und wissenswerte Fakten, großartige Schilderungen der Menschen, der Städte und Landschaften Marokkos. Darin eingebunden sind brisante aktuelle Themen und eine kritische Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft. Dieses Buch hilft zu verstehen, ohne belehren zu wollen, es überzeugt als Gesamtpaket von der ersten Seite an.

Der Sommer, in dem alles begann – Claire Léost

AutorClaire Léost
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum11. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ÜbersetzungStefanie Jacobs, Jan Schönherr
ISBN-13978-3462003871

„In diesem magischen Jahr entdeckt Hélène ein neues Land, bevölkert von Schriftstellern und Worten. Jedes Buch ist eine Schatzkiste.“ (Zitat Pos. 173)

Inhalt

Marguerite Renaud, eine erfolgreiche Dozentin für Literaturwissenschaften in Paris, ist mit dem erfolgreichen Krimi-Schriftsteller Raymond Berger verheiratet. Als Raymond vorschlägt, für einige Zeit in die Bretagne zu ziehen, in der Hoffnung, in der wilden Einsamkeit seine Schreibblockade überwinden zu können, sagt sie zu. Sie verschweigt Raymond, dass auch sie einen Grund hat, ausgerechnet in die Finistère zu ziehen. Marguerite ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat und aus dieser Gegend stammte. Marguerite nimmt eine Vertretungsstelle als Französischlehrerin am Gymnasium in Bois d‘en Haut an. Dort trifft sie auf die sechzehn Jahre alte Hélène und sie erkennt rasch die Begabung des Mädchens. Während Hélène sich begeistert der Literatur zuwendet, entsinnt sich ihr Freund Yannik plötzlich seiner bretonischen Wurzeln. Die Ereignisse dieses Sommers werden genau beobachtet von der druidischen Kräuterfrau Mamie Alexine, Hélènes Großmutter, und deren bester Freundin Émile Tanguy, Inhaberin des Dorfladens.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Gesellschaftsstrukturen, Familie, Frauenleben, Literatur, Nationalismus und alte Traditionen in der Bretagne.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte beginnt mit einem kurzen Einstieg in der Gegenwart, führt dann zwanzig Jahre zurück zu einem bestimmten Tag im Jahr 1994 und beginnt von dort an, in einem umgekehrten, rückwärtsgerichteten Zeitablauf, die Ereignisse aufzurollen. Parallel dazu führt ein zweiter Erzählstrang weitere fünfzig Jahre zurück und bietet dadurch auch Hinweise auf die bretonische Geschichte. Erinnerungen und Gedanken vertiefen die Erlebnisse und Charaktere der einzelnen Figuren. Es sind unterschiedliche Figuren, deren Verhalten nicht immer nachvollziehbar ist, da sich die Geschichte aus den Konflikten und den Handlungen der einzelnen Figuren ergibt. Die Sprache entspricht dem Genre Unterhaltungsroman und ist leicht zu lesen.

Fazit

Dieser Frauen- und Generationenroman konnte meine Erwartungen nicht ganz erfüllen. Die Geschichte wirkt auf mich zu bewusst konstruiert und die Figuren zu klischeehaft. Die abwechslungsreiche Erzählform macht diesen Roman dennoch zu einer angenehm zu lesende Unterhaltungslektüre, die sicher andere Leserinnen begeistern wird.

Die Zeit im Sommerlicht – Ann-Helén Laestadius

AutorAnn-Helén Laestadius
VerlagHOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Datum4. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten480
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMaike Barth, Dagmar Mißfeldt
ISBN-13978-3455017083

„Als sie das Internat betrat, hatten sich die Betreuerinnen in einer Reihe aufgestellt und die Kinder angelächelt, in deren Gesichtern die Tränen Spuren hinterlassen hatten. Vor allen stand die Heimleiterin Rita Olsson, die sie Hausmutter nennen sollten. Sie lächelte nicht.“ (Zitat Pos. 49)

Inhalt

Vor zwei Wochen war auch die siebenjährige Else-Maj in dem Bus gesessen, der die Kinder aus den Sami-Dörfern einsammelte und in die Nomadenschule brachte, ein Internat in Láttevárri, wo sie die schwedische Sprache und Kultur lernen sollen. Wer von der gefürchteten Hausmutter Rita Olssen dabei erwischt wird, samisch zu sprechen, wird streng bestraft. Hilfe und Unterstützung finden sie bei der jungen Erzieherin Anna, doch diese verlässt eines Tages plötzlich das Internat. Die Jahre in der Nomadenschule, fern von ihren Heimatdörfern und ihren Familien, traumatisieren und prägen die Kinder wie Else-Maj, Jon-Ante, Nilsa, Marge und Anne-Risten für ihr weiteres Leben. Auch wenn sie nicht über diese schlimme Zeit reden, die Erinnerungen lassen sie auch nicht los, als sie längst erwachsen und selbst Eltern sind.

Thema und Genre

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Sami auch in Schweden diskriminiert und unterdrückt, man zwang die Eltern, ihre Kinder auf sogenannte Nomadenschulen zu schicken, wo der Unterricht ausschließlich in schwedischer Sprache stattfand. Es war verboten, samisch zu sprechen und die Zustände in diesen Schulen haben die betroffenen Menschen über Generationen traumatisiert. Obwohl es sich hier um einen Roman handelt, sind viele reale Erinnerungen von Schülerinnen und Schülern der Nomadenschulen in die Handlung eingeflossen.

