Alles wird gut: Chronik eines vermeidbaren Todes – Matthias Politycki

AutorMatthias Politycki
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 23. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455015843

„Nur die kleinen Geschichten haben ein Ende. Die großen gehen immer weiter. Je öfter sie erzählt werden, desto mehr verzweigen sie sich – wie der Wald, der nach jedem Regen wächst, bis er undurchdringlich scheint.“ (Zitat Pos. 5277)

Inhalt

Josef Trattner, siebenundvierzig Jahre alt, war bis Oktober 2019 in Aksum als Ausgrabungsleiter tätig. Das Rückflugticket für den 7. Februar 2020 hat er bereits in der Tasche, als ihn Weraxa, ein Mitarbeiter, überredet, zum Abschluss das Land zu besichtigen, in dem er drei Jahre lang gearbeitet hat. Mit ihrem Fahrer Mulugata brechen sie am 12. Januar auf. Im kleinen Suri-Dorf Surma Kibish sieht Trattner eine außergewöhnliche Frau, stolz, schön und offensichtlich eine unangepasste Außenseiterin. Ihr Name ist Nasedi, doch alle nennen sie Natu. Als sie am nächsten Tag ihrer Reise an einem der vielen Kontrollpunkte halten müssen, kommt eine Frau zu Trattners Auto und setzt sich wortlos zu ihm auf die Rückbank. Es ist Natu und Trattner weiß nicht, ob sie einfach bis zur nächsten Stadt mitfahren will, oder auf der Flucht ist.

Thema und Genre

Dieser Roman spielt im Südwesten Äthiopiens. Themen sind die alten Traditionen der hier lebenden Völker und Ethnien und das westlich geprägte, europäische Denken. Es sind fundamentale Gegensätze, auch in Bezug auf die Situation der Frauen, die durch die  Unmöglichkeit einer sprachlichen Verständigung zu großen Missverständnissen führen. Kann Liebe stark genug sein, um diese beinahe unüberwindlichen Barrieren zu überwinden?

Charaktere

Der Objektkünstler und Magister der klassischen Archäologie Josef Trattner ist im Grunde eine Art Lebenskünstler, redegewandt, einfallsreich, aber auch unentschlossen und zögerlich. Seine Erfahrungen mit Natu verändern ihn. Nun ist er bereit, Verantwortung zu übernehmen, obwohl Natu für ihn ein Rätsel bleibt. Sie lebt vollkommen in der Gegenwart und jeder Tag mit ihr ist ein neuer Anfang.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung umfasst nur den Zeitraum der Reise Trattners, ergänzt durch Rückblicke in Form von Erinnerungen und Gesprächen. Trattner ist die Hauptfigur und steht im personalen Mittelpunkt dieser Geschichte. So erfahren wir auch seine persönlichen Gedanken und Eindrücke, die sich durchaus von seinem Verhalten unterscheiden können. Er ist eine interessante, facettenreiche Figur, in seiner Widersprüchlichkeit und Zögerlichkeit nahe einem modernen Antihelden. Spannung erhält die Geschichte nicht nur durch die Frage, ob es in dem geschilderten Umfeld eine Zukunft für Trattner und Natu geben könnte, sondern auch durch die abenteuerliche, in diesen Wochen schon sehr gefährliche Reise. Es ist eine beeindruckende Vielfalt an unterschiedlichen Themen und Konflikten, in Verbindung mit authentischen Schilderungen der indigenen Menschen, ihrer Lebensweisen und Traditionen, denen sie sich zu unterwerfen haben. Als Gegensatz zeigt sich immer wieder das von europäischen Traditionen geprägte Verhalten von Trattner. Eindrückliche Landschaftsbeschreibungen ergänzen die Geschichte zu einem facettenreichen Gesamtbild.

Fazit

Dieser Roman brachte mir viel neues Wissen über ein Land und eine Kultur, von denen ich bisher nur wenig wusste. Eine interessante, spannende, in ihrer Vielfältigkeit beeindruckende Geschichte mit überraschenden Wendungen.

Das russische Testament – Shumona Sinha

AutorShumona Sinha
Verlag Edition Nautilus
Erscheinungsdatum 6. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten184
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinLena Müller
ISBN-13978-3960542605

„Sie entdeckte die aufregende Grenze zwischen Wirklichkeit und Erfindung, zwischen dem, was geschrieben steht und dem, was noch geschrieben werden wird, die Lust am Unvollendeten.“ (Zitat Seite 33)

Inhalt

Tanias Vater ist Buchhändler in Kalkutta und verkauft internationale Literatur, die ins Bengali übersetzt worden war. Da ihre Mutter sie ablehnt, zieht sich Tania schon in ihrer Kindheit in die Welt der Bücher zurück. Immer wieder sind es Bücher von russischen Autoren und in jedem der Bücher findet sie die Adresse der Verlage Raduga und Progress, Subowski Bulvar, Moskau. Als Studentin beginnt Tania mit genauen Recherchen auf den Spuren des Raduga Verlages und des Verlegers und Schriftstellers Lew Kljatschko. Am Institut für russische Sprache und Literatur lernt sie Russisch und schreibt einen Brief an die Adresse des Verlages. Doch der Verlag musste schon 1930 unter Stalin schließen, Lew Kljatschko starb nur wenige Jahre später. Der Brief jedoch gelangt nach Boston, zur Enkelin des Verlegers. Diese schickt den Brief weiter an ihre Großmutter Adel, die in einem Altersheim in St. Petersburg lebt. „Ich weiß nicht, wie mich diese junge Frau ausfindig gemacht hat. Ich bin erstaunt über die Entschlossenheit, mit der sie über drei Kontinente hinweg die unsichtbaren und meist längst vergessenen Punkte verbunden hat.“ (Zitat Seite 11, 12)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Unterdrückung, Politik und den Wunsch nach Freiheit gegen alle Widerstände. Vor allem jedoch geht es um Bücher und die Kraft der Literatur.

