„Der entmündigte Leser“ Für die Freiheit der Literatur – Melanie Möller

AutorMelanie Möller
Verlag Galiani-Berlin
Erscheinungsdatum 11. April 2024
FormatKindle-Ausgabe
Seiten240 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3869713021

„Also bitte gar keine Kompromisse, keine Änderungen an den Texten, schon gar nicht bei toten Autoren, die sich nicht wehren können. Wer etwas nicht lesen möchte, darf es gerne lassen oder entsprechend kommentieren.“ (Zitat Pos. 260)

Thema und Inhalt

Eine Streitschrift für die Freiheit der Literatur, so nennt die Autorin dieses Fachbuch. Schon das Cover zeigt aussagekräftig, worum es geht. Es ist ein eindringliches Plädoyer für die Freiheit der Kunst, hier die Freiheit der Literatur, und gegen alle zeitgeistigen Wokeness-Bestrebungen, Ecken und Kanten in aktuellen Texten zu entschärfen, klassische Texte nachträglich umzuschreiben. Derartige Eingriffe, die von den Lesern selbst nicht gewünscht werden, sind Versuche, so Marlies Möller, aus mündigen unmündige Leser zu machen. „In Sachen Kunst darf es keine Abstriche geben. Wer verwässert, entmündigt den Leser – und der ist schlauer, als man denkt.“ (Zitat Pos. 95)

Umsetzung

Melanie Möller ist Professorin für Latinistik an der Freien Universität Berlin. Daher stellt sie in neun Kapiteln jeweils einen griechischen oder römischen Autor der Antike einem klassischen oder modernen Autor oder Autorin gegenüber. Wobei das erste Kapitel hier eine Ausnahme macht, denn hier geht es um die großen Epen Homers einerseits und die Bibel andererseits. Es sind generell spannende und ungewöhnliche Gegenüberstellungen, wie zum Beispiel Catull und Casanova, Euripides und Annie Ernaux. Besonders interessant ist natürlich die jeweilige Begründung und Herleitung der Kombination und das Aufzeigen der literarischen und thematischen Gemeinsamkeiten. Mein persönliches Highlight ist das Kapitel 9: Sappho und Astrid Lindgren.

Mit Textbeispielen stellt Melanie Möller in allen Kapiteln, durchaus ironisch, die theoretisch-rhetorische Frage, ob nicht doch an den Zeitgeist angepasst werden sollte, besonders auch, was das Frauenbild betreffe, um zu begründen, warum genau das falsch wäre. Ihre Argumente und Ausführungen belegt sie durch Textzitate und fachlich fundierte Einblicke in das Leben, die Gesellschaft und die Gedankenwelt jener Zeit, in welcher die besprochenen Werke jeweils entstanden sind. Immer wieder erinnert sie daran, das reale Leben des Schriftstellers von seinem fiktiven Werk und den ebenso fiktiven Figuren zu trennen. So ergibt sich auch ein sehr interessanter Streifzug durch die Welt der Literatur und zum Beispiel auch die Problematik, die entsteht, wenn wir mit dem heutigen Wissensstand und Denkart literarische Frauenfiguren, Ausdrücke, Wortwahl, Sprache aus längst vergangenen Zeitaltern und völlig anderen Kultur- und Gesellschaftskreisen woke interpretieren wollen.

Fazit

Das vorliegende Buch ist kein Sachbuch, sondern definitiv ein Fachbuch. Es ist sicher eine Herausforderung für Leser wie mich, bei denen Latein und die Werke des klassischen Altertums (mit einer Ausnahme, Homers Illias, da mich der Themenkreis Troja nach wie vor fasziniert) mit dem Ende der Gymnasialzeit geendet haben. „Die Studie bemüht sich lediglich um einen weiträumigen Gang durch die Zeiten, um der Geschichte der Gewalt gegen die (in diesem Fall primär literarische) Kunst historische Tiefe und Breite zu verleihen.“ (Zitat Pos. 306). Dies ist der Verfasserin mit dieser lesenswerten Streitschrift gelungen.

Polulärer Realismus, unsere gegenwärtige Wohlfühl-Literatur?