Erzählform und Sprache

Die Autorin folgt ihren Hauptfiguren in einzelnen Abschnitten und mit einigen Zeitsprüngen über mehr als dreißig Jahre, beginnend 1950. Durch den jeweiligen Namen und auch das Jahr in den Kapitelüberschriften ist die Handlung jedoch sehr klar strukturiert und nachvollziehbar. Gerade diese Art des Erzählens macht die Geschichte packend, lebhaft und vielschichtig auf Grund der Entwicklung der einzelnen Charaktere als Folge der Kindheitserlebnisse. In Verbindung mit der präzise schildernden, empathischen Erzählsprache ergibt sich ein eindrucksvolles, berührendes Gesamtbild.

Fazit

Eine fiktive Geschichte mit realem geschichtlichen Hintergrund, ein beeindruckender Roman über die Sami, ihre Kultur, ihr freies Leben in der Natur und die Schicksale ihrer Kinder, die mit etwa sieben Jahren aus diesem Leben gerissen und in strenge Internate gebracht wurden, wo man versucht hat, sie mit Zwang umzuerziehen. Eine Lektüre, die nachhallt und die man noch lange in den Gedanken behält.

Ein falsches Wort – Vigdis Hjorth

AutorVigdis Hjorth
VerlagS. FISCHER
Datum13. März 2024
AusgabeHardcover
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3103975130

„Das war gut, und es war kein Wunder, dass sie wahrscheinlich darüber gesprochen hatten, was von der Geschichte zu halten war, denn man kann nicht alles glauben, was Menschen über ihre Kindheit erzählen.“ (Zitat Seite 245)

Inhalt

Der Erbstreit zwischen den vier Geschwistern beginnt schon Wochen vor dem Tod des Vaters, als dieser die beiden Ferienhütten der Familie auf der Insel Hvaler auf die zwei jüngeren Töchter Astrid und Åsa überschreibt und sowohl Bård, den Ältesten, als auch die ältere Tochter Bergljot übergeht. Dreiundzwanzig Jahre ist es her, seit Bergljot mit der Familie gebrochen hat, doch nun ergreift sie Partei für Bård. Bald wird klar, in dieser Geschichte ihrer Familie, die uns Bergljot hier erzählt, ist der Streit um das Erbe nur der Auslöser, denn es ist Bergljot, die endlich gesehen werden will. Sie will, dass man ihr endlich zuhört und ihr glaubt, denn ihre Kindheit ist anders verlaufen, als die ihrer beiden jüngeren Schwestern. Vielleicht könnte sie dann endlich einen Schlussstrich ziehen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Familiengeheimnisse, prägende Kindheitserfahrungen, Mutter-Kind-Konflikte, Geschwister, Anerkennung, Glaubwürdigkeit, Vertuschung, Schuld und die Frage nach den Grenzen der Vergebung.

Erzählform und Sprache

„Ich wusste nicht, wie es war, ein normaler Mensch zu sein, ein unbeschädigter Mensch, ich hatte keine andere Erfahrung als meine eigene.“ (Zitat Seite 75) Dies sagt die Ich-Erzählerin Bergljot, beinahe sechzig Jahre alt, Literaturwissenschaftlerin und Mutter von drei erwachsenen Kindern, über sich selbst. Die aktuelle Handlung erstreckt sich über einen knappen Zeitraum zwischen dem Tod des Vaters, Notartermin und Abwicklung des Nachlasses. Die persönlichen Erinnerungen, welche die Ich-Erzählerin mit uns teilt, schieben sich als kurze Episoden und nicht chronologisch zwischen die aktuellen Ereignisse. So wird rasch klar, dass sich der tiefe Riss, der sich seit dem Erbstreit durch die Familie zieht, nur symbolisch ist für Verfälle, sie weit in der Vergangenheit liegen und die nicht klar ausgesprochen werden, aber dennoch deutlich genug sind, wenn Bergljot „darüber“ sprechen will. Durch die gewählte Form der direkt Betroffenen als Ich-Erzählerin tauchen wir tief in ihre Gedankenströme ein. Die Sprache, wie die Hauptfigur Bergljot selbst, ist anstrengend, wie ein in Wiederholungen sich drehender Gedankenkreisel, und man wird beim Lesen in diesem Sog mitgewirbelt. Als bewusst eingesetztes Stilelement passen die dauernden Wiederholungen einzelner Gedankengänge für mich perfekt, aber diese Wiederholungen der Gedanken, Worte und Sätze ziehen sich konstant durch die gesamte Geschichte. Auch wenn die Idee dahinter klar ist, es wird die Situation der Hauptfigur auch durch die Sprache eindrücklich dargestellt, so hat die Handlung dadurch trotz einiger bewusst eingesetzter Wendungen und Spannungselemente Längen. „Das Leben der Menschen ist wie ein Roman, dachte ich, wenn du in einem Roman weit genug gekommen bist, willst du, auch wenn er ziemlich langweilig ist, wissen, wie es weitergeht …“ (Zitat Seite 310) Dieses Teilzitat beschreibt perfekt meine persönliche Leseerfahrung mit diesem Roman.

Fazit

Eine gespaltene Familie, verstörende Geheimnisse, über die nicht gesprochen wird, und die wiederholten Versuche einer etwas nervenden, an sich selbst und ihrem Leben zweifelnden Hauptfigur, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.

