Möglichkeit der Liebe – Birgit Rabisch

AutorBirgit Rabisch
VerlagFISCHER Taschenbuch
Datum15. Juni 2015
AusgabeTaschenbuch
Seiten112
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3596302680

„Angenehm zu wissen, daß er in ihr nur die anregende Gesprächspartnerin sieht wie sie in ihm den anregenden Gesprächspartner.“ (Zitat Seite 19)

Inhalt

Vera, einundvierzig Jahre alt, eine erfolgreiche Lektorin, hat sich ihr Leben ohne Männer  gut eingerichtet, alleine und für sich selbst verantwortlich. Seelische Blessuren vergangener Erfahrungen bleiben tief in ihr vergraben. So genießt sie ihre besondere Freundschaft mit dem Astronomen Armin, den sie seit der Kindheit kennt. In diesem Frühjahr treffen sie sich an seinem Bootsplatz und er lädt sie ein, ihren nächsten Urlaub gemeinsam mit ihm auf seiner BONDESTAVE auf dem nordfriesischen Wattenmeer zu verbringen. „Stell dir vor: Eine Hallig, ganz bedeckt mit einem lila Teppich, leuchtend im Sonnenschein, dunkelviolett unter den Schatten der ziehenden Wolken.“ (Zitat Seite 40) Schließlich sagt sie zu, sieben Tage, danach Philippinen. Doch das lila Meer der Hallig, das Sommermeer vieler Vogelarten, dazu Nähe ohne Druck – so viele Eindrücke, so viele Möglichkeiten.

Thema und Genre

In diesem Roman, 1998 in der Rubrik „Die Frau in der Gesellschaft“ des Fischer Taschenbuch Verlages erschienen, geht es um eine Frau im mittleren Lebensalter, erfolgreich und auf Grund prägender Erfahrungen von ihrem Singleleben überzeugt. Themen sind Literatur und Verlagswesen, Beziehungen und natürlich das Wattenmeer.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte beginnt mit Vera, ihrem Tagesablauf, einfache, normale Tätigkeiten, doch alles ist in ihren Gedanken mit Literatur hinterlegt. Sieht sie am Himmel rosa Wolken, überlegt sie, welche Geschichte sich daraus ergeben könnte, ihr Leben erfasst sie als mögliche Szenen eines Romans und Worte sind ihre Barriere gegenüber ihren Gefühlen. Die Handlung verläuft chronologisch, Vera und Armin im Präsens, doch diese Ebene fließt, unterbrochen von Abschnitten, Veras Gedanken und Erinnerungen, die Sprache wechselt ins Imperfekt, dazu Texte im Text, neue Varianten, neue Geschichten. So gelingt es der Autorin, auf diesen im Grunde wenigen Seiten eine Fülle unterschiedlicher Informationen in die Handlung einzubinden, bevor die Reise Tag für Tag erzählt wird. Die Schilderungen der beeindruckenden Schönheit, aber auch der Unberechenbarkeit der Natur der Halligen und des Wattenmeers sind ein eindrucksvoller Teil dieser Geschichte. Es ist unglaublich, wie es Birgit Rabisch gelingt, mit ihrer klaren, knappen Sprache solche Bilder zu malen.

Fazit

„Ist Freiheit ein Ersatz für Liebe?“ (Zitat Seite 42). Dieser lesenswerte Roman ist eine der möglichen Antworten auf diese Frage.

Wackelkontakt – Wolf Haas

AutorWolf Haas
VerlagCarl Hanser Verlag
Datum9. Januar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3446282728

„Sie vermutete, Madrisa hätte ihr sagen wollen, man weiß nie, was geschrieben steht, bevor man den letzten Satz gelesen hat. Bevor man am Ende des Buches angekommen ist.“ (Zitat Pos. 2474)

Inhalt

Seit Franz Escher, von Beruf Trauerredner, zu seinem neunzehnten Geburtstag sein erstes Puzzle bekommen hat, tausend Teile, kamen viele weitere dazu. An diesem Tag, über dreißig Jahre später, wartet er auf den Elektriker. Die Wartezeit vertreibt er sich mit dem Puzzle „Die große Welle“, fünfhundert Teile. Das Puzzle ist fertig, der Elektriker noch nicht da, also greift er zu dem Roman, den er am Vorabend zu lesen begonnen hat, ein Mafia-Roman, sein bevorzugtes Genre. Elio Russo, ein junges Mitglied der Mafia, wurde zum Kronzeugen. In einigen Tagen soll Russo mit einer neuen Identität in ein neues Leben in Deutschland entlassen werden, doch er ist überzeugt, nicht vor der Rache der Mafia sicher zu sein. Er kann nicht schlafen und liest weiter in einem Buch über einen Mann namens Escher, der auf den Elektriker wartet.

Thema und Genre

Eine Roman im Roman im Roman, parallel und gleichzeitig gespiegelt, spielt er mit den Möglichkeiten des Erzählens, OFF-ON, diffus wie ein Wackelkontakt.

Erzählform und Sprache

Was mit zwei parallelen Handlungssträngen beginnt, die Geschichte des Puzzle-begeisterten Eigenbrötlers Franz Escher und die Geschichte des jungen Kriminellen Elio Russo, entwickelt sich rasch zu einem spannenden, genialen Verwirrspiel, je weiter Escher und Elio lesen, desto mehr verwischen die Grenzen zur Realität, kommen sie einander im Gelesenen näher, bis sie rasant durch die aktuellen Ereignisse gleiten. Franz Escher denkt über die Formulierungen seiner Trauerreden nach: „Es ging darum, mit seinen Worten den Übergangsbereich zu berühren. Die unsichtbare Nahtstelle zwischen den Welten des tatsächlich Geschehenen und des möglich Gewesenen.“ (Zitat Pos. 1725) Genau darum geht es auch in diesem Roman.

Fazit

Dieser Roman ist eine Wundertüte aus vielen Geschichten, Kriminalroman, Lebensgeschichte, Liebesgeschichte und ein spannendes, amüsantes Verwirrspiel zwischen Romanfiguren und  Erzählebenen, überraschend bis zum letzten Satz.

Im Schnee – Tommie Goerz

AutorTommie Goerz
VerlagPiper Verlag
Datum10. Januar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten176
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492073486

„Und er saß noch hier und ließ seine Gedanken im Halbschlaf treiben, hierhin und dorthin, vor und zurück, nein, eigentlich nur zurück.“ (Zitat Pos. 830)

Inhalt

Max ist über achtzig Jahre alt, er ist in Austhal geboren, aufgewachsen und hier geblieben. Die Läden haben längst für immer zugesperrt, es sind kaum mehr Höfe bewirtschaftet. Max steht am Fenster und schaut dem Schnee beim Herabfallen zu, denkt an seine Apfelbäume, die im Frühjahr wieder blühen werden und im Herbst Äpfel tragen. Es hätte wieder ein schöner Tag werden können, wenn nicht plötzlich das Totenglöckchen für Georg geläutet hätte, für Schorsch, seinen bester Freund, und Max weiß, dass für ihn ohne diese besondere Freundschaft die Welt eine andere geworden ist.

Thema und Genre

In dieser Geschichte geht es um das Erinnern, um das einfache Dorfleben zwischen Vergangenheit und Gegenwart, um Verlust, Trauer und Freundschaft.

Erzählform und Sprache

Die Handlung schildert die kurze Zeit zwischen dem Tod von Schorsch und dem Begräbnis, die Nacht der Totenwache und den Tag danach. Ein chronologischer Rahmen, in dessen Mittelpunkt der ruhige, beschauliche Alltag von Max steht, und seine Gedanken. In seinen Erinnerungen und durch die Geschichten, die von den Alten während der Totenwache erzählt werden, wird das einfache Leben in diesem Dorf lebendig, die Veränderungen zwischen damals und heute, der Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft, wenn bei er Kartoffelernte alle zusammenhalfen, und auch, wenn es darum ging, über welche Vorkommnisse beharrlich geschwiegen wird.

Fazit

Es ist eine Geschichte der leisen Töne, mit einer besonderen Erzählsprache, die durch ihre schnörkellose, eindringliche Tiefe die perfekte Ergänzung zum Inhalt bildet, ein beeindruckendes Leseerlebnis.