Charaktere

Zwei Frauen und ein Mann: was sie trennt ist mehr als ein halbes Jahrhundert und mehr als sechstausend Kilometer Luftlinie. Auch die unterschiedlichen, persönlichen Erfahrungen mit der Ideologie des Kommunismus trennen die Welten dieser Menschen, denn Adels freidenkender Vater riskierte unter der Zensur und den Bespitzelungen der Stalinzeit sein Leben, Tania dagegen schloss sich als junge Studentin in Kalkutta den Aktivisten der kommunistischen Studentenbewegung an. Was sie eint, sind Bücher, die Liebe zur Literatur, Maxim Gorki und die Suche nach einem freien, selbstbestimmten Leben.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman erzählt zwei voneinander unabhängige Geschichten. Eine Geschichte schildert die Kindheit und Jugend Tanias in den 1980er Jahren in Kalkutta, die personale Erzählform stellt Tania in den Mittelpunkt. In der zweiten Geschichte schildert die Russin Adel Kljatschko als Ich-Erzählerin ihr Leben, vor allem jedoch ihre Erinnerungen, in deren Mittelpunkt die Geschichte ihres Vaters steht. Die Sprache der Autorin ist lebhaft, eindrucksvoll und präzise.

Fazit

Eine ungewöhnliche Geschichte, getrennt durch ein halbes Jahrhundert und mehr als sechstausend Kilometer, verbunden durch die Liebe zur Literatur und den Wunsch nach persönlicher Freiheit.

Melody – Martin Suter

AutorMartin Suter
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 22. März 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257072341

„Ich habe mein ganzes Leben versucht, der Welt ein bestimmtes Bild von mir zu vermitteln.  Ihre Aufgabe besteht darin, dieses auch für die Nachwelt zu bewahren.“ (Zitat Seite 26)

Inhalt

Für Tom Elmer, dreißig Jahre alt, zwei Master-of-Law-Abschlüsse, ist dieser Job ein Glücksfall, großzügige Bedingungen, ein Jahresvertrag. Dr. Peter Stotz, geboren 1938, ehemaliger Politiker mit Sitz in den Verwaltungsräten von Banken und Großkonzernen,  einflussreich, erfolgreich, Kunstmäzen, sucht jemanden mit juristischen Kenntnissen und Sichtung des umfangreichen Archivs eines ganzen Lebens und die Ordnung seines Nachlasses. Bald ist Tom klar, dass es Peter Stotz vor allem darum geht zu erzählen und jemanden zu haben, der zuhört, bei den gemeinsamen Mahlzeiten und an den langen Abenden, denn Tom wohnt in der Villa. Alle Erinnerungen von Peter Stotz drehen sich um ein Thema: Melody Alaouni, die Liebe seines Lebens, die drei Tage vor der Trauung spurlos verschwunden ist. Dies ist nun über vierzig Jahre her, doch wie schon auf der Fassade der Villa in vergoldeten Lettern zu lesen ist: Tempus fugit, amor manet.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Sein und Schein, das eigene Leben und die Erinnerungen zwischen Fakten und Fiktion, um den Wunsch, das während langer Jahre der Öffentlichkeit präsentierte Bild auch zu bewahren. Es geht um Liebe, Beziehungen in vielen Facetten und Bedeutungen, um die unterschiedlichen Formen von Wahrheit.

Charaktere

Martin Suter ist ein Meister der leisen Zwischentöne in den Eigenheiten und Befindlichkeiten seiner Figuren. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen drei unterschiedliche Charaktere: Peter Stotz, schwer krank, der auch nach über vierzig Jahren die Erinnerungen an die Liebe seines Lebens pflegt. Tom Elmer ist neugierig, wenn auch mit der Verschwiegenheit eines Anwalts, und das Rätsel um das Verschwinden der jungen Frau wird für ihn zu einer Aufgabe, die er lösen will. Der dritten Hauptfigur, Melody,  begegnen wir nur auf den vielen Porträts, die an den Wänden der Villa hängen, und in Peters Erzählungen. „Das Porträt einer jungen Frau. Sie saß in einem Polstersessel vor einer Bücherwand, hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß und sah fragend auf, als wäre sie vom Betrachter gestört worden.“ (Zitat Seite 17)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in zwei unterschiedlichen Erzählperspektiven geschildert. In der aktuellen Zeit steht Tom Elmer im personalen Mittelpunkt. Die Vergangenheit, besonders seine Zeit mit Melody und die nachfolgenden Jahre der Suche nach ihr erzählt Peter Stotz als Ich-Erzähler in den vielen langen Gesprächen mit Tom. Dies macht die spannende Geschichte noch abwechslungsreicher und lässt uns Lesenden auch Raum für eigene Überlegungen, denn gerade Geschichten, selbst erzählt von dem, der sie erlebt hat, lassen viel Spielraum für Interpretationen und Varianten. Wer schon Romane von Martin Suter gelesen hat weiß, dass es bei diesem Autor nie nur eine Wahrheit gibt, und auch Offensichtliches plötzlich Überraschungen birgt. Die Sprache erzählt gekonnt und elegant, mit vielen feinen Nuancen.