Labyrinth der Masken – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum22. Februar 2006
Ausgabemetro-Taschenbuch
Seiten256
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHans-Joachim Hartstein
ISBN-13978-3293203648

„Er fühlte sich hoffnungslos überfordert, ohne im Mindesten die Antwort auf eine der tausend Fragen zu wissen, die sich ihm stellten.“ (Zitat Seite 53)

Inhalt

In diesem dritten Band des Havanna-Quartetts ist es Sommer geworden, 1989, ein heißer, staubiger August. Nach der Prügelei mit Teniente Fabricio vor drei Monaten ist Mario Conde zum Erkennungsdienst strafversetzt worden, während nicht nur gegen ihn interne Ermittlungen laufen. Doch nun wird er gebraucht, denn dieser Mord an einem jungen Mann in einem roten Frauenkleid mitten im Stadtwald von Havanna ist besonders heikel, der tote Transvestit stammt aus einer sehr bekannten, angesehenen Familie. Die ersten Spuren führen die beiden Ermittler El Conde und Manuel Palacios zu dem international bekannten Dramatiker und Theaterregisseur Alberto Marqués Basterrechea. Während der Teniente die Vor- und Nachgeschichte des Mordes zu ergründen versucht, der ausgerechnet am 6. August, dem Fest der Verklärung Christi, der Transfiguration, stattgefunden hat, führen seine Gespräche mit Alberto Marqués dazu, dass El Condes Vorurteile schwinden.

Thema und Genre

In diesem Kuba-Roman geht es um Politik, Korruption, Gesellschaft, Vorurteile, Diskriminierung, Homosexualität. Im Mittelpunkt von Mario Condes Ermittlungen stehen diesmal ein alter, exzentrischer Künstler und natürlich wieder die Literatur.

Charaktere

„Mario Conde ist kein Polizist, sondern eine Metapher und sein Leben spielt sich im virtuellen Raum der Literatur ab.“ (Zitat Seite 6, Vorbemerkung des Autors) Doch es liegt an der genauen Beobachtungsgabe, der Phantasie und dem genialen Können des Autors, reale Menschen in seine fiktiven Charaktere einzubringen, Mario Conde und auch alle anderen Figuren seiner Romane, ungemein glaubwürdig und lebensnah wirken zu lassen, mit ihren Fehlern, Zweifeln, Träumen und Gefühlen.

Erzählform und Sprache

Auch dieser dritte Kriminalfall, den Mario Conde während des Jahres 1989 lösen muss, ist nur ein Teil der Geschichte, um die es in diesem Kuba-Roman geht. Das Thema Homosexualität, die damit verbundenen Vorurteile, die politischen Versuche einer Umerziehung, in Verbindung mit dem alltäglichen Leben in Havanna in dieser Zeit des Umbruchs, verdichten und erweitern die Handlung zu einem intensiven, weit gefächerten Gesamtbild. Mario Conde sagt von sich selbst, ein Mann der Erinnerungen zu sein und so erfahren wir durch seine Gedanken interessante Details darüber, wie sich Kuba, und vor allem die Stadt Havanna, verändert haben. „Ich verstehe das, natürlich verstehe ich das, denn diese Insel hat den historischen Auftrag, immer wieder neu zu beginnen, alle dreißig oder vierzig Jahre. Das Vergessen ist Balsam für alle offenen Wunden …“ (Zitat Seite 116). Die Sprache ist eine elegante, poetische Sprache der Literatur, verbunden mit der manchmal verstörend direkten Sprache einer Männerwelt.

Fazit

Ein spannendes, interessantes, beeindruckendes Leseerlebnis, eingebettet in die Liebe zu Kuba und zur Literatur.  

Handel der Gefühle – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum28. Februar 2006
Ausgabemetro-Taschenbuch
Seiten256
SerieDas Havanna-Quartett: Frühling
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3293203525

 „Na prima, dachte er, wenn ichs mir recht überlege, äuft das doch so: Ich bring das Leben anderer Leute in Ordnung, krieg aber mein eigenes nicht in den Griff.“ (Zitat Seite 50)

Inhalt

Es ist Frühling 1989 in Havanna und einer der typischen Frühlingsstürme wirbelt den Staub durch die Straßen. Einen Tag nach dem Aschermittwoch wird Lissette Núñez Delgado in ihrer Wohnung tot aufgefunden, es war ein brutaler Mord. Die Gymnasiallehrerin für Chemie war nur vierundzwanzig Jahre alt geworden. Die ersten Spuren führen den Ermittler, Teniente Mario Conde, genau in jenes Gymnasium, in dem auch er vor Jahren seine Oberstufenzeit verbracht hatte. Der Fall ist heikel, denn neben Alkohol ist auch Marihuana im Spiel und bald wird El Condo und seinem Teampartner Sargento Manuel „Manolo“ Palacios klar, dass Spuren auf einen professionellen Drogenhandel hinweisen. Obwohl im Lauf der Ermittlungen langsam einige Fakten zusammenführen, passt für Conde irgend etwas einfach nicht, auch wenn er es zunächst nicht erfassen kann.

Thema und Genre

Die Serie um den Ermittler Mario Conde spielt in Havanna und es steht nicht der Kriminalfall im Mittelpunkt, sondern es geht um die politische Situation Kubas 1989, Korruption, Überwachung, Drogenhandel, Kleinkriminalität und das bunte Leben der unterschiedlichen Menschen in der Stadt Havanna, eine Stadt mit einer bewegten Vergangenheit und unendlich vielen Facetten. Es geht um Männerleben, Freundschaft, Liebe, Einsamkeit und um Literatur.

Charactere

Als Junge träumte der Teniente Mario Conde davon, Schriftsteller zu werden und dieser Traum ist geblieben, eines Tages wird er den Polizeidienst verlassen und wieder schreiben. Er gilt als verbissen, intelligent und zu effizient für den Polizeidienst. Persönlich ist er pessimistisch, melancholisch, hat Macho-Allüren und liebt guten Rum, wenn erhältlich, sehr guten, starken Kaffee, wenn verfügbar, und in stillen Stunden träumt er davon, endlich die Liebe fürs Leben zu finden.