Putzfrau bei den Beatles – Birgit Rabisch

AutorBirgit Rabisch
Verlagduotincta GbR
Datum14. März 2018
AusgabeBroschiert
Seiten168
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3946086307

„Alle vier nicken. 275 Jahre geballte Lebenserfahrung finden, dass die Jugend einen guten Vorschlag gemacht hat.“ (Zitat Seite 49)

Inhalt

Die „Yellow Submarine“ ist eine renovierte, prächtige Gründerzeitvilla in Hamburg Eimsbüttel und die Fassade ist tatsächlich leuchtend gelb. John, Paul, George und Ringo nennen sich die vier älteren Herren, die in dieser Villa leben. Nach wie vor kritisch und oft unterschiedlicher Meinung zum aktuellen Zeitgeschehen und ebenso oft in Erinnerungen an die 1968 zurückblickend, verbindet sie eine lange Freundschaft und die gemeinsame, ebenso zeitlos lange Liebe zur Musik, besonders zu den Songs der Beatles. Als Jana, vierundzwanzig Jahre alt, an einem Ampelmast einen Zettel entdeckt, dass eine zuverlässige Reinigungskraft gesucht wird und das in der engen Nachbarschaft, ist es der perfekte Job für sie, denn sie will Schriftstellerin werden und träumt davon, einen erfolgreichen Debütroman zu schreiben. Nun ist sie bereits seit sechs Monaten Putzfrau bei den Beatles, doch es fehlen ihr zündende Ideen für ihrem Roman – bis ein Junge vor der Tür steht. Leander ist zwölf Jahre alt, laut Oma Monis Tagebuch ist Paul sein Großvater und Leander will bei ihm wohnen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Beatles, die 68er Bewegung und die Frage, wie die aktiven Jugendlichen von damals heute leben, zwischen Erinnerung und den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Es geht um lebenslange Freundschaften, das Zusammenleben von mehreren Generationen, die Konflikte, aber auch das voneinander Lernen. Gleich einem roten Faden zieht sich das Thema Schreiben und Schreibprozess durch die Geschichte.

Erzählform und Sprache

Die Sprache versteht es, sich den Ausdrucksformen der unterschiedlichen Figuren anzupassen und wirkt dadurch natürlich, die Sympathie des Lesers, der Leserin, für die einzelnen Charaktere verstärkend. Man kann sich sofort in jeden der Protagonisten hineinversetzen, in ihre Sicht der Dinge, denn im Zuge der Geschichte werden Ereignisse bekannt, die jede der Figuren tief geprägt haben. Die Geschichte wird chronologisch erzählt, aus wechselnden Perspektiven, mal ist es Jana, die ihre Sicht der Dinge und ihr Leben in der Ich-Form schildert, mal steht Leander im personalen Mittelpunkt und so bildet diese Geschichte ein trotz der Vielfalt der Themen überzeugendes Ganzes.

Fazit

Eine originelle und abwechslungsreiche Geschichte mit aktuellen Fragen und Themen. Witzige Szenen und überraschende Wendungen machen diesen Roman zu einem Leseerlebnis, auch 2025, und somit inzwischen 57 Jahre 1968.

Tod der Autorin: Ein Leben in elf Romanen – Birgit Rabisch

AutorBirgit Rabisch
Verlag‎Verlag duotincta GbR
Datum16. Dezember 2024
AusgabeTaschenbuch
Seiten384
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3946086772

„Sie blättert in ihren Romanen, liest sich fest, reißt sich wieder los, macht sich Notizen zu ihren Romanfiguren, nimmt eine Figur in die Liste auf, streicht sie wieder, überlegt es sich, nimmt sie doch auf, streicht eine andere, bis die Gästeliste für ihr Dinner 70 endlich fertig ist.“ (Zitat Seite 19)

Inhalt

Zu ihrem siebzigsten Geburtstag hat die Autorin eine Idee, ein neues literarisches Projekt, ein festliches Dinner in einem eleganten, schönen Rahmen. Als Gäste lädt sie Figuren aus ihren elf Romanen ein, sechsundzwanzig Figuren, die sie gerne sehen will, ohne Unterscheidung in Hauptfigur oder Nebenfigur. Nicht nach Roman, sondern bunt gemischt platziert sie ihre Romanfiguren an sechs Tische, geht im Laufe des langen Dinners von Tisch zu Tisch. Sie diskutiert mit ihren Figuren, erinnert sich gleichzeitig an die Zeit in ihrem Leben, als sie zu der jeweiligen Geschichte inspiriert wurde, die sie in ihren Romanen und durch ihre Romanfiguren erzählen wollte.

Thema und Genre

Die Autorin erklärt selbst, keine Autobiografie schreiben zu wollen, sondern Autofiktion, genau genommen eine Autorinnenfiktion. „Selbst wenn ich um Wahrheit bemüht über mein Leben schreiben würde, wäre es nur die Fiktion, die sich in meinem Erinnerungsprozess verfestigt hat.“ (Zitat Seite 134) Im Mittelpunkt ihrer Geschichten stehen die Menschen, ihre Gefühle, Liebe, Freundschaft, Verlust, in Verbindung mit zeitlos wichtigen Fragen aus den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Gesellschaftspolitik. Gleichzeitig geht es um das Schreiben selbst von der Idee bis zur fertigen Geschichte, um Erzählformen und Erzählperspektiven.

Erzählform und Sprache

Schon die Idee, prägende Ereignisse durch die Erinnerung der Autorin an die jeweils daraus entstandenen Romane und Figuren nochmals erlebbar zu machen, ist ungewöhnlich, originell und es macht Freude, diese Geschichte in Form eines Dinners mit vielen unterschiedlichen Tischgesprächen zu lesen. Gekonnt gibt Birgit Rabisch gerade so viel aus den elf Romanen preis, wie für die Gespräche mit den Figuren wichtig ist, um die Handlung auch für Menschen nachvollziehbar zu machen, welche keinen der zugrundeliegenden Romane gelesen haben. Die Erinnerungen der Autorin ergänzen diese Details und bieten so einen hervorragenden Einblick in die Tätigkeit von Schriftstellern, in das Schreiben, in die Entstehung und Ausformung von Romanfiguren. Natürlich sind die Figuren an die jeweilige Geschichte, Themen und Konflikte angepasst, die sie für uns spätere Leser erlebbar machen sollen, doch so wie hier in diesem besonderen Roman wirkt nichts konstruiert, man hat das Gefühl, die Figuren können und dürfen sich mit der Handlung entfalten, die auch nicht auf eine bestimmte Erzählperspektive festgelegt ist. Der Titel ist wohl eine Abwandlung der literaturtheoretischen These vom Tod des Autors und der Geburt des Lesers, im Sinne der Bedeutung, die ein Text erst durch die Gedanken des Lesers erhält. Der vorliegende Roman hat viele Facetten und Themen, ist für mich auch einer der unterhaltsamsten Rundgänge durch wichtige Grundlagen der Erzähltheorien, Fachwissen für literaturinteressierte Laien, knapp, interessant und lesbar präsentiert.

Fazit

Es macht Freude, dieses Buch zu lesen, selbst wenn man keinen der elf Romane von Birgit Rabisch kennt. Auf eine sichere Nebenwirkung sei jedoch hingewiesen: man wird ganz sicher Lust bekommen, den einen oder anderen Roman zu lesen, nachdem man die Figuren bei anregenden Tischgesprächen kennengelernt hat.

Über allen Bergen – Valentine Goby

AutorValentine Goby
VerlagList Hardcover
Datum28. November 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinMarlene Frucht
ISBN-13978-3471360699

„Ein Sonnenstrahl, die Sonne, die draußen auf den Schnee schien, der Schnee, der gleich von den Skiern zur Seite gedrückt werden würde, er musste die ganze Zeit daran denken.“ (Zitat Pos. 963)

Inhalt

Als Vadim verlässt er mit dem Zug Paris, als Vincent Dorselles trifft er in dem kleinen, abgelegenen Ort Vallorcine ein. Die klare, frische Luft der Natur zwischen den hohen, ihn tief beeindruckenden  Bergspitzen der Aiguilles Rouges lässt das Asthma des zwölfjährigen Jungen rasch verschwinden. Als er ankommt, ist das Bergdorf durch hohe Schneemassen von der Außenwelt getrennt. In der zehnjährigen Moinelle findet er bald eine Freundin, die ihn mit dem Alltag des einfachen Lebens in und mit der Natur vertraut macht. Bald fühlt er sich in der ruhigen Freundlichkeit seiner Gastfamilie zu Hause, das Weiß des Winters wird langsam zum Grün des Frühlings und zum Gelb des Sommers. Dann kommt der Herbst und die Realität erreicht auch diese kleine, abgeschiedene Gemeinde.