Ich habe mich wieder mal mit Literaturkritik und dem aktuellen Buchmarkt beschäftigt, sicher auch angeregt durch die Leipziger Buchmesse, die ich jedoch nicht besucht habe. Ich habe mich allerdings durch die Artikel der Verlage gelesen und jetzt ein kritisches Essay von Moritz Baßler gelesen, „Midcult“.

„Dieser Neue Midcult ist also zwar nicht mehr ganz der alte, doch nutzt er mit dem populärrealistischen Erzählen (verständliche Sprache, nachvollziehbare Handlungen, Identifikationsfiguren) und ethisch-sozial bedeutsamen Themen durchaus vergleichbare Mittel, um seinen Anspruch, bedeutende Literatur zu sein, zu erheben und zu untermauern. Auch ist sein Irrtum der gleiche: dass nämlich Leiden und Probleme, wie relevant auch immer, ohne formale Durcharbeitung identifikatorisch mit Kunstanspruch dargeboten, zu etwas anderem führen würden als – Kitsch. Dieser Kitsch entsteht, wenn immer schon vorausgesetzt und der Zielgruppe klar ist, was relevant und richtig ist; wenn die entsprechende Arbeit nicht geleistet wird, eine Arbeit an Form und Kontext.“ (Zitat aus „Der Neue Midcult von Moritz Baßler, Untertitel: Vom Wandel populärer Leseschaften als Herausforderung der Kritik, 28.6.2021, (erstmals erschienen in: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 132-149).“

Auch wenn ich mit einigen kritischen Aussagen dieses Artikels als einfache Leserin nicht übereinstimme, ich halte die international erfolgreiche Erzählprosa nicht durchwegs für Wohlfühl-Literatur (Knausgard, Murakami, echt jetzt?), so vermisse auch ich eine Themenvielfalt abseits der aktuell so beliebten autofiktionalen Erzählstimmen (Aufarbeitung der Jugend, Eltern, Großeltern, Brüder usw.) und der Themen Vergangenheit im NZ-Regime, Migration, neue und alte Heimat, Diskriminierung. So gesehen bin ich gespannt auf die Titel der Longlist 2023.

FRAUEN LITERATUR: Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt – Nicole Seifert

AutorNicole Seifert
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 9. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462002362

„Mehr Literatur von Frauen zu lesen, von Schwarzen Menschen, von People of Color, von queeren und anderen marginalisierten Menschen wird an sich nichts an den beschriebenen strukturellen Missständen ändern. Aber es ist eine sehr gute Möglichkeit, das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und Schieflagen zu entwickeln oder zu schärfen.“ (Zitat Seite 57)

Thema und Inhalt

In diesem Sachbuch zwischen Literaturwissenschaft, den Büchern in den Regalen der Buchhandlungen und den Rezensionen in den Medien geht es um das Thema Frauen und Literatur, nicht zu verwechseln mit dem immer wieder anzutreffenden Genre „Frauenliteratur“, ein Begriff, der unnötig ist und endlich gestrichen werden sollte.

Umsetzung

In sieben Kapiteln, jedes mit einer unterschiedlichen Problematik, wird das sehr komplexe Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet, untersucht, dokumentiert. Es sind die Fragen, die sich die Autorin nach der Präsenz der von Frauen geschriebenen Literatur in allen Bereichen, die mit Büchern und Lesen zu tun haben, stellt.  Das achte Kapitel stellt die Frage, wie es nun weitergeht und schließt mit einem Fazit. Ein Quellenverzeichnis und eine Leseliste, in der alle erwähnten Werke aufgelistet sind, ergänzen dieses interessante, klar formulierte und sehr gut zu lesende Buch. Ein Jahr lang wollte die Autorin ausschließlich Literatur von Frauen lesen, es wurden dann drei Jahre. Ihre persönlichen Erfahrungen daraus: „Wir verpassen das Beste, wenn wir in unseren Bücherregalen nicht endlich eine Frauenquote einführen.“

Fazit

Dieses Buch regt zum Nachdenken an, inspiriert und wird sicher auch die jeweilige persönliche Wunsch-Leseliste erweitern. „Dass immer wieder dieselben Titel genannt und dadurch in ihrer Bedeutung übersteigert werden, ist eine traurige Einengung der Auseinandersetzung mit Literatur. Es ist Zeit, dass Bewegung in die Sache kommt.“ (Zitat Seite 52). Dieses Buch ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.