Erzählform und Sprache

Die Recherchen und Ermittlungen sind in den Tagesablauf von Mario Conde eingebettet, er teilt mit uns seine Liebe zu Havanna, zum Meer, zu Kuba und seine Erinnerungen. Wir beobachten ihn in seinem winzigen Büro im dritten Stock, das er wegen der Aussicht liebt, und das er sich mit Sargento Manolo teilt. Mit dem dünnen Carlos verbindet ihn eine enge Freundschaft fürs Leben, andere Freunde besucht El Condo, wenn er Tipps für seine Ermittlungen braucht. Diese sehr spezielle Figur El Condo hätte beinahe dazu geführt, dass ich nach etwa achtzig Seiten die Lektüre abgebrochen und das Buch zurück ins Regal gestellt hätte. Auch an die Sprache, literarisch, philosophisch, bildintensiv in den Schilderungen, in den Dialogen und speziellen Szenen jedoch umgangssprachlich, hart bis ins Vulgäre, musste ich mich gewöhnen. Doch dann plötzlich war ich im Sog der Geschichte, der Themenvielfalt und auch der Figuren dieses Romans, El Condo, frisch in die attraktive Saxofonspielerin Karina verliebt, eingeschlossen.

Eine Bemerkung zur Reihenfolge der Bücher des Havanna-Quartetts: ich habe mit dem Frühling begonnen, ohne zuvor nachzulesen, doch diese Serie beginnt mit dem Winter und endet mit dem Herbst. Da es insgesamt um die Ereignisse nur eines Jahres geht und jeder Fall in sich abgeschlossen ist, sehe ich kein Problem in der geänderten Reihenfolge. Zur Zeit lese ich den Sommer, werde den Winter anschließen und zuletzt dann den Herbst lesen, da dieser doch einen gewissen Abschluss bildet.

Fazit

Ein intensiver Kuba-Roman mit vielen Facetten, offen, direkt, realistisch, auch sprachlich teilweise eine Herausforderung und gleichzeitig ein packendes Leseerlebnis.

Die Töchter der Kälte – Camilla Läckberg

AutorCamilla Läckberg
VerlagUllstein Taschenbuchverlag
Datum30. November 2015
AusgabeKindle-Ausgabe
Seiten481 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ASINB00WWNQ0Y8

„Langsam spürte er, wie der Korb nachgab; hoffentlich war er nicht beschädigt. Er warf einen Blick an der Wand seines alten Kahns herunter, um zu sehen, in welchem Zustand der Korb nach oben kam.“ (Zitat Seite 6)

Inhalt

Maja, die kleine Tochter von Kommissar Patrik Hedström und Erica Falk, ist gerade zwei Monate alt und hat das Leben der beiden völlig verändert. Besonders Erica ist überfordert und deprimiert und sie ist froh, dass sie in Charlotte eine verlässliche Freundin gefunden hat, die sie versteht und unterstützt. Charlotte Klinga, ihr Mann Niclas ist Arzt in Fjällbacka, ist Mutter von zwei Kindern, der sieben Jahre alten Sara und dem acht Monate alten Alvin. Dann kommt jener Montag, an dem zusammen mit dem letzten Fangkorb, den der Hummerfischer Frans Bengtsson aus dem Wasser holt, auch der Körper eines toten Mädchens auftaucht. Es ist Sara, die Tochter von Charlotte und Niclas. Rasch kursieren Gerüchte über Verdächtige in Fjällbacka und es ist nicht einfach für Patrik, das Netz aus Rätseln in diesem Fall, der ihn auch emotional sehr stark belastet, zu entwirren.

Thema und Genre

In diesem dritten Falck-Hedström-Krimi geht es um den Mord an einem Kind, der in dem engen Dorfgefüge von Fjällbacka sofort alle Vorurteile den Mitmenschen gegenüber zum Vorschein bringt. Themen sind Nachbarschaftsstreit, Beziehungen, prägende Kindheitserlebnisse und verstörende Familiengeheimnisse, die weit zurück in die Vergangenheit reichen.

Erzählform und Sprache

Auch diesmal wird die Handlung von einer Parallelgeschichte bestimmt, die in den 1920er Jahren beginnt und das Schicksal von Menschen über Jahrzehnte bestimmt und prägt. Erst langsam lassen sich Personen und Zusammenhänge vermuten, obwohl wir mit diesem Wissen um die Vergangenheit den Ermittlern voraus sind. Die aktuellen Ereignisse werden einerseits geprägt von Ericas und Patricks Alltagsproblemen als junge Eltern, von der Frage, was der plötzliche Verlust eines Kindes für die Familie bedeutet, andererseits folgen wir einer spannenden Suche nach dem Täter, die wieder unvorhersehbare Wendungen bringt. Intensität erhält die Geschichte durch die psychologischen Momente und die Figurenvielfalt in dem nur scheinbar friedlichen Ort Fjällbacka.    

Fazit

Auch dieser dritte Band der Serie bringt interessante, facettenreiche, packende Lesestunden.

Die Eisprinzessin schläft – Camilla Läckberg

AutorCamilla Läckberg
VerlagUllstein Taschenbuchverlag
Datum6. Februar 2015
AusgabeKindle-Ausgabe
Seiten401 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ÜbersetzungGisela Kosubek
ASINB00PLXQ1T0

„Schweigen lässt sich niemals zurücknehmen.“ (Zitat Seite 377)

Inhalt

Erica Falck ist Journalistin und Schriftstellerin und schreibt Biografien von schwedischen Autorinnen. Gerade ist Selma Lagerlöf ihr Thema, doch ihr fehlt die Motivation. Da ihre Eltern kürzlich verstorben sind, muss sie das Elternhaus in Fjällbacka räumen, denn ihre Schwester Anna will dieses rasch verkaufen. Da erfährt sie, dass ihre langjährige Jugendfreundin Alexandra Wijkner, eine erfolgreiche Galeristin in Göteborg, sich in ihrem Wochenendhaus in Fjällbacka das Leben genommen hat. Erica als Freundin soll den Nachruf schreiben und entdeckt hier gleichzeitig den Stoff für ein eigenes Buch, denn rasch ist klar, dass es kein Selbstmord war, auch wenn es so aussehen sollte. Während Ericas Schulfreund Patrick Hedström als Polizist die offiziellen Ermittlungen leitet, beginnt Erica ebenfalls zu recherchieren.