Thema und Genre

Dieser Coming-of-Age Roman spielt während des Zweiten Weltkriegs in einem zwischen hohen Bergspitzen versteckten Dorf nahe der Schweizer Grenze. Themen sind Familie, Freundschaft, Flucht, Erinnerungen, Einsamkeit und Phantasie, Landleben und die Natur im Laufe der Jahreszeiten.

Erzählform und Sprache

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen der zwölfjährige Vincent und die Menschen in diesem abgelegenen, von hohen Gipfeln umgebenen Bergdorf. Chronologisch führt uns die Autorin durch die Wochen und Monate, indem Vadim-Vincent als Ich-Erzähler uns seine Erlebnisse und Eindrücke schildert. Er lässt uns an seiner Gedankenwelt teilhaben, an seiner Phantasie, die alle Eindrücke und Gefühle in Farbe umsetzt. Als stiller Beobachter denkt er über die Menschen in dieser kleinen Dorfgemeinschaft nach, vor allem jedoch ist er tief beeindruckt von den bizarren, hohen Gipfeln, die das kleine Tal zwischen den bewaldeten Hängen umgeben und die mit den klaren Frühlingstagen immer sichtbarer werden. Auch wenn das eigentliche Thema, der Krieg und die Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten, im Hintergrund immer präsent ist, prägt es diese Geschichte nicht. Hier geht es tatsächlich um die Eindrücke eines zwölfjährigen Jungen aus der Großstadt Paris, der heimlich und mit einer neuen Identität in ein entlegenes Dorf in den Bergen gebracht wird, um in Sicherheit zu sein. Die schnörkellos-klare Ausdrucksform der Sprache ist angenehm zu lesen und passt zum Alter des Ich-Erzählers.

Fazit

Es sind die einfühlsamen und eindrücklichen Beschreibungen der Menschen und die beeindruckenden, anschaulichen Stimmungsbilder der großartigen Natur dieser Bergwelt, die den besonderen Charme und Sog dieses Romans ausmachen.

Kafkas Sohn – Szilárd Borbély

AutorSzilárd Borbély
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum26. März 2017
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten200
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHeike Flemming
Laszlo Kornitzer
ISBN-13978-3518425909

„Alle Gestalten, denen ich während des Schreibens begegnet bin, alle Figuren meiner Schriften irrten durch das Nichts, und ich versuchte sie aus ihm herauszuführen.“ (Zitat Seite 138, Kafkas vierzigster Geburtstag)

Inhalt

In diesem Romanfragment aus einzelnen Prosatexten nähert sich ein junger, osteuropäischer Schriftsteller seinem berühmten Vorbild Franz Kafka an, nicht nur dem Schriftsteller, sondern vor allem dem Menschen, dessen Gefühle und Erfahrungen er auch in sich spürt und teilt. So spaziert er immer wieder an Kafkas Seite durch dessen Prag, schafft eine imaginäre Gegenwart, in der sich Kafkas Schilderungen und Erfahrungen mit den eigenen verbinden.  Er beschreibt Kindheitserinnerungen, die geprägt sind durch eine problematische Vater-Sohn-Beziehung, und die stete Suche von eigenen Ausdrucksformen als Schriftsteller.

Thema und Genre

Kafkas Sohn sind Prosatexte, in deren Mittelpunkt der Schriftsteller Franz Kafka steht. Es ist ein unvollendeter Roman aus dem Nachlass von Szilárd Borbély, auch dies eine Parallele zu Franz Kafkas Romanen. Kernthemen sind Reisen und Wege, schriftstellerische Ausdrucks- und Erzählformen, Väter und Söhne, Glaube, Religion und die intensive Suche nach sich selbst, wenn man sich im eigenen Leben immer wieder verliert.

Erzählform und Sprache

Die einzelnen Geschichten sind in sich abgeschlossene Episoden, denen teilweise Kafkas Erzählungen zugrunde liegen, seine Briefe und seine Tagebuchaufzeichnungen. Die Reihenfolge ist keiner Chronologie unterordnet, manche Episoden wiederholen sich, aber aus neuen Gesichtspunkten, abgewandelt, verfremdet. Auch in dieser Erzählform in Fragmenten spiegelt sich Franz Kafkas Art zu schreiben wider. Schon der Titel lässt verschiedene Deutungen zu, Szilárd Borbély sieht Franz Kafka als prägendes schriftstellerisches Vorbild und sieht sich gedanklich manchmal als Kafkas Bruder, aber auch als Kafkas Sohn. Doch auch Franz ist Kafkas Sohn, Sohn von Hermann Kafka, der seinem Sohn Franz, den er nie verstanden hat, streng und kritisch, beinahe ablehnend, gegenüberstand, eine Beziehung, die das schriftstellerische Schaffen von Franz Kafka entscheidend geprägt hat.

Bewusst wurde in der vorliegenden Übersetzung auf alle Interpretationsmöglichkeiten verzichtet, die Übersetzung richtet sich nach dem Manuskript in Originalsprache, Kafka Fia, und unvollendete Sätze und Texte blieben unvollendet, scheinbare Unstimmigkeiten wurden ebenfalls nicht verändert. Dies geht aus den Kommentaren von Heike Flemming und Laszlo Kornitzer im Anhang hervor.

Fazit

Dieses Buch ist eine ungewöhnliche, intensive Auseinandersetzung mit Franz Kafka, seinem Leben und Werk, in einer interessanten, auch sprachlich spannenden Erzählform.

Vierundsiebzig – Ronya Othmann

AutorRonya Othmann
VerlagRowohlt Buchverlag
Datum12. März 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-349800361

„Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist. Die Sprachlosigkeit ist das Unbeschreibliche, und sie ist selbst Teil des Textes.“ (Zitat Pos. 93)

Inhalt

Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann ist in Deutschland aufgewachsen, als Tochter eines êzîdischen Vaters und einer deutschen Mutter. Im August 2014 ist sie einundzwanzig Jahre alt, als sie vor dem Fernsehgerät sitzt und versucht, in Gedanken und Worte zu fassen, was an diesem 3. August 2014 in Shingal geschehen ist, der vierundsiebzigste Ferman, ein Massaker durch IS-Kämpfer an den andersgläubigen Jesiden. Menschen, die fliehen konnten, kommen in den Bergen von Shingal um, die Männer, die im Vertrauen auf ihre arabischen Nachbarn geblieben sind, werden getötet, junge Frauen und Kinder werden auf Sklavenmärkten verkauft. Nach und nach ergibt sich das Bild dieser Ereignisse und der Verbrechen während der Besatzungszeit durch den IS aus den vielen Gesprächen, die sie führt, Camps, die sie besucht, in denen auch Familien leben, die vor dem IS aus Shingal geflohen sind, Fragen, die sie stellt und die doch keine Fragen sind, als sie 2018 in den Irak fliegt und ihre Familie in Silêmanî in der Region Kurdistan besucht. Am ersten Oktober 2022 fliegt sie mit ihrem Vater wieder nach Erbil und gelangt auf abenteuerlichen Wegen von Bagdad über Mossul nach Shingal und damit findet dieser Roman ein formales Ende, auch wenn die Geschichte nicht abgeschlossen werden kann.

Thema und Genre

In dieser literarischen Form eines dokumentarischen Romans zwischen Fakten, Autobiografie, Erinnerungen und tagebuchartigen Aufzeichnungen geht es um den Genozid an den Jesiden, den Versuch, die Ereignisse in einen Text zu fassen, das unvorstellbare Leid, welches der IS über die Menschen in dieser Region gebracht hat und das sich für die Autorin nicht in Worte fassen lässt, aber auch um die karge Schönheit des Landes, um die gelebte Gastfreundschaft und darüber, was Familie bedeutet.