Fazit

Kurz gesagt, dieser Roman beinhaltet alles, was man sich von einer anregenden, spannenden, unterhaltsamen Lektüre erhofft, eine überzeugende Geschichte, facettenreiche Figuren und interessante Themen zum Nachdenken.  

Lichte Horizonte – Daniela Engist

AutorDaniela Engist
Verlag Alfred Kröner Verlag-Edition Klöpfer
Erscheinungsdatum 23. März 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten 208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3520750013

„Wenn man nicht gerne fängt und nicht gerne gefangen wird, ist man dann nicht furchtbar allein? Aber wie allein ist man erst, wenn man dasteht und wartet!“ (Zitat Seite 131)

Inhalt

Anne ist als Autorin zu diesem Festival-Wochenende eingeladen, Stéphane als Musiker, sie treffen einander beim gemeinsamen Frühstück der Teilnehmer. Ein Gespräch, gegenseitige Anziehung und in Annes Gedanken bereits ein „was wäre, wenn“. Sie schreiben einander Emails, öffnen sich in dieser Virtualität gegenseitig, schreiben über ihre Gedanken und Wünsche. Doch beide haben Familie und beide sind sich darüber einig, dass sie nicht aus ihrem gewohnten Leben ausbrechen wollen. Dies wird Anne besonders deutlich, als Stéphane ihr schon am Beginn der Weihnachtstage schreibt, er werde ihr während der Feiertage nicht schreiben können. Als tatsächlich keine Emails von Stéphane eintreffen, ist Anne traurig und gereizt. Doch dann, zwei Tage vor Jahresende, beginnt sie zu schreiben, keine Emails, sondern an ihrem neuen Buch. Es würde wieder nicht das Buch zum Thema Geschwister werden, das sie schreiben wollte, sondern ein ganz anderes. Es wird eine Reise in der Vergangenheit, auf der Suche, wer sie damals war, wer sie heute ist.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben einer Frau, irgendwo zwischen Mitte und Ende Vierzig. Zwischen ihren Erinnerungen, ihrer nach mehr als zwanzig Jahren im Alltag festgefahrenen Ehe und der Sehnsucht nach Stéphane will sie schreibend herausfinden, wer sie heute ist und ob sie immer noch die ist, die sie sein will. Gleichzeitig handelt diese Geschichte auch vom Entstehen eines Romans.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Anne, Ehefrau, Mutter, Schriftstellerin. So wie sie sich beim Schreiben ihres neuen Romans fragt, wie viel sie von sich selbst preisgeben will und wie viel verbergen, fragt sie sich auch, ob der Zauber ihrer Emails mit Stéphane nur in der Phantasie und dem Traum von einer möglichen Realität besteht und ob dies genug sein kann. Stéphane möchte nicht ein einer Geschichte vorkommen, er schreibt, so sagt er, seine Chansons auch nicht nach der Wirklichkeit.

Handlung und Schreibstil

Anne ist die Ich-Erzählerin. Sie erzählt uns die Geschichte dieser Tage im Dezember und Januar, verbindet diese jedoch mit vielen Erinnerungen, weit zurück in ihre Jugend, die erste Liebe, ihre Beziehungen und das Scheitern derselben. Sie schreibt über ihre Wünsche und Träume, über die frühe Zeit ihrer Ehe mit Alexander, mit dem sie inzwischen mehr als zwanzig Jahre verheiratet ist. Gleichzeitig jedoch bindet sie uns in den Schreibprozess ein, eine Geschichte in der Geschichte, denn wir erleben fiktiv, wie das vorliegende Buch geschrieben wird. Die Sprache ist klar, dennoch intensiv, und passt zu dieser Geschichte mit ihren Unterbrüche, im dauernden Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Drei große Abschnitte tragen den Titel Anlaufen – Abspringen – Aufkommen. Am Ende des Buches finden sich einige kurze, ergänzende Texte.

Fazit

Eine facettenreiche Geschichte, die gekonnt auch das Schreiben einer Geschichte selbst in die Handlung einbindet, so mit den Handlungen und Möglichkeiten spielt und uns viel Raum für eigene Gedanken lässt.