Thema und Genre

Die Falck-Hedström-Serie umfasst inzwischen elf Bände, dieses ist der erste Band der schwedischen Krimiserie, die in dem Ort Fjällbacka spielt. In diesem Kriminalfall, der weit in die Vergangenheit zurückführt, geht es um gesellschaftliche und persönliche Beziehungen, um prägende Kindheitserinnerungen, unterschiedliche Familiengefüge und Familiengeheimnisse.

Erzählform und Sprache

Die Autorin baut die Geschichte in unterschiedlichen Zeitebenen auf, wobei ein Handlungsstrang, der in der Vergangenheit liegt, abwechselnd mit den aktuellen Geschehnissen geschildert wird. So erfährt man noch vor dem Ermittlerteam eine Hintergrundgeschichte, ohne jedoch zu wissen, wie das mit dem Fall zusammenhängt. Diese Erzählform baut rasch Spannung auf, welche in Verbindung mit den vielen unterschiedlichen und sehr präzise entwickelten Figuren, Themen und Konflikten eine vielschichtige Geschichte ergibt. Die Sprache nimmt sich auch Zeit für Beschreibungen und ist sehr angenehm zu lesen.

Fazit

Der spannende, facettenreiche Beginn einer schwedischen Krimiserie, ein packender Kriminalfall mit vielen menschlichen Aspekten. Lesevergnügen, das Lust darauf macht, die Serie weiterzulesen.

Treffpunkt im Unendlichen – Klaus Mann

AutorKlaus Mann
NachwortFredric Kroll
Verlag Rowohlt Taschenbuch
Erscheinungsdatum Neuausgabe Dez. 2020
FormatTaschenbuch
Seiten332
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3499223778

„Und sind Bindungen, auf die Menschen sich einlassen, wirklich lockerer, als sie früher waren oder scheinen sie`s nur, weil die Zwangsvorstellung des Besitzes sich zu verflüchtigen anfängt? Ich glaube, sie scheinen nur lockerer.“ (Zitat Seite 138)

Thema, Genre und Inhalt

Dieser Roman spielt in Künstlerkreisen in Berlin und Paris und besteht aus Parallelszenarien, aus Handlungssträngen, jeder davon eine eigene Geschichte, die gleichzeitig stattfinden, jedoch voneinander getrennt sind. Die Figuren kennen sich teilweise, es sind  Freundeskreise, die sich manchmal überschneiden, manche pendeln auch zwischen den beiden Städten und Gruppen. Es sind vor allem die Abende und Nächte, die das Leben in dieser Zeit prägen, Menschen auf der Suche nach Glück, nach Ablenkung, nach Liebe, Freundschaft, nach Beziehungen mit finanzieller Sicherheit und neuen Möglichkeiten. Die Figuren in dieser Geschichte finden einander, verlieren einander wieder, treffen in neuen Konstellationen aufeinander. Während der junge Journalist und angehende Schriftsteller Sebastian Berlin verlässt und nach Paris reist, verlässt die junge Schauspielerin Sonja München und zieht nach Berlin. Auch sie treten in die jeweiligen Freundeskreise ein, ohne einander jedoch persönlich zu kennen, bis beide, völlig unabhängig voneinander, eine Reise nach Marokko planen.

Fazit

Klassiker wie dieser sind auf Grund des zeitgeschichtlichen Hintergrundes von zeitloser Aktualität. Gerade jetzt, in Zeiten politischer Veränderungen, stimmt dieser Roman, der in den 1930er Jahren in Deutschland und Frankreich spielt, sehr nachdenklich. Es ist nicht nur die Vielfalt an unterschiedlichen Themen, sondern auch die verschiedenen, realitätsnahen Charaktere, jeder und jede für sich präzise und in ihrem Verhalten nachvollziehbar geschildert, die sich zu einem lebhaften Gesellschaftsbild vereinen und diesen Roman auch heute noch zu einem beeindruckenden Leseerlebnis machen.

Nachtfrauen – Maja Haderlap

AutorMaja Haderlap
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum11. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten294
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431337

„Es waren gewissermaßen Expeditionen im eigenen Land, Reisen ins Innere ihrer Kindheit, die Mira mehr anstrengten als längere Aufenthalte im Ausland oder tagelange Fußmärsche mit schwerem Gepäck. Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben.“ (Zitat Seite 11)

Inhalt

Mira lebt seit ihrer Studienzeit in Wien, das sind nun schon mehr als dreißig Jahre. Aufgewachsen ist sie mit ihrer Mutter Anni und ihrem Bruder Stanko in Jaundorf, einem Ort in Südkärnten. Die alte Anni wohnt noch immer in dem kleinen, einfachen Haus, einem Nebengebäude auf dem Bauernhof ihres Bruders,  in dem sie nach dem frühen Tod ihres Mannes die beiden Kinder großgezogen hat. „Weggehen kann jeder. Das Schwierige ist doch, zu bleiben, auch wenn die Mehrzahl der Bewohner das Weite gesucht hat.“ (Zitat Seite 14) Inzwischen hat Annis Neffe Franz das gesamte Anwesen geerbt und jetzt will er das Häuschen abreißen und dort eine Tischlerwerkstatt bauen. Mira muss nach Jaundorf fahren, sie soll Anni von der Notwendigkeit der Übersiedlung überzeugen und mit ihr Entscheidungen treffen, wie und wo Anni nun wohnen soll. Mira spricht mit ihrer Mutter immer noch slowenischen Dialekt, die Sprache ihrer Kindheit, und jede Reise nach Südkärnten ist für Mira auch eine Reise zurück in die Erinnerungen einer problematischen Vergangenheit.  