Erzählform und Sprache

Die Texte sind Fragmente, Ronya Othmann schreibt, fügt Worte zu Sätzen zusammen, die Gedanken und Eindrücke kommen und gehen. Wiederholt nähert sie sich und ihre Texte dem Jahr 2014 an, recherchiert in der Bibliothek, liest die Berichte, liest und hört ihre Aufzeichnungen, ergänzt mit ihren persönlichen Erinnerungen, nicht immer chronologisch, aber durch Jahreszahlen und Datumsangaben zuordenbar. Immer wieder die Frage an sich selbst als Schriftstellerin, wie sie über all das Unfassbare schreiben soll, das passiert ist. Sie bezweifelt das erzählerische „Ich“, da sie dies nicht persönlich erlebt hat, die Alltäglichkeiten, die sie beschreibt, eingebunden in die Texte über die Verbrechen an den Êzîden, über die sie aber schreiben muss, damit sie nicht vergessen werden. „Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt. Die verborgenen und aufklaffenden Lücken, nicht unter dem Text, sondern darin.“ (Zitat Pos. 5965)

Fazit

Vielfältig, literarisch ungewöhnlich, eine tief beeindruckende Leseerfahrung.

Eine Nebensache Adan- ia Shibli

AutorAdania Shibli
VerlagUnionsverlag
Datum29. Juli 2024
AusgabeTaschenbuch
Seiten128
SpracheDeutsch
ÜbersetzerGünther Orth
ISBN-13978-3293710177

„Und so kam es also, dass ich jenen Artikel las, an dem mich ein ganz bestimmtes Detail interessierte, nämlich das Datum des darin geschilderten Vorfalls.“ (Zitat Seite 65)

Inhalt

Die junge Ich-Erzählerin hat gerade einen neuen Job begonnen und ist auch in eine neue Wohnung gezogen. An die Checkpoints und Kontrollen durch Militärstreifen hat sie sich längst gewöhnt, daher wäre die Geschichte, die sie zufällig in der Zeitung liest, trotz der Tragik für sie nichts Außergewöhnliches gewesen. Was ihr jedoch sofort auffällt, ist das Datum, der 13. August 1949, an dem sechs Schüsse das Leben eines Beduinenmädchen gewaltsam beendet haben, denn am 13. August, genau fünfundzwanzig Jahre später, wurde sie geboren. Da sie generell unfähig ist, Grenzen zu erkennen, ist ihr sofort klar, dass sie wegen dieses besonderen Datums wieder einmal Grenzen überschreiten wird, denn sie will wissen, was damals wirklich geschehen ist und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit hinter der Geschichte des Mädchens.

Thema und Genre

Dieser Roman greift zeitlos brisante Themen auf, Gewalt an Frauen in Kriegszeiten, kriegerische Auseinandersetzungen, Einengung durch Kontrollpunkte und Gebietsgrenzen, Alltagsleben zwischen Palästina und Israel. Vor allem geht es um die Möglichkeiten des erzählenden Schreibens, um Wahrheit und Medienethik, besonders in der Kriegsberichterstattung.

Erzählform und Sprache

Adania Shibli erzählt diese Geschichte in zwei Teilen und wählt dafür auch zwei unterschiedlichen Erzählformen. Im ersten Teil berichtet ein auktorialer Erzähler über eine zur Grenzsicherung eingeteilte Einheit israelischer Soldaten am Rande der Negev-Wüste und den Ablauf der Ereignisse zwischen dem 9. und 13. August 1949. Im zweiten Teil beginnt eine junge Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht kennen, auf Grund eines Zeitungsartikels mit eigenen Nachforschungen, die sie bis an den Ort des damaligen Geschehens führen.

Trotz oder gerade wegen der für einen Roman relativ wenig Seiten ist dies eine Geschichte von hoher sprachlicher und inhaltlicher Dichte. Spannend sind auch besondere Parallelen, die nur wir Leser erkennen, da die Ich-Erzählerin gewöhnt ist, auf Details zu achten und diese in ihrer Schilderung auch immer wieder erwähnt. Die Sprache ist einfühlsam, poetisch und die Ich-Erzählerin überzeugend authentisch.

Fazit

Eine beeindruckende, auch in der Erzählform intensive Geschichte, in der es um wesentlich mehr geht, als das Einzelschicksal eines bis heute unbekannten Beduinenmädchens. Dieser Roman ist keine Nebensache, fiktiv an keine Grenzen gebunden, zeigt er die Auswirkungen von kriegerischen Auseinandersetzungen und Gewalt auf und regt zum Nachdenken an.
 

Die Wirtinnen“  von Silvia Pistotnig

AutorSilvia Pistotnig
VerlagElster & Salis Verlag
Datum9. Mai 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten360
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3039300464

„Nur nicht an das Orgelspielen und die Musik denken. Das war nichts, womit sich ein Essen auf den Tisch stellen oder ein Mann finden ließ.“ (Zitat Seite 62)

Inhalt

Es sind die Arbeit und die Verantwortung für das familieneigene Gasthaus in einem Kärntner Dorf, welche das Leben der beiden Frauen, Johanna und Marianne, ihre Tochter, prägen. Sowohl die hochbegabte Johanna mit ihrer Liebe zur Musik und zu den Tasteninstrumenten, als auch Marianne mit ihrer Affinität für Zahlen und Mathematik, haben keine Chance, ihre Träume und Wünsche an das Leben verwirklichen zu können. Mariannes Tochter, die junge, rebellische Getrud „Trudi“, schämt sich für ihr Zuhause in diesem in die Jahre gekommenen Familiengasthof und plant, dieses sofort nach der Matura verlassen, nach Wien zu gehen und dort zu studieren. Dieser Wunsch kann sich erfüllen, denn ihr älterer Bruder Thomas studiert bereits, nicht jedoch ihr Traum von einer Fußball-Karriere als Mädchen in diesen frühen 1990er Jahren. Noch aber lebt Trudi bei ihrer altmodischen, verschlossenen Großmutter Johanna und ihrer Mutter Marianne, die auf Grund der Arbeit im Gasthaus kaum Zeit für sie hat, und versucht, sich in dem eigenartigen, komplizierten Gefüge der Generationen ihrer Familie zurechtzufinden. „Kann mir irgendwer irgendwas erklären?“ (Zitat Seite 309)

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um traditionelle Rollen der Frau, Gehorsam und Pflichtgefühl. Diese starren Gefüge lassen keine Veränderungen und schon gar kein Ausbrechen zu, Begabungen und eigene Lebensträume sind unerfüllbare Wünsche, geopfert der Verantwortung für die Familie.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte erstreckt sich über die Jahre 1936 bis 2022 und ist in Kapitel eingeteilt, wobei jeweils eine der drei Frauen, Johanna, Marianne oder Gertrud, im personalen Mittelpunkt steht. Die einzelnen Erzählstränge der drei Hauptfiguren verlaufen in sich chronologisch, jedes Kapitel trägt als Überschrift den entsprechenden Namen und die Jahreszahl. Dadurch ergibt sich eine vielschichtige Handlung, sehr klar strukturiert und nachvollziehbar. Gleichzeitig wird die Geschichte dadurch packend, da sich Details, die wir als Leser bereits aus den Schilderungen der Geschehnisse in Johannas Vergangenheit kennen und über die in der Familie geschwiegen wird, für Marianne und Getrud erst viel später durch Antworten auf ihre Fragen zumindest teilweise enthüllen. Doch wichtige Ereignisse, besonders in Johannas Leben, bleiben ungesagt, dadurch können wir Johannas Verhalten besser verstehen, als ihre Tochter und Enkelin. Die Autorin verändert auch ihre Erzählsprache passend zur jeweiligen Zeit und Figur. So sehen wir mit Johannas Augen die Großstadt Wien im Jahr 1938, wo sie eine Stelle als Dienstmädchen antritt, und Trudi, oder wie sie genannt werden will, Geri, wird 1994 durch ihre Sprache sofort zur erfrischend unangepassten Jugendlichen, die sie ja auch ist.

Fazit

Eine facettenreiche Familien- und Generationengeschichte, in deren Mittelpunkt drei Frauen stehen, von denen jede auf ihre Art besonders ist, die sich jedoch auf Grund des Umfeldes und der Lebensumstände nicht so entfalten können, wie es ihren Begabungen und Wünschen entspricht. Skurrile Momente und die genaue, aber dennoch einfühlsame, liebevolle Zuwendung, mit der die Autorin auf ihre Figuren blickt, machen diese Geschichte zu einem überzeugenden Leseerlebnis.