Berta Isla – Javier Marías

AutorJavier Marías
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 31. August 2022
FormatTaschenbuch
Seiten672
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinSusanne Lange
ISBN-13978-3596703418

„Es gab eine Zeit, da war sie sich nicht sicher, ob ihr Mann ihr Mann war, wie man auch im Dämmerschlaf nicht weiß, ob man denkt oder träumt, ob man seinen Geist noch lenkt oder die Erschöpfung ihn in die Irre führt.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Tomás Nevinson hatte schon bald klare Vorstellungen, wie seine Zukunft aussehen würde: verheiratet mit seiner Jugendliebe Berta Isla in Madrid, ein glückliches Privatleben, auch  beruflich erfolgreich. Auf Grund seiner herausragenden sprachlichen Begabung studiert er  in Oxford. Nach vier Jahren erwartet er ein Abschlussexamen mit Bestnoten und danach wird er, noch nicht einundzwanzig Jahre alt, nach Madrid zurückkehren. Als ihm sein Tutor den Vorschlag macht, für den britischen Geheimdienst zu arbeiten, glaubt Tomás, die freie Wahl zu haben, ablehnen zu können, was er auch sofort tut. Doch knapp danach tritt ein Ereignis ein, das ihm keine Wahl mehr lässt und sein Leben und auch das Leben seiner späteren Ehefrau Berta für immer verändert. Obwohl seine Anstellung bei der britischen Botschaft in Madrid seine Reisen nach London für Berta zunächst logisch erscheinen lässt, beginnt sie, Fragen zu stellen, als seine Abwesenheiten immer länger werden und er in diesen Zeiten nicht erreichbar ist. Doch sie erhält keine Antworten, aber wenigstens die Bestätigung, dass es so ist. Dann verschwindet er im Mai 1982 spurlos, Jahre vergehen und niemand weiß, ob er noch lebt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es nicht um die aktive Tätigkeit der Geheimdienste, sondern vor allem darum, wie dieses Doppelleben, der Wechsel zwischen unterschiedlichen Identitäten und die damit verbundenen Geheimnisse, die Menschen verändern. Themen sind politische Überzeugungen, Beziehung, Familie, Liebe und Vertrauen.

Charaktere

Tomás ist völlig verändert, als er nach dem Abschluss seines Studiums zu Berta zurückkehrt. Ihr fällt auf, dass er nie mehr über die Zukunft nachzudenken scheint, so, als stünde führ ihn alles schon fest. Seinen neuen Patriotismus kann Berta nicht teilen und sie versteht nicht, warum er sich für dieses Leben entschieden hat. Dennoch trennt sie sich nicht von ihm und als er verschwunden ist, gibt ein Teil von ihr die Hoffnung nicht auf, sie hört nicht auf, auf seine Rückkehr zu warten.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch, jedoch aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt. Einerseits schildert der Erzähler personal die Geschichte von Tomás, anderseits erzählt Berta Isla selbst ihre Geschichte in der Ich-Form und diese bildet den Hauptteil des Romans. So erfahren wir Lesenden zeitgleich mit den tatsächlichen Abläufen die Geschichte von Tomás in Oxford, kennen die Hintergründe für seine Entscheidung, die Berta nicht kennt. Wir kennen das Leben von Tomás in diesen Jahren, mehr, als er Berta erzählt, aber auch Bertas Leben während der Abwesenheit von Tomás, Dinge, die er nicht weiß, außer, sie erzählt es ihm. Es ist diese brillant gewählte Art, die Geschichte von Tomás und Berta zu erzählen, die für Spannung sorgt, vor allem aber auch die Problematik und Konflikte aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, uns Lesende zu eigenen Überlegungen anregt und dafür auch Raum lässt. Denn die Sprache nimmt sich viel Zeit für Schilderungen, für die Entwicklung und Charakterisierung besonders der beiden Hauptfiguren.

Fazit

Spannend, mit einer Vielfalt an interessanten Themen, ist dieser Roman vor allem eine einfühlsame, packende Studie der menschlichen Verhaltensweisen.

Ein von Schatten begrenzter Raum – Emine Sevgi Özdamar

AutorEmine Sevgi Özdamar
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 10. Oktobert 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten763
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518430088

„Der Rest des Raumes ist ohne Schatten. Deswegen sieht es nur dort, wo der Schatten gewachsen ist, wie ein Raum aus, wie ein von Schatten begrenzter Raum“ (Zitat Seite 90) „Der Rest des Raumes war ohne Schatten. Deswegen sah er nur dort, so unsere Schatten gewesen waren, wie ein Raum aus, ein von Schatten begrenzter Raum, der sich mit Leben füllte.“ (Zitat Seite 242)

Inhalt

Die junge Ich-Erzählerin aus Istanbul flüchtet vor der türkischen Militärregierung über das Meer nach Europa. Sie hat in Istanbul die Schauspielschule besucht und hält an ihrem Traum fest, als Schauspielerin zu arbeiten. In Berlin pendelt sie als Assistentin des Regisseurs Benno Besson zwischen West- und Ostberlin. Dann holt Besson sie für sein nächstes Projekt nach Paris, anschließend kehrt sie nach Deutschland zurück, zu Claus Peymann an das Schauspielhaus Bochum. „Die Bühne ist großherzig, dort reden die Toten, und jede Nacht kommen die Zuschauer, um diese Toten zu sehen und ihnen zuzuhören. Und die Toten mischen sich nur am Theater in des Leben der Lebenden.“ (Zitat Seite 506). In Bochum schreibt sie auch ihr erstes Theaterstück.

Thema und Genre

Dieser stark autobiografische Roman handelt von der Suche nach Heimat und eigener Identität in einem fremden kulturellen Umfeld, dem Wunsch, sich selbst auch in neuen, fremden Sprachen zu finden. Auch die politische Vergangenheit und Gegenwart Europas im 20. und aktuellen 21. Jahrhundert sind prägende Themen. Doch vor allem geht es um Kultur, um Literatur und das Leben am Theater.