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um drei Frauen, Mira, ihre Mutter Anni und deren Mutter, Miras Großmutter Agnes. Themen sind Heimat, enges Dorfleben, Verluste, problematische Mutter-Tochter-Beziehungen, die vom Schweigen über die Vergangenheit und Verschweigen geprägt sind. Es geht auch um Schuldgefühle, die den Verlauf von Menschenleben beeinflussen, um Beziehungen und Liebe.

Erzählform und Sprache

Im ersten Teil des Romans steht Mira im personalen Mittelpunkt der Geschichte, wir sehen die Ereignisse aus ihrem Blickwinkel, tauchen in ihre Gefühle und Gedanken ein. Wir erfahren Details aus der Vergangenheit, an die sie sich während dieser aktuellen Tage mit ihrer Mutter erinnert. Durch Zufall trifft sie ihre Jugendliebe Jurij wieder, was dazu führt, dass sie über ihre Ehe mit dem Mittelschullehrer Martin nachdenkt. Im zweiten Teil der Geschichte steht dann Miras Mutter Anni im Mittelpunkt. Die bevorstehende Übersiedlung aus dem alten Häuschen, in dem sie einundvierzig Jahre ihres Lebens verbracht hat, nützt Anni, um ihre Erinnerungen zu sichten, Kartons mit alten Unterlagen, Briefen, Zeitungsausschnitten und Fotos, mit denen sie einzelne Ereignisse verbindet. So reisen ihre Gedanken zurück in ihre eigene Kindheit und als sie die Schachtel mit der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Agnes durchsieht, öffnet sich vor uns auch das Leben von Agnes und ihrer unangepassten Schwester, der Partisanin Dragica. Es sind von Entbehrungen, harter Arbeit und dem Druck auf die slowenische Minderheitsbevölkerung im südlichen Kärnten geprägte Frauenschicksale. Sowohl die eindrucksvolle Geschichte selbst, als auch die intensive Sprache ziehen uns sofort in ihren Bann.

Fazit

Eine packende, vielschichtige Generationengeschichte, in deren Mittelpunkt drei Frauen, Großmutter, Mutter, Tochter, stehen. Dieser Roman war für den Österreichischen Buchpreis 2023 nominiert und ist ein überzeugendes Leseerlebnis.

Schwachstellen – Yishai Sarid

AutorYishai Sarid
VerlagKein & Aber Verlag
Datum15. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ÜbersetzungRuth Achlama
ISBN-13978-3036950167

„Ich war Lichtjahre entfernt von meinen Mitmenschen und klebte gleichzeitig wie ein Blutegel an ihnen.“ (Zitat Seite 227)

Inhalt

Der junge, begabte Technologiespezialist Siv hat vor, nach seinem Wehrdienst eine längere Reise durch ferne Länder zu unternehmen, und danach Astrophysik zu studieren. Doch zwei Monate vor Ende seiner Wehrverpflichtung tritt ein Technologieunternehmen, ein privater Nachrichtendienst, an ihn heran mit einem sehr interessanten und lukrativen Jobangebot, das er nicht ablehnen kann, zumal sein Aufgabengebiet auch Auslandsreisen umfassen wird. Rasch ist er der beste Spezialist auf seinem Gebiet, die Auswirkungen seiner Arbeit ignoriert er zunächst, für ihn zählen die innovative Technik, seine Kreativität, seine Erfolge und die damit verbundene Anerkennung. Doch bald stellt er fest, dass die Aufträge und der Einsatz des Überwachungssystems wesentlich weiter gehen, als die Bereiche öffentliche Sicherheit und Schutz vor Anschlägen erfordern. Gleichzeitig werden der Sog und persönliche Anreiz, sein Programm auch im eigenen, privaten Bereich einzusetzen, für Siv immer stärker.

Thema und Genre

In diesem Polit- und Technologiethriller geht es um den geheimen Einsatz von Überwachungssystemen, welche umfassend bis in das intime Privatleben der damit kontrollierten Menschen eindringen. Ein wichtiges Thema sind auch persönliche Überzeugungen, Verantwortung, Rechtfertigung und ethische Fragen, die sich für jene Menschen stellen, die solche Technologien entwickeln und damit viel Geld verdienen, oder diese einsetzen. Auch Familiengefüge und Beziehungen spielen eine Rolle.

Erzählform und Sprache

Siv selbst erzählt seine Geschichte. Der Handlungsverlauf ist chronologisch mit ergänzenden Rückblicken in Form von Erinnerungen. Einerseits ergibt sich so die von einem Thriller erwartete Spannung und rasante Abfolge von Ereignissen, andererseits erlaubt die Sprache als Ich-Erzähler ein tiefes Eindringen in die Gedanken-, Gefühls- und Erfahrungswelt der Hauptfigur Siv. Dies bietet Yishai Sarid die Möglichkeit, diese wichtigen Themen, die Probleme und Konflikte vertiefend und intensiv zu betrachten und zu schildern. So bietet dieser Roman neben Hochspannung auch einen direkten Einblick in das Leben von Siv, seinen Alltag, seine familiären Bindungen, in das problematische Leben seiner Schwester Schiri und Sivs Unsicherheiten in Bezug auf Frauen, seine private Einsamkeit. Wichtige technische Details sind verständlich, jedoch mit einer faszinierenden Intensität geschildert.