Reichskanzlerplatz – Nora Bossong

AutorNora Bossong
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum12. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten296
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431900

„Sie war nicht einfach nur verliebt in diesen Mann, und ich habe erst später Worte dafür gefunden: Mit ihm glaubte sie in den Himmel aufzusteigen und alles darunter überließ sie der Hölle.“ (Zitat Pos. 1552)

Inhalt

1919 ist Hans Kesselbach zwölf Jahre alt, als er von seinem gleichaltrigen Schulfreund Hellmut Quandt in die Villa der Industriellenfamilie eingeladen wird und dessen Stiefmutter kennenlernt. Magda Quandt ist damals erst neunzehn Jahre alt, und obwohl Hans heimlich in Hellmut verliebt ist, beeindruckt ihn auch dessen junge, schöne Mutter. Als er diese nach beinahe zehn Jahren auf Grund eines schweren persönlichen Verlustes, der sie beide betrifft, wieder besucht, beginnen sie eine Affäre. Zwischen Hans und Magda entsteht eine Verbindung, die trotz aller Konflikte auch bestehen bleibt, als aus Magda Quandt Frau Magda Goebbels geworden ist und Hans diese Verbindung und die völlig veränderte Magda nicht verstehen kann. Hans verlässt Deutschland im Herbst 1938 und ist als deutscher Diplomat im Mailänder Generalkonsulat tätig. Er passt sich an, ist vorsichtig und versucht, sie möglichst unauffällig zu verhalten. „Weniges wollen wir so sehr wie betrogen werden, und Meisterschaft bedeutet ja nichts anderes, als zu wissen, wie man täuscht.“ (Zitat Pos. 2362)

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Roman, Fiktion mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, stehen die Menschen, Familiengefüge, Konflikte, zwischenmenschliche Beziehungen, Freundschaft und die Facetten der Liebe. Die Kernthemen persönliche Entscheidungen, die Möglichkeit, dass eine andere Wahl des Lebensweges das gesamte nachfolgende Leben vielleicht hätte verändern können, Schuld, Mitschuld und Mitwissen ziehen sich durch den gesamten Roman. „Es war ja nicht so, dass wir nichts sahen oder hörten oder wussten.“ (Zitat Pos. 1923)

Erzählform und Sprache

Die Handlung dieser Geschichte umfasst die Jahre 1919 bis 1945, doch es geht nicht um historisch bekannte Ereignisse und Fakten, sondern Nora Bossong will mit diesem Roman die Entwicklungen dieser Jahre aus der Sicht der Menschen, besonders ihrer beiden Hauptfiguren Hans und Magda, nachvollziehen und legt ihren präzise beobachtenden Blick auf die persönliche Haltung der Menschen. Magda Goebbels aus unterschiedlichen, nuancierten Blickwinkeln darzustellen, nahe an den bekannten Fakten, aber mit erzählerischer Freiheit, die sich aus einigen vagen Einträgen in Goebbels privaten Tagebüchern ergab, wonach Magda bereits während ihrer Ehe mit Quandt eine Affäre mit einem jungen Studenten hatte und diese Beziehung weiterführte, als sie bereits mit Joseph Goebbels zusammen war. Daraus entstand die fiktive Figur Hans Kesselbach, der die Ereignisse als Ich-Erzähler schildert, ergänzt durch seine Erinnerungen, seine Beobachtungen und die eigenen Gedanken, mit denen er sein Verhalten und auch das seiner Umgebung hinterfragt und die Entscheidungen, die sie treffen. Somit ist er die eigentliche Hauptfigur dieses Romans. Die Handlung verläuft chronologisch und die einzelnen Kapitel sind in übergeordneten Abschnitten zusammengefasst, die den jeweiligen Zeitrahmen angeben und die teilweise einige Jahre überspringen, da es kein historischer Roman ist. Auch die nachdenkliche, präzise Sprache, mit der Nora Bossong auf ihre Figuren blickt und ihnen folgt, ist interessant und packend zu lesen.

Fazit

Ein sehr kluger, vielschichtiger und auf Grund der Erzählform und der Figuren überzeugender Roman zwischen Fakten und Fiktion, in dessen Mittelpunkt die Menschen stehen, ihr Verhalten und die Entscheidungen, die sie treffen. Die Konflikte, Fragenstellungen und Themen sind gerade heute wieder von brisanter Aktualität und regen zum weiteren Nachdenken an. „ … und man entkommt nicht der Geschichte, die man selbst schreibt.“ (Pos. 3231)

Beteigeuze – Barbara Zeman

AutorBarbara Zeman
Verlagdtv Verlagsgesellschaft
Datum15. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423284158

„Und der Himmel ist still und das Meer ist still, nur mein Atem geht laut, und als ich mich umdrehe, schwankt der Boden ein bisschen unter dem Gewicht des Meeres und dem von mir.“ (Zitat Seite 19)

Inhalt

Theresa Neges ist vierzig Jahre alt und lebt mit ihrem fünf Jahre jüngeren Freund Josef, einem Austellungsarchitekten für Künstler, in einer kleinen Wohnung in der Wiener Taborstraße. Ursprünglich hat Theresa an der Wiener Angewandten Mode studiert, doch irgendwie hat sich ihr Leben in den Jahren sehr verändert. Seit drei Tagen hat sie wieder Arbeit gefunden, in einem Wiener Café, doch am liebsten lebt sie ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen, füllt den Tag mit spontanen Einfällen und wartet darauf, dass im späten Herbst ihr Lieblingsstern am Himmel auftaucht, Beteigeuze, rot leuchtend im Sternbild Orion.

Thema und Genre

Ein Roman in Fragmenten, Skizzen, Gedankenschnipseln. Es geht um Tagesabläufe und sich spontan ergebende, teilweise skurrile Ereignisse im Leben einer Vierzigjährigen, die beschlossen hat, die Medikamente abzusetzen, die sie auf Grund ihrer psychosozialen Beeinträchtigung nehmen sollte.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte versetzt uns in die innere Welt der Hauptfigur Theresa und so besteht eine Art von Handlung ausschließlich aus den vielen Bewusstseinsströmen Theresas. Auch Gespräche und Dialoge werden von Theresa zuerst in ihren Gedanken interpretiert, umformuliert und kommentiert, sie hört nur, was und wie sie es hören will. Auf mich wirkt diese Figur wie eine in die Jahre gekommene, tragische und deprimierende Pippi Langstrumpf, die sich ihre eigene Welt erschafft, in der sie sich bewegt, wie es ihr gerade passt. Von den Menschen in ihrem Umfeld erwartet sie, dass sich alle ihren skurrilen Ideen und ihrem eigenartigen Verhalten, das sie selbst oft lustig findet, unterordnen. Mich konnte diese Hauptfigur teilweise nicht erreichen. Da es sich bei der Erzählform ausschließlich um die Wiedergabe der Gedanken und inneren Monologe der Wienerin Theresa handelt, ist auch die Sprache entsprechend einfach, ergänzt durch Theresas Wissen zu Themen, die sie interessieren, Lexika-Einträge, die sie in ihren Gedanken wiederholt.

Fazit

Ich habe das Buch auf Grund der Inhaltsbeschreibung des Verlages und der begeisterten Besprechungen in literarischen Fachkreisen und Medien gekauft und kann diese Begeisterung nur bedingt nachvollziehen.

Die Projektoren – Clemens Meyer

AutorClemens Meyer
VerlagS. FISCHER
Datum28. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten1056
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3100022462

„Viele Jahre später, als der Cowboy mit seinem Wanderkino in einem alten roten Lastwagen durch endlose Steppen und fremde Berge fuhr, erinnerte er sich falsch, und er sah, wie Negosava und der Mann mit dem karierten Halstuch, der Cowboy der frühen Jahre, der er einmal gewesen war, im Bioskop von Split saßen und einen deutschen Indianerfilm sahen, doch was sind schon die richtigen Erinnerungen, und wo beginnen die Träume und wo die Märchen?“ (Zitat Pos. 2950)

Inhalt

Ein Mann, wegen seines karierten Halstuchs Cowboy genannt, der die Originalverfilmungen der Bücher von Karl May im Velebitgebirge 1962 miterlebte, kleine Rollen als Komparse hatte, schreibt ab 1970 selbst unter dem Pseudonym Fallmer erfolgreiche Westernromane. Viele Jahre später reist er bis in den Irak. So wie dem Cowboy folgen wir auch einem Hadschi, der seinen Sihdi sucht, durch die Zeiten der DDR, durch Titos Jugoslawien, die Jahre danach und durch die brutalen Kriege, die ab 1992 das Land Jugoslawien zerrissen. „Ich bin der, der ich bin. Der Hadschi, wie er im Buche steht, der den sucht der ihn einst ins Buch geschrieben hat.“ (Zitat Pos. 12851) Denn damit hat im Grunde alles begonnen, mit Karl May und seinen Geschichten, in der Indianer und Deutsche Blutsbrüder waren, dem wilden Kudistan geholfen wurde und Araber als edle Wüstensöhne auftraten.