Charaktere

Dieser Roman schildert das Leben und den Werdegang einer vielseitigen Künstlerin als Schauspielerin, Theaterregisseurin und Schriftstellerin. Damit verbunden sind Erinnerungen an befreundete Künstlerpersönlichkeiten, an Menschen, die sie begleitet und gefördert haben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog auf einer namentlich nicht genannten Insel ähnlich Alibey Atasi, von der aus man nauf die griechische Insel Lesbos, nach Europa, sehen kann. Dort endet die Geschichte auch mit einem Epilog und dieser Kreis schließt sich wortgenau: „Über uns die Nacht hat aus de dunkelsten Ecken ihrer Erinnerungen etwas herausgeholt und hat dieses Etwas zwischen der Orthodoxkirche, dem Esel, der blinden Frau und mir in der Luft leise verteilt.“ (Zitat Seite 10 und Seite 754). Wortgleiche Wiederholungen wie diese finden sich öfter auf diesen insgesamt 763 Seiten.

Die von vielen Rückblenden unterbrochene Handlung der alltäglichen Ereignisse und Beobachtungen wird in einfachen Sätzen erzählt, ähnlich den Einträgen in einem persönlichen Tagebuch. Doch immer wieder gibt es Überblendungen, plötzlich eingeschobenen Fragmente, die Ort, Zeit und Realität durch- und überschreiten. Dies, und der überbordende Stil der Schilderungen und Beschreibungen fordert sprachlich. Die poetische Sprache, ergänzt durch zweisprachige Gedichte, ist bildintensiv wie ein Film, wie expressionistische Theaterkulissen, aber auch surreal und extrem verstörend und beklemmend, wo es um die Träume der Ich-Erzählerin geht, in denen immer Ängste, Traumata und Tod eine Rolle spielen.

Fazit

Dieser Roman ist eine Herausforderung, eine wilde, anstrengende Reise zwischen dem Wunsch, das Lesen auf Grund der langen, immer wiederkehrenden Gedankenschlingen, der ausufernden Schilderungen und in ihrem Chaos nicht nachvollziehbaren Gedankenbrüche abzubrechen, und der Faszination gerade dieser imposanten sprachlichen Ausdrucksformen der türkisch-deutschen Schriftstellerin.

Die geheimste Erinnerung der Menschen – Mohamed Mbougar Sarr

AutorMohamed Mbougar Sarr
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH
Erscheinungsdatum 24. November 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten448
SpracheDeutsch
ÜbersetzerHolger Fock
ÜbersetzerinSabine Müller
ISBN-13978-3446274112

„Elimane hatte sich dort hingesetzt und die drei stärksten Trümpfe ausgespielt, die man haben konnte: Zuerst hat er sich einen Namen mit geheimnisvollen Initialen zugelegt; dann hat er nur ein einziges Buch geschrieben; und zuletzt ist er spurlos verschwunden.“ (Zitat Seite 16)

Inhalt

Das Labyrinth des Unmenschlichen“, ein ebenso umjubeltes wie kritisiertes Buch von T.C. Elimane, wurde 1938 in Paris veröffentlicht. Kurz darauf verschwindet der Autor und auch das Buch ist seither unauffindbar. Diégane Latyr Faye kennt den Namen T.C. Elimane schon seit seiner Zeit auf dem Gymnasium in Senegal. Er träumt davon, Dichter zu werden, interessiert sich für Literatur und entdeckt 2008 im Handbuch der schwarzafrikanischen Literatur einen Artikel über T.C. Elimane und sein Buch. Inzwischen studiert Diégane in Paris, hat seinen ersten Roman veröffentlicht und schreibt an seiner Doktorarbeit. Er hat Elimane und das verschwundene Buch nicht vergessen, aber seine Nachforschungen bleiben erfolglos, bis er eines Tages im Juli 2018 die die senegalesische Schriftstellerin Siga D. kennenlernt. Denn diese besitzt eine Ausgabe von „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ und gibt es ihm zu lesen. Das Buch zieht ihn sofort in seinen Bann und er will wissen, was damals wirklich passiert ist. Entschlossen folgt er den Spuren des geheimnisvollen Autors T.C. Elimane.

Thema und Genre

Dieser Roman gleicht einer mit einer Fülle von Ideen, vielseitigen Themen, unterschiedlichen Sprach- und Erzählformen gefüllte Schatztruhe, es geht um Literatur, Literaturkritik, das Schreiben, um den Umgang mit Werken aus anderen Sprachräumen und Kulturkreisen. Ein Thema ist die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen der eigenen Identität, der persönlichen Geschichte, den Erinnerungen der Familie und der Vorfahren, und der Geschichte, die man als Schriftsteller erzählen will. Auch die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit spielt in diesem Roman eine wichtige Rolle.

Charaktere

Die Namen der Figuren sind fiktiv, doch die Bezüge zur Realität sind deutlich. Jede der einzelnen Figuren, deren Geschichte wir folgen, fügt sich nach Irrwegen und Überraschungen in das Ganze ein. Das Leben der beiden Hauptfiguren Diégane und Elimane weist zudemde utliche Parallelen auf, wenn auch durch Jahre getrennt.