Fazit

Ich hielt beim Lesen oft den Atem an, so beklemmend und realistisch waren die Schilderungen dieser dichten Netze von totaler technischer Überwachung und gleichzeitig der Facettenreichtum der menschlichen Konflikte. Eine packende Geschichte über den Einsatz modernster Überwachungstechnologien, die ihr dichtes Netz nicht nur über die damit überwachten politischen Gegner, sondern bald auch um den brillanten Computerspezialisten Siv selbst, der diese Programme entwickelt hat, ziehen.

Der Bücherprinz – Prinz Rupi

AutorRuprecht Frieling
Verlag DeWinter Waldorf Glass
Erscheinungsdatum 20. Oktober 2023
FormatTaschenbuch
Seiten384
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3986500085

„Ein jeder von uns steht eines Tages am Kreuzweg des Lebens und entscheidet, welche Richtung er einschlägt. Mich zog es ins Land Phantasia, und diesem Weg bin ich konsequent und freudig gefolgt.“ (Zitat Seite 27)

Thema und Inhalt

Lebensabschnittsgeschichte nennt der 1952 geborene Journalist, Fotograf, Autor, Verleger und in jedem dieser Bereiche auch überzeugte und überzeugende Künstler Ruprecht Frieling, für Freunde Prinz Rupi, seine Autobiografie. Aufgewachsen in Oelde, ist schon für den sehr jungen Frieling klar, dort kann er nicht bleiben, die 1968er Jahre mit dem besonderen Lebensgefühl rufen ganz laut und er zieht nach Westberlin, auf der Suche nach seinem eigenen Stern. Phantasie und ein hohes Kreativitätspotential mit einer Fülle von Ideen sind sein lebenslanger Motor, gebremst wird seine Durchsetzungskraft in jungen Jahren, so schreibt er, durch rasche Langeweile. Dies ändert sich, als er seinen Stern findet und, erst dreißig Jahre alt, seinen eigenen Verlag gründet, auch hier mit innovativen, neuen Geschäftsideen. „Meinen Stern hatte ich im Planetensystem der Bücher gefunden. Ihm folgte ich mit voller Kraft.“ (Zitat Seite 307)

Umsetzung

Auf 377 Seiten folgen wir einem bunten, verrückten, eigenwilligen Menschenleben mit seinen Höhen und auch Tiefen, denn Frieling schreibt offen, mit humorvoller Nachsicht, über seine wilden Jahre, seiner persönliche und künstlerische Entwicklung vom fotografierenden Schreiberling, über den Leiter eines kleinen Redaktionsteams bis zum erfolgreichen Verlagsleiter und lässt auch Rückschläge, die zu neuen Erfahrungen führen, nicht aus. Nichts davon wirkt aufgesetzt, die bekannten Künstler, die er zu seinen Freunden zählt, werden nicht präsentiert, sondern einfach begründet, wie diese Freundschaften durch Zusammenarbeit entstanden sind. Doch Frieling teilt wesentlich mehr mit uns, als nur seinen besonderen Lebenslauf, seine berufliche und künstlerische Entwicklung und die damit verbundenen Anliegen, Beweggründe und Ideen. Er führt uns durch die 1968er Bewegung, durch das geteilte Berlin, wo er zwischen West und Ost pendelt, durch die dem Mauerfall folgenden Jahre, und nimmt uns mit auf einen Weg der sich entwickelnden Technik von der Schreibmaschine zum modernen Selfpublishing. Seine Sprache macht das Lesevergnügen komplett.

Fazit

Wer diese wilden 1968er und den damit verbundenen Auf- und Umbruch erlebt hat, das geteilte Deutschland, die Geschichte der neuen Literatur, der Verlage, die technischen Veränderungen ab den ersten Computern, wird beim Lesen wohl bejahend nicken und gleichzeitig in eigene Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen zurückversetzt. Für jüngere Leser und Leserinnen ist ein eine Reise durch die jüngere Zeitgeschichte, durch Jugendkultur und gesellschaftliche Veränderungen. Für uns alle ist dieses Buch eine Anregung, über unsere eigenen Wünsche und Träume nachzudenken und unserem ganz persönlichen Stern zu folgen.

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen – Dana Grigorcea

AutorDana Grigorcea
VerlagPenguin Verlag
Datum28. Februar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3328601548

„Jahre schon trug sie diese Geschichte mit sich, in allen Details. Jedes ihrer Bücher hätte dieses werden müssen – und war dann doch ein anderes geworden.“ (Zitat Seite 12)