Thema und Genre

Dieser epische Roman ist vieles, die Geschichte Europas zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert, ein spannender Abenteuerroman, eine Geschichte des Films, darin eingebettet Familien- und Generationengeschichten. Es geht um Zeitgeschichte, um politische Strömungen und um die grausame Zerstörung durch Kriege und vor allem deren Auswirkungen auf die Menschen, die davon betroffen sind.

Erzählform und Sprache

Im Hintergrund besteht eine chronologische Abfolge der Ereignisse, doch führen die einzelnen Episoden durch die Zeiten und die Kriege, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und zurück in eine andere Vergangenheit, ein Sprung über Jahre in eine wieder andere Jetztzeit. Man folgt den einzelnen Figuren, fiktiven und auch realen wie Lex Barker. Mit den Jahren tritt auch die nächste Generation der fiktiven Figuren auf, die völlig andere Wege gehen. Man blättert manchmal verwirrt einige Kapitel zurück, wer ist jetzt wer, bis man sich einfach auf diese weite, facettenreiche, oft surreale Geschichte einlässt, sich von ihr weitertragen lässt, staunend, Kopfschüttelnd-erheitert,und dann wieder zutiefst erschüttert durch die brutale Realität der Schilderungen der Kampf- und Kriegshandlungen. Im Roman tritt mehrmals die Figur des Fragmentaristen auf, der erzählt und erzählt, ganze Geschichten zwischen gestern, heute und morgen auf Wände schreibt und so liest sich auch dieser Roman. Die Sprache ist vielfältig, schildert ruhig fließend, poetisch, um dann, wenn es um den raschen Ablauf von Szenen geht, atemlos Wort um Wort, Wortgruppe um Wortgruppe zu einem einzigen Satz in Seitenlänge aneinanderzureihen.

Fazit

Ein roter LKW mit einem Wanderkino, ein uralter Mann am Steuer, so ziehen sich Filmrollen, Projektoren, Erinnerungen, Romane und Filme nicht nur durch Jugoslawien, sondern durch diese Jahrhundertgeschichte Europas. Eine literarische Achterbahnfahrt, auf die man sich bald einlässt, ohne viel zu fragen, sich beim Lesen von den Ereignissen weitertreiben lässt, neugierig dieser ungewöhnlichen, kreativen und auch sprachlich großartigen Mischung folgend, die uns Clemens Meyer hier vorsetzt.

Dorf ohne Franz – Verena Dolovai

AutorVerena Dolovai
VerlagSeptime Verlag
Datum12. Februar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten168
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3991200352

„Ich bin kein hübsches, zartes Pflänzchen, das fürsorglicher Pflege bedarf. Eher der robuste Dornenbusch, der kaum Wasser braucht und selten Blüten trägt.“ (Zitat Pos. 319)

Inhalt

Maria ist das mittlere Kind zwischen dem fünf Jahre älteren Bruder Josef und dem vier Jahre jüngeren Bruder Franz. Josef erbt den Hof und die Grundstücke, der als Kind zarte, von der Mutter deshalb verwöhnte Franz erhält Geld und verlässt das Dorf, so bald er kann. Von Maria, die ja nur ein Mädchen ist, wird erwartet, dass sie den Erbverzicht unterschreibt, möglichst rasch einen Ehemann im Dorf findet und fleißig für alle arbeitet. Während ihre Freundin Theresa auf ein Internat gehen darf und dadurch für immer der beklemmenden Enge des Dorfes und der ebenso eng denkenden Dorfgemeinschaft entflieht, bleibt Maria und führt ein Leben als pflichtbewusst mitarbeitende Hilfskraft, Pflegerin, Ehefrau und Mutter einer Tochter. „Ich habe der Rolle entsprochen, die erwartet wurde. Weil ich nicht auffallen wollte, weil ich es nicht konnte?“ (Zitat Pos. 963)

Thema und Genre

n diesem Roman geht es um Erinnerungen an ein hartes Leben voller Entbehrungen und Verzicht auf dem Land, in einer Familiestruktur mit dem beklemmend traditionellen Frauenbild, um unerfüllte Träume eines Mädchens, später Frau, das Dorf zu verlassen und ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen.

Erzählform und Sprache

Maria, die Hauptfigur, erinnert sich im Heute an ihr Leben zurück. Sie erzählt von ihrer harten Kindheit in den 1960er Jahren, von fehlender Mutterliebe, von der unerfüllten Sehnsucht nach einer Ausbildung. Sie schildert ihren Alltag in einem engen, von den Männern dominierten Familiengefüge und starren Dorfleben. Chronologisch folgen wir ihrem Weg als Kind, als junge Frau, als Ehefrau und Mutter. Langsam enthüllen sich einige Familiengeheimnisse, es wird klar, warum der jüngere Bruder Franz das Dorf verlassen hat, denn in Marias Erinnerungen taucht er trotz seiner Abwesenheit immer wieder auf. Die knappe und dadurch eindringliche Erzählsprache verstärkt in ihrer Ausdrucksweise die Hauptfigur und das Genre.

Fazit

Landleben ohne falsche Romantik, Frauenleben in einer Welt der Väter, Brüder und Ehemänner, fern jeder Freiheit und Gleichstellung. Man möchte die Hauptfigur abwechselnd mitfühlend in Gedanken umarmen, dann wieder eindringlich auf sie einreden, sie metaphorisch anschreien, dass es nicht so sein muss, dass sie die Dinge ändern könnte, ihr Leben selbst in die Hand nehmen, so wie sie es sich in all den Jahren wünscht. Eine beklemmende, gleichzeitig beeindruckende Geschichte.

Lauter – Stephan Roiss

AutorStephan Roiss
VerlagJung und Jung
Datum20. März 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990272930

„Ich wachte nicht gern auf, und beim Anblick des Abendhimmels, wolkenlos und indigoblau, fragte ich mich, ob jemals nichts gewesen war – und warum es nicht dabei geblieben ist.“ (Zitat Seite 111)

Inhalt

Leon ist gerade in Kuba, als er die Nachricht erhält, dass seine Mutter im Sterben liegt. Obwohl er sofort aufbricht, kommt er zwanzig Minuten zu spät. Er verliert sich selbst in Kindheitserinnerungen und Jugenderinnerungen, versteht sich selbst nicht mehr, seine Mutter ist in seinen Gedanken immer präsent. Auch seine Freundinnen Vio und Milena und die gemeinsame Noisepunk Band Graógrammán erreichen ihn nur teilweise, wenn er durch die Musik seinen Zorn ausleben kann. Die Einladung eines alten Freundes, der in Venedig lebt, schlägt er zunächst aus, bis er sich völlig unerwartet einer Krebsbehandlung unterziehen muss. Danach tritt er seine Reise nach Italien doch an. „Lass die Haare wehen, Kleiner“, pflegt Vio oft zu ihm zu sagen, doch so einfach ist das nicht.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Trauer, Verlust, Erinnerungen, eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung, um ungebremste Lebensfreude und um das Gegenteil davon, zornige Verweigerung. Wichtige Themen sind Freundschaft und Liebe, und vor allem Musik in vielen Facetten, die Erinnerungen an die leisen Lieder der Mutter und Leons harter, dröhnender Punkrock.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte spielt in der Gegenwart, es sind Episoden, die sich aneinanderreihen, immer wieder in die Vergangenheit abgleiten, in Kindheitserinnerungen, in prägende Erlebnisse einer wild gelebten Zeit. Lebhafte Schilderungen der Eindrücke und Beobachtungen des Alltags der Menschen, zuerst in Kuba, dann in Italien, der Musik, von langen, exzessiven Abenden und Nächten, werden ergänzt durch Gedankenströme und einer inneren, fassungslosen Einsamkeit, die gewollt auch ins Außen getragen wird. Eine Hauptfigur unserer Zeit, die auf der Suche ist. „Du wirst eine Antwort finden, allerdings nicht in deinen Gedanken. Für manche Probleme ist die Lösung keine Erkenntnis, sondern eine Entscheidung. Ein Wagnis.“ (Zitat Seite 128) Auch die Sprache ist genial, spielt mit den vielen Möglichkeiten des Erzählens und man folgt ihr ebenso gebannt, wie dieser Geschichte.