Handlung und Schreibstil

Diéganes aktuelle Geschichte und die intensive Suche nach T.C. Elimane finden innerhalb eines kurzen Zeitraumes statt, es sind die einzelnen Geschichten innerhalb dieser Geschichte, die ein faszinierendes Labyrinth von Menschen und ihren Schicksalen bilden. Der Autor wechselt zwischen Erzählformen, Perspektiven und Sprache, wir finden Auszüge aus Tagebüchern, Zeitungsartikeln, Abhandlungen, Briefen und Biografien. Der Autor nimmt sich Zeit für die Schilderung der Konflikte, der Gefühlsebene seiner Figuren, für die Beziehungen und natürlich auch für die Liebe, wo die Sprache zur Poesie wird. Handlung und Sprache entfalten so eine Vielseitigkeit, die sich jedoch nie verliert und auch offene Fragen beantwortet, die Dinge langsam zusammenfügt und wichtigen Anliegen verbindet.

Fazit

„Eines zumindest kann man über einen Schriftsteller und sein Werk mit Gewissheit sagen: Beide gehen zusammen durch das denkbar vollkommenste Labyrinth, ein langer Rundweg, auf dem ihr Ziel und ihr Ausgangspunkt ineinander übergehen: die Einsamkeit.“ (Zitat Seite 13) Für mich ist dieser Roman einer der Höhepunkte meines Lesejahres 2022, denn hier stimmt einfach alles, die Sprache, die vielen unterschiedlichen Geschichten und Figuren, und immer wieder die Literatur und die Suche von Schriftstellern nach der eigenen Ausdrucksform. Nach dem Lesen der Beschreibung auf der Buchrückseite und des Klappentextes wusste ich nicht genau, was mich erwartet, ich war auf jeden Fall sofort neugierig auf diesen Roman. Was auch immer ich erwartet hatte, es wurde auf jeden Fall übertroffen: ein faszinierendes Leseerlebnis.

Die Nacht, in der Jesus herabstieg – Sherzad Hassan

AutorSherzad Hassan
Verlag Klingenberg
Erscheinungsdatum 18. November 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten280
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinUte Cantera-Lang
ÜbersetzerRawezh Salim
ISBN-13978-3903284135

„Wir alle warten auf einen Fetzen Papier, um zu beweisen, dass auch wir das Recht auf Leben haben. Auf dem Papier steht geschrieben, warum, wie und wann wir geflüchtet sind – ein Haufen Geschichten, zusammengesetzt aus Wahrheiten und auch Lügen.“ (Zitat Seite 13)

Inhalt

Der nun sechsundvierzig Jahre alte Ich-Erzähler mochte schon als Kind keine Menschenmassen und alle hielten ihn für einen Einzelgänger. Diese Einsamkeit in ihm bleibt bestehen, auch als er längst erwachsen ist. Besonders tief sind die Einsamkeit und eine erdrückende Traurigkeit während der Weihnachtszeit. So auch in dieser Neujahrsnacht, in der er über sein Leben, seine ferne Heimat und Familie, über die Menschen und das endlose Warten auf seine Aufenthaltsbewilligung hier in Finnland nachdenkt. Genau diese Nacht wählt Jesus für seine Rückkehr auf die Erde und der kurdische Flüchtling, der allein bei Kerzenschein in seinem Zimmer in einem Flüchtlingsheim in Finnland sitzt, lädt ihn in sein Zimmer und auf ein Glas Wein ein. Aus dem Glas werden mehrere, aus dem Augenblick Stunden. Jesus ist gekommen, um alle Menschen an seine Botschaft zu erinnern, einander zu lieben. Doch seinem kritischen Gegenüber scheint der Zeitpunkt an diesem Tag, wo alle in Feierlaune sind und sicher keinen Prediger hören wollen, denkbar ungünstig. Andererseits ist er doch gespannt auf die Reaktion der Menschen.

Thema und Genre

Dies ist ein philosophischer, religionskritischer Roman mit zeitlos aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen. Anders als der Titel vermuten lässt, handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung allen Weltreligionen in unserer modernen Zeit. Der Ich-Erzähler steht der Hoffnung vieler Menschen auf eine neue Erlöserfigur kritisch gegenüber und auch dem Erlöser selbst. „Was gibt dir die Gewissheit, mich zu einem Fantasiegebilde degradieren zu können, und mich nicht als den anzuerkennen, der ich bin?“ (Zitat Seite 39)

Charaktere

Ein kurdischer Flüchtling in Finnland, Jesus Christus, für eine Nacht ebenfalls in Finnland, und viele Fragen.

Handlung und Schreibstil

1997 begann der Autor am Manuskript für diesen Roman zu schreiben, welcher im Jahr 2012 in kurdischer Sprache erschienen ist. Der Ich-Erzähler zeigt deutlich den autobiografischen Hintergrund. Die Geschichte spielt in einer einzigen Nacht, wird jedoch ergänzt durch Kindheitserinnerungen und die Erinnerungen an prägende Ereignisse, die der Ich-Erzähler seinem Gast schildert. Natürlich spielt auch das Leben Jesu vor beinahe zweitausend Jahren auf der Erde eine Rolle. Starke philosophische und metaphorische Momente lassen unserer Phantasie als Lesende viel Spielraum für eigene Gedanken und Überlegungen. Den beiden Übersetzenden ist es gelungen, die blumige, sehr poetische orientalische Ausdrucksweise auch in dieser deutschsprachigen Ausgabe beizubehalten.