Inhalt

Es ist eine kleine Statuette des Bildhauers Constantin Avis, eine Frau oder ein aufsteigender Vogel, die fest in den Gedanken der Schriftstellerin Dora verankert ist. Eng mit dieser Figur verbunden ist eine Geschichte, die 1926 in New York beginnt und zu einem Prozess über die Frage führt, was der Unterschied zwischen Gebrauchsgegentand und Kunst ist und wer dies bestimmt. Damenwahl, so soll Doras Buch heißen und als sie zu Frühlingsbeginn in Santa Margherita Ligure eintrifft, spürt sie, dass sie hier, an der ligurischen Küste, dieses Buch schreiben wird.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Künstlerleben, den Schaffensprozess von bildenden Künstlern und Schriftstellerin, um de Traum vom Erfolg und die Definition von Kunst. Ein Teil der Geschichte spielt in der schillernden Stadt New York in den 1920er Jahren, kultureller und gesellschaftlicher Treffpunkt zwischen Stummfilm und Beginn der Tonfilmära. Themen sind auch Gefühle, Beziehungen und Künstler als Eltern.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt, einerseits die Geschichte des jungen Künstlers Constantin Avis, der 1926 nach New York kommt, um in einer Galerie an der Eröffnung einer Ausstellung mit seinen Skulpturen teilzunehmen. Über die damit verbundene Geschichte schreibt die Schriftstellerin Dora nun, beinahe einhundert Jahre später, ein Buch. Eine Auszeit im Frühling an der ligurischen Küste gibt ihr den künstlerischen Freiraum, den sie benötigt, während sich das Kindermädchen um Doras achtjährigen Sohn Loris kümmert. In ihren Gedanken taucht sie in das Leben von Constantin Avis ein, Episoden, Musik und Worte verbinden sich in der Gegenwart zu der Geschichte, die sie nun endlich niederschreiben kann. Dana Grigorceas Sprache ist leicht wie ein italienischer Frühlingstag und lebhaft, wie New York in den 1920er Jahren.

Fazit

Dana Grigorceas Roman „Die nicht sterben“ hat mich 2021 begeistert und ich wartete schon mit gespannter Vorfreude auf diesen neuen Roman. Analog zum Thema, was Kunst wirklich ist, frage ich mich gerade, wo die Grenze zwischen Unterhaltungsroman und Gegenwartsliteratur liegt, denn dieser neue Roman geht meiner Meinung nach leider nicht über die Stufe Unterhaltungsroman hinaus. Es ist ein angenehm zu lesender Roman auf zwei Zeitebenen, der biografische Fakten aus dem Leben des rumänisch-französischen Bildhauers Constantin Brâncuși in eine fiktive Romanhandlung einbettet. Romane dieser Art sind zur Zeit ein sehr beliebtes Genre, es kommen viele davon auf den Markt, und so wird auch dieses Buch begeisterte Leserinnen finden – ich hatte mehr erwartet.

Kantika – Elizabeth Graver

AutorElizabeth Graver
Verlagmareverlag
Datum20. Februar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten386
SpracheDeutsch
ÜbersetzungJuliane Zaubitzer
ISBN-13978-3866487109

„Es ist die schöne Zeit, die Zeit der ausgebreiteten Flügel, der Freudensprünge und offenen Türen, das Leben ein haltloser Fluss von hier nach dort. Es ist die vorgedankliche Zeit, die Welt noch nicht als Listen wahrgenommen, nicht als Rückblick oder Futur, sondern als inbrünstige Musik – kantas, singen.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Rebecca wächst in Istanbul behütet und finanziell privilegiert auf, ohne dies wirklich zu bemerken. Bis sich am 14. November 1914 alles ändert. Die Familie wird gezwungen, nach Spanien auszuwandern, wo sie in Barcelona einen Neubeginn versuchen. Bisher Inhaber eines Textilunternehmens ist Alberto, Rebeccas Vater und das Familienoberhaupt nun Hausmeister der kleinen Synagoge. Rebecca ist bereits vierundzwanzig Jahre alt, als sie endlich den größten Wunsch ihrer Eltern erfüllt, sie heiratet. Bald darauf ist sie eine junge Witwe mit zwei Kindern. Auch die zweite Ehe wird von der Familie arrangiert und führt sie nach New York. Die Zeiten sind für Juden gefährlich geworden und diese Heirat ist die Hoffnung für die Familie auf eine Einreise in die sicheren Vereinigten Staaten.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um Kulturen, Religionen, Heimat und den Verlust der Heimat, Vertreibung, Familiengefüge, Frauenleben.

Erzählform und Sprache

Da dieser Roman fiktiv-biografisch ist und die Familiengeschichte der Autorin betrifft, gibt er wesentliche, interessante Einblicke in das Leben der jüdischen Familien in dieser Zeit. Im personalen Mittelpunkt der Geschichte steht Rebecca, der Großmutter der Autorin. Geschildert wird ihr wechselvolles Leben mit schicksalhaften Wendungen und großen Veränderungen. Sie ist beeindruckend, einerseits ist sie eine selbstbewusste Frau, die eigenständig für sich und ihre Kinder sorgt, andererseits wird sie durch den Vater als Oberhaupt der Familie zwei Mal in reine Zweckehen getrieben. Interessant werden die späteren Kapitel, wo der personale Mittelpunkt wechselt und Luna, die Tochter von Sam, Rebeccas zweitem Ehemann, Rebecca aus ihrer Sicht schildert. Es sind die Menschen, die im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen. Interessant sind die Schilderungen, die Geschichten und dieses leichte Wechseln zwischen den Religionen Judentum und Christentum am Beispiel von Rebecca in Konstantinopel. Leider rückt mit Barcelona die Situation der Familie immer mehr in den Vordergrund und wir erfahren  wenig über die allgemeine, gesellschaftspolitische Situation in Barcelona und noch weniger über das Leben in der lebhaften, interessanten Stadt New York der 1930er Jahre. Die Sprache ist angenehm zu lesen und passt zu diesem epischen Generationenroman

Fazit

In Generationenroman über Heimat und Verlust der Heimat, über Hoffnung und Neubeginn in fremden Ländern, anderen Kulturräumen und neuen Sprachen. Obwohl in den Traditionen im Familiengefüge die Männer, Väter und Ehemänner, die Entscheidungen treffen und bestimmen, was geschieht, sind es in dieser Geschichte die Frauen, jede auf ihre Art stark und mutig, die sich den immer wieder neuen Herausforderungen des Lebens stellen.

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