Fazit

Eine packende, begeisternde Mischung aus lebhaft, bunt, laut und sehr dunkel, mit vielen leisen, nachdenklichen Nuancen, großartig erzählt.

Die Herrin der Vögel – Bachtyar Ali

AutorBachtyar Ali
VerlagUnionsverlag
Datum19. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ÜbersetzungUte Cantera-Lang
Rawezh Salim
ISBN-13978-3293006140

„Wir waren das letzte Volk auf dieser Erde, das seine Häuser verlassen würde, um die entdeckten Kontinente neu zu entdecken und die bekannten Städte und Wälder neu kennenzulernen.“ (Zitat Seite 223)

Inhalt

Nach fünfunddreißig Jahren in Bagdad kehrt Fikrat Guldantschi in die Stadt seiner Jugend im kurdischen Norden des Landes zurück, da er ahnt, dass mit Saddam Hussein ein furchtbarer Krieg droht und er besonders seine jüngste Tochter Sausan schützen will. Doch schon nach wenigen Tagen fühlt sich Sausan in dieser ihr fremden Stadt wie im Exil. Von Geburt an zart und von schwacher Gesundheit, verbringt Sausan ihre Tage in der Bibliothek ihres Vaters und durch die Bücher lernt sie die beeindruckenden Wunder einer Welt kennen, die sie nie selbst wird bereisen können. Als sich zur gleichen Zeit drei Männer in ihre zarte Schönheit verlieben und um ihre Hand anhalten, schickt Sausan alle drei auf eine weite Reise. Sie haben acht Jahre Zeit, die Welt zu bereisen, ihr einhundert seltene Vögel aus verschiedenen Ländern mitzubringen und ihr von den Reiseerlebnissen in den fernen Ländern zu berichten. Einige Menschen der Stadt, besonders die Frauen, halten Sausan für eingebildet und hochnäsig, doch Sausan weiß genau, warum sie ihren drei Verehrern diese Aufgabe stellt.

Thema und Genre

In diesem poetischen Roman mit märchenhaften und magischen Elementen geht es um die Kraft der Bücher, um die Träume und Sehnsüchte der Menschen, um Heimat, HeimaFamilie und die Liebe, um die Schönheit der Natur, um die Freiheit des Reisens, um fremde Länder, aber auch um die Zeit der brutalen Kriege Saddam Husseins gegen die Kurden im Nordirak, um Umstürze, Gewalt, Clanfehden und das damit verbundene Leid.

Erzählform und Sprache

Auch in seinem neuesten Roman verbindet Bachtyar Ali seine wunderbare, lebhafte, magische Erzählkunst mit präzisen, realistischen Schilderungen von Politik, Unterdrückung und Tod. Es ist eine besondere Erzählform, die er für diese Geschichte wählt, die in der nahen Vergangenheit stattgefunden hat, und nun in der Tradition des Geschichtenerzählens geschildert wird, wobei die Beobachtungen der Menschen, die diese Geschichte einer großen Liebe von drei Männern zur selben Frau im nahen Umfeld miterleben und mit großem Interesse durch die Jahre verfolgen, sich in einem „wir“ des Erzählers ausdrückt. Die Sprache ist vielfältig, bunt, bildintensiv und blickt einfühlsam auf die Menschen, ihr Schicksal und ihre Beweggründe.

Fazit

Es gibt Bücher, die uns mit der Geschichte, die sie erzählen, auf eine magische Phantasiereise schicken, uns zum Träumen, aber auch Nachdenken anregen. Dies ist so ein Buch.

Das Wohlbefinden – Ulla Lenze

AutorUlla Lenze
VerlagKlett-Cotta
Datum17. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608986853

„Wenn sie an damals zurückdachte, schien ihr eigentlich alles wie ein seltsamer Traum, der auch anders hätte geträumt werden können.“ (Zitat Pos. 2360)

Inhalt

Die Content-Managerin Vanessa Schellmann wohnt im Wedding, doch gerade wurde ihre Wohnung gekündigt, dies bedeutet Wohnungssuche in Berlin. Sie besichtigt auch ein aufstrebendes Neubauprojekt auf dem Areal der ehemaligen Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz. Dort, im ehemaligen Postgebäude, hatte sich 1908 ihre Urgroßmutter eingemietet, die Schriftstellerin Johanna Schellmann, denn sie wollte ein Buch über die Heilstätten Beelik schreiben. Als Vanessas Makler hört, wer sie ist, übergibt er ihr einen alten, mit Schreibmaschine geschriebenen Text, den Johanna Schellmann verfasst hatte, der jedoch nie veröffentlicht wurde. So erfährt Vanessa nicht nur, wer ihre Urgroßmutter war, sondern auch deren besondere Beziehung und von Spiritualität geprägte Verbindung zu der Arbeiterin Anna Brenner, eine Patientin, die Johanna in den Heilstätten kennengelernt hat und die wegen ihrer Hellsichtigkeit und philosophischen Ansichten bewundert, aber auch gefürchtet wird.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um die für den Beginn des 20. Jahrhunderts moderne und besonders unter sozialen Aspekten fortschrittliche Einrichtung Lungenheilstätten Beelitz der Arbeiterwohlfahrt. Wetere Themen sind schreibende Frauen, sowie der zu dieser Zeit im Bürgertum beliebte Okkultismus mit Séancen und Medien. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Frauen auf der Suche nach Selbstbestimmung und ihrem eigenen Weg im Leben.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte spielt in Berlin auf drei unterschiedlichen Zeitebenen, die jeweils chronologisch geschildert werden, Johanna und Anna 1907 – 1909, Johanna 1967 und Vanessa 2020. Die Abschnitte, die in den Heilstätten Beelitz spielen, zeigen ein eindrucksvolles, lebendiges Bild dieser weitläufigen sozialen Einrichtung und der damit verbundenen Problematiken. Das Jahr 2020 beschreibt die reale Situation einer modernen Stadtentwicklung und Bebauung von nicht museal genutzten Teilen des Areals. Im gesellschaftspolitischen Mittelpunkt stehen jedoch die Frauen. Durch Generationen getrennt sind Johanna, Anna und Vanessa auf der Suche nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Die Sprache schildert ruhig und präzise, die Wechsel zwischen den Zeitebenen unterbrechen teilweise den Erzählfluss, Ortsangabe und Jahreszahl in der Überschrift erleichtern die Zuordnung.

Fazit

Ein interessanter gesellschaftspolitischer Generationenroman, ein anschauliches Bild der Entwicklungen und Bestrebungen jener Zeit. Das Wohlbefinden, Heilung durch Selbstheilung, ist nicht nur der medizinische Ansatz jener Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern wird durch unterschiedliche Blickwinkel des Erzählens auf die jeweilige Lebenssituation der Hauptfiguren zur Metapher für das Streben der Frauen unterschiedlicher Generationen nach Eigenständigkeit und persönlicher Freiheit.

Wo der Wind wohnt – Samar Yazbek

AutorSamar Yazbek
VerlagUnionsverlag
Datum19. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten192
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3293006089

„Der Wind hat einen Platz in seiner Seele, er glaubt, dass er ihn besser kennt als die Wolken, den Regen und den Schnee.“ (Zitat Pos. 1106)

Inhalt

Ali ist ein verträumter Junge, der Bäume über alles liebt und am liebsten mit dem Wind fliegen würde. Als er neunzehn Jahre alt ist, wird er eines Tages während der Feldarbeit von einer Patrouille aufgegriffen und zur Armee verschleppt. Nach einem Granateneinschlag liegt er in der Nähe eines großen Baumes irgendwo in den Bergen von Latakia und er spürt, dass etwas mit seinem Körper nicht in Ordnung ist. Der Blick auf den Baum führt ihn zurück in die Erinnerungen an seine Kindheit, an seine Mutter, seine Familie und an seinen geliebten Rückzugsort, sein Baumhaus in einer großen Eiche.

Thema und Genre

In dieser Episodengeschichte geht es um die grausame Sinnlosigkeit von Kriegen, und eine Reise durch die Erinnerungen eines jungen Mannes, ein verträumter Außenseiter, der sich nur ein ruhiges Leben gewünscht hatte.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird in Episoden erzählt und die Handlung ergibt sich aus den Gedanken und Erinnerungen der Hauptfigur. Ali versucht einerseits zu ergründen, was mit ihm geschehen ist, wobei sich mögliche Varianten der Realität mit Phantasievorstellungen mischen. Seine Erinnerungen verlaufen nicht unbedingt chronologisch, ergeben jedoch durch die genauen Schilderungen von vielen prägenden Details und Gefühlen nicht nur ein umfassendes Bild des Protagonisten, sondern zeigen auch das von Angst und Unterdrückung geprägte Leben in einem von Kriegen gespaltenen Land. Die Kraft der poetischen Sprache malt sofort Gedankenbilder und führt mitten in das Geschehen.