Fazit

Ein interessantes, intensives Leseerlebnis, das viel Raum zum Nachdenken lässt. Mich hat die Inhaltsangabe auf diese Geschichte neugierig gemacht und ich wurde nicht enttäuscht. Es sind gerade die kleinen, unabhängigen Verlage, die bewusst und persönlich entscheiden, welche Titel sie herausbringen. Dieses überzeugte Engagement ermöglicht es uns Lesenden, die persönliche Lese-Wohlfühlzone öfter mal zu verlassen und dadurch völlig neue Eindrücke und Welten zu erkunden.

Mein Herz so weiß – Javier Marías

AutorJavier Marías
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 5. April 20212
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinElke Wehr
ISBN-13978-3596194599

„Jeder zwingt jeden, nicht so sehr, etwas zu tun, was er nicht will, als etwas zu tun, von dem er nicht weiß, ob er es will, denn fast niemand weiß, was er nicht will, es ist nicht möglich, das zu wissen.“ (Zitat Seite 217)

Inhalt

„Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe es erfahren …“ so beginnt dieser Roman. Juan, der nun erwachsene, seit weniger als einem Jahr selbst verheiratete Ich-Erzähler, wächst mit Andeutungen auf, die Ehefrauen seines Vaters Ranz betreffend. Es geht um Teresa, die kurz nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise gestorben ist. Teresa war Juans Tante, denn sein Vater hat später deren jüngere Schwester Juana geheiratet, Juans Mutter. Nach Juans Heirat mit Luisa mehren sich in Juans Bekanntenkreis Andeutungen an die Geschehnisse in der Vergangenheit und vor allem Luisa möchte wissen, was damals wirklich passiert ist. „Vielleicht hat er all diese Jahre darauf gewartet, dass in deinem Leben jemand wie ich auftaucht, jemand, der zwischen ihm und dir vermitteln kann, ihr Väter und Söhne seid sehr ungeschickt miteinander.“ (Zitat Seite 169)

Thema und Genre

In diesem Roman, heute ein moderner Klassiker, geht es um die Möglichkeiten der Sprache als Ausdrucksmittel und Kommunikationsform, um Beziehungen, Familie, um Geheimnisse der Vergangenheit, die auch in der Gegenwart präsent sind und diese prägen und um die Frage, ob Verschweigen bereits eine Lüge ist. Wird eine Schuld durch ein Geständnis geringer, oder aber, indem man darüber schweigt und sie eines Tages dann weit zurück in der nicht mehr veränderbaren Vergangenheit liegt?

Charaktere

Juan arbeitet als Dolmetscher und Übersetzer, wie auch Luisa, mit der er seit knapp einem Jahr verheiratet ist. Sogar seine Gedanken sind von der Kraft der Sprache und der Worte durchdrungen. Am Tag seiner Hochzeit fragt ihn sein Vater: „was nun?“ und genau diese Frage stellt sich auch Juan bereits während der Hochzeitsreise und immer wieder in den Monaten danach.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb einer Gegenwart, die nicht ganz ein Jahr umfasst, und einer erinnerten nahen und ferneren Vergangenheit. Die Handlung besteht aus einzelnen Episoden, deren Zusammenhänge man erst gegen Ende der Geschichte erfährt, oder auch nicht. Juan schildert seine Geschichte als Ich-Erzähler, wobei seine Gedanken, Überlegungen, Befindlichkeiten und Ängste den größten Raum dieses Romans einnehmen. Es ist bekannt, dass bei Javier Marías die Sprache im Vordergrund steht, die genauen, sehr ausführlichen Beschreibungen der Gedanken seiner Hauptfiguren in langen Satzgebilden. Auch die Konflikte hinterfragen das Verhalten der Menschen in familiären Beziehungen und beobachten es aus unterschiedlichen psychologischen Blickwinkeln und Fragenstellungen.

Fazit

Sowohl die Problematik, die Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt, als auch die kraftvolle Sprache mit langen Sätzen und Satzfolgen, noch ergänzt durch weitere Gedankensprünge und Einschübe in Klammern, machen aus diesem Roman keine Lektüre, die man eben mal so zwischendurch liest, dieses Buch verlangt die Aufmerksamkeit der Lesenden von der ersten bis zur letzten Seite. Diese Zeit sollte man sich nehmen.

Das mangelnde Licht – Nino Haratischwili

AutorNino Haratischwili
Verlag Frankfurter Verlagsanstalt
Erscheinungsdatum 25. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Hörbuch gelesen vonSimone Kabst
Seiten832
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3627002930

„Ich spürte, dass dieser Moment magisch war, und das nicht, weil etwas im eigentlichen Sinne Besonderes geschah, sondern weil wir in unserem Zusammenhalt eine unzerstörbare Kraft bildeten, eine Gemeinschaft, die vor keiner Herausforderung mehr zurückschrecken würde.“ (Zitat Seite 10)

Inhalt

Die Fotografie aus dem Jahr 1987 ist das einzige Bild, auf dem sie zusammen zu sehen sind, jung, voller Hoffnung auf die Zukunft. Es ist der Nachmittag vor ihrem großen Abenteuer, denn in der Nacht brechen sie durch ein Loch im Zaun in den Botanischen Garten ein. Damit ist die Freundschaft Dina, Keto, Ira und Nene, vier Mädchen aus dem Sololaki-Viertel, einem der buntesten Stadtteile von Tbilissi, endgültig besiegelt und die Lebensgeschichten scheinen untrennbar miteinander verbunden, bis Dinge passieren, die auch ihre Freundschaft zerstören. Erst 2019, viele Jahre später, treffen drei von ihnen in Brüssel wieder zusammen, als eine Retrospektive des fotografischen Gesamtwerkes von Dina eröffnet wird. Dina, die bekannte Fotografin, Ketos beste Freundin, fehlt. Sie ist tot, doch in ihren Bildern lebt sie weiter. Für Keto, Nene und Ira wird dieser Abend ein langer Weg zurück in die Vergangenheit, durch die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, an Dina, zurück zu den Ereignissen, die ihr Leben für immer geprägt haben, verbunden mit der wechselvollen Geschichte von Georgien. Zu viel ist geschehen, mit diesen Erinnerungen ist keine intakte Gegenwart möglich, oder doch?

Thema und Genre

Dieser Roman ist die Geschichte Georgiens in den politisch unsicheren Jahren der Umbrüche, Aufstände, Gewalt. Gleichzeitig ist es die Geschichte einer Generation, deren Leben durch diese Jugendjahre für immer geprägt wird. Themen sind Freundschaft, Träume und Liebe, aber auch Macht, Gewalt und Verlust. Es geht um traditionelle gesellschaftliche Strukturen, das Patriarchat der Vätergeneration, das von den Brüdern der vier Freundinnen in Bezug auf das Wertesystem übernommen wird, obwohl die jungen Männer selbst, zornig und selbstbewusst, aus genau diesem System ausbrechen wollen.

Charaktere

Dina war schon als Kind unangepasst und rebellisch, Ira dagegen vernünftig und pragmatisch, besorgt, die vorsichtige, romantische Nene zu beschützen. Keto, als Kind angepasst und zurückhaltend, war schon immer die ausgleichende Schlichterin zwischen Dinas Freiheitsdrang, Iras Vernunft und Nenes Träumereien. Die Autorin hat ein unglaubliches Einfühlungsvermögen für jede einzelne der zahlreichen Figuren, die in dieser Geschichte leben, für ihre Konflikte, Überzeugungen, Zweifel und Gefühle.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung beginnt im Jahr 1987 in Tbilissi, verläuft jedoch nicht chronologisch, sondern in Episoden, an die sich die Ich-Erzählerin Keto bei ihrem langsamen Rundgang durch die Austellung und beim Betrachten der einzelnen Fotografien erinnert. So erfahren wir die prägenden Erlebnisse und Ereignisse im Leben der vier Frauen, die, wie sie selbst feststellen, in den ersten fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens mehr erlebt haben, als die meisten Menschen nicht einmal in einem gesamten, langen Menschenleben. Der zweite Handlungsstrang umfasst diesen einen langen Abend in Brüssel im Jahr 2019 und verläuft chronologisch. Nino Haratischwili ist eine wunderbare Erzählerin mit einem offenen, genauen Blick auf die Geschichte ihres Geburtslandes Georgien, vor allem aber auf die Menschen. Besonders ihre Frauenfiguren sind, bei allen Zweifeln, starke Frauen, die in einem von männlicher Gewalt und Konflikten dominierten Umfeld in den späten Jahren des 20. Jahrhunderts ihren eigenen Weg gegen alle Widerstände gehen.

Fazit

Ein großartiger Roman, bewegend, episch, facettenreich und packend, auch die Sprache zieht uns sofort in den Bann der Geschichte und lässt uns nicht mehr los. Ich habe mit dem Hörbuch begonnen, dann jedoch auf Grund der eindrücklichen Sprache und Komplexität der Geschichte diese im Buch weitergelesen. So kann ich auch das Hörbuch empfehlen, gelesen von Simone Kabst, deren angenehme Stimme und einfühlsame, lebhafte Art zu lesen ebenfalls überzeugen.

Lektionen – Ian McEwan

AutorIanMcEwan
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten720
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBernhard Robben
ISBN-13978-3257072136

„Die Zeiten seiner wilden Reisen waren zwar vorbei, aber der Wunsch nach Abenteuern und einer unmöglichen Freiheit verdarb ihn immer noch für die Gegenwart, die doch die meisten Befriedigungen des Lebens bereithielt. Es war eine Frage der inneren Einstellung. Sein wahres Leben, das grenzenlose Leben, fand anderswo statt.“ (Zitat Seite 237)

Inhalt

Im Spätsommer 1959 kommt Roland Baines, elf Jahre alt, mit seinen Eltern aus Libyen nach England. Für ihn beginnt, dreitausend Kilometer von seinen Eltern entfernt, das Internatsleben. Die Erfahrungen dieser Jahre verändern sein ganzes weiteres Leben. Er hat viele Pläne, reist, vermeidet Bindungen. Doch dann trifft er Alissa, verliebt sich, heiratet. Wenige Monate nach der Geburt seines Sohnes Lawrence verlässt Alissa völlig überraschend ihn und das Baby. Er ist fassungslos, sucht nach Alissa, doch sie will nicht gefunden werden. Gleichzeitig bringt das Leben mit seinem Sohn auch Routine und