Fazit

Eine poetische, leise Geschichte zwischen Gegenwart und Erinnerung, die durch die tief beeindruckende Erzählsprache zu einem in den Gedanken umso lauteren Plädoyer und Aufschrei gegen Kriege und die sinnlose Gewalt und Machtgier wird, die unschuldige Menschenleben zerstört.

Anständige Leute – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum8. Juli 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerPeter Kultzen
ISBN-13978-3293006218

„Die Wege der Literatur und des Lebens neigen dazu, sich auf alle möglichen und unmöglichen Arten zu kreuzen. Und die dabei entstehende Reibung fördert vielfach beunruhigende, manchmal auch augenöffnende Wahrheiten zutage.“ (Zitat Seite 127, 128)

Inhalt

Fast dreißig Jahre ist es nun schon her, dass Mario Conde „El Conde“ den Polizeidienst verlassen hat. In diesem Jahr 2016 stehen zwei einmalige Ereignisse unmittelbar bevor: der amerikanische Präsident Barack Obama besucht Kuba, ein Besuch, der mit großen Hoffnungen verbunden ist. Auch die Rolling Stones setzen ein Zeichen und geben ein kostenloses Open-Air-Konzert in Havanna. Die Stadt vibriert vor Vorfreude und Aufregung. Da wird Reynaldo Quevedo, in den 1970ern einer der meistgefürchteten Politiker und bis meistgehassten Männer, ermordet aufgefunden und Mario Condes ehemaliger Kollege bei der Polizei Manuel „Manolo“ Palacios, braucht seine Hilfe bei den Ermittlungen. Gerade in diesen Tagen müssen die Ermittlungen besonders diskret erfolgen und es werden schnelle Resultate verlangt. Mario Conde sagt zu, obwohl er gerade einen Abendjob angenommen hat und mit eigenen Recherchen beschäftigt ist, die ihn in die Jahre 1909 und 1910 in Havanna zurückführen, zu einem jungen Ermittler, zu Morden im Rotlichtmilieu und zu der schillernden, charismatischen Legende Alberto Yarini Ponce de León.

Thema und Genre

In diesem gesellschaftskritischen, literarischen Kriminalroman geht es um die politische und gesellschaftliche Situation Kubas im Jahr 2016 und mehr als einhundert Jahre zuvor. Themen sind Korruption, Machtmissbrauch, kulturelle Diktatur, die Armut der Bevölkerung, unerfüllte Lebensträume, aber auch Freundschaft, Liebe und Lebensfreude. Die wichtigste Frage aller Figuren damals und heute ist die persönliche Definition des Begriffes Anstand und was es bedeutet, ein anständiges Leben zu führen.

Charaktere

Die Lebenseinstellung von Mario Conde wurde mit den Erfahrungen der Jahre und durch die genaue Beobachtung des Alltagslebens in Kuba nicht optimistischer, im Gegenteil. Kritisch verfolgt er die Vorgänge in seinem Heimatland und er lässt sich von der Euphorie im Vorfeld der beiden Großereignisse nicht überzeugen. „Marío Conde, der eingefleischte Pessimist, verfügte womöglich über ein zu umfangreiches historisches Wissen und war, was manche Dinge anging, so oder so von unheilbarem Misstrauen erfüllt, jedenfalls hatte er das Gefühl, sein Land genieße gerade lediglich eine kurze Verschnaufpause, nach deren Ende sich die Härte wiedereinstellen würde.“ (Zitat Seite 229)

Erzählform und Sprache

Padura erzählt auch in diesem Roman zwei Geschichten, die einander abwechseln. Um die Zuordnung einfach zu gestalten, wählt er für die Abschnitte rund um El Condes Ermittlungen im Jahr 2016, die innerhalb von wenigen Tagen stattfinden, nur die fortlaufende Nummerierung als Überschrift. Die Kapitel mit den Geschehnissen in den Jahren 1909, 1910 tragen Überschriften. Den unterschiedlichen Inhalten folgend, wird der aktuelle Handlungsstrang in der dritten Person geschildert, mit Marío Conde im personalen Mittelpunkt. Die historischen Ereignisse dagegen werden als Aufzeichnungen in der ersten Person erzählt. Es ist Paduras besondere Art zu schreiben, die begeistert, mühelos wechselt er zwischen umgangssprachlichen Dialogen, literarischen Schilderungen und philosophischen Gedankenströmen. Havanna im Ausnahmezustand durch Obamas Besuch – für Padura eine Gelegenheit, dies kritisch zu betrachten und durch die Gedanken und Beobachtungen Condes die Realität in Kuba zu beschreiben.

Fazit

Zwei facettenreiche Geschichten, lose vernetzt, ergeben interessante Einblicke in das Leben in Havanna 1910 und mehr als einhundert Jahre später, im wichtigen Jahr 2016 mit den zwei besonderen Großereignissen. Eine spannende, interessante Mischung aus kritischem Gesellschaftsroman, politischem Roman, historischem Roman und Kriminalroman in einer Sprache, die das Lesen zum Erlebnis macht.

Die ungeheure Welt in meinem Kopf – Hans Platzgumer

AutorHans Platzgumer
VerlagElster & Salis Wien
Datum29. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten180
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3950543520

„Ich hoffte, so viele Aufträge wie möglich zu kriegen. Sie sollten mich zurück in der Realität verankern.“ (Zitat Seite 98)

Inhalt

Sascha Konjovic, achtunddreißig Jahre alt, ist Taxifahrer in Wien, Nachtfahrer für Nachtschichten. Das Warten auf Fahrgäste lässt ihm genug Zeit, um Jazz zu hören und in Kafkas Tagebuchaufzeichnungen zu lesen. An diesem Montag, 2. Februar 2015, kommen  gegen 21 Uhr ein älterer Mann mit einem Aktenkoffer und eine deutlich jüngere Frau mit einem Rollkoffer aus dem Westbahnhof und steigen in sein Taxi. Es ist diese Frau, sie heißt Eugenie, wie die Tänzerin in Kafkas Aufzeichnungen, die Sascha nicht mehr aus dem Kopf geht. In seinem Wagen bleiben ein Hauch ihres Parfums zurück und eine lachsfarbene Rose, und er spürt, dass seine Geschichte mit Eugenie noch nicht zu Ende ist.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um unterschiedliche Wahrnehmungen von Wirklichkeit und Scheinwelten, um ein alltägliches Leben, in dem die Grenzen zwischen Realität und Phantasie pendeln, sich vermischen bis zur Auflösung. Die literarische Themenwelt von Franz Kafka in einer modern Version in das heutige Wien transferiert.

Erzählform und Sprache

Schon die Erzählform ist ungewöhnlich, unterstreicht jedoch perfekt diese Geschichte, denn sie ist ausschließlich in der direkten Rede geschrieben, auch alle Ereignisse, die sich zuvor zugetragen haben, werden in Dialogform geschildert. Es ist Sascha, der mit seinen Fahrgästen spricht, aber nicht alle, die sich in Saschas Gedanken drängen und mitreden, leben noch, und dies trifft nicht nur auf Franz Kafka zu. „Irgendwann kannst du nicht mehr entscheiden, wer du bist und wer die anderen sind, wer echt ist, wer nicht.“ (Zitat Seite 8) Die Geschichte selbst umfasst nur zwei Tage und führt uns Leser gekonnt und ganz im Stil von Kafkas Erzählungen mehrmals in die Irre, auch wenn wir bald eigene Vermutungen anstellen, verschwinden auch für uns die Grenzen zwischen der Wirklichkeit und den von Sascha in seinen Gedanken geschaffenen Scheinwelten. Dadurch bleibt die beklemmende Spannung bis zur letzten Seite aufrecht und auch unser Verständnis für die verschrobene, aber sympathische Hauptfigur.

Fazit

Hans Platzgumer gelingt mit diesem Roman eine ungewöhnliche, packende Hommage an Franz Kafka. Ein bizarres, skurriles, verwirrendes, trauriges, beklemmendes, doch gleichzeitig auch positives Leseerlebnis.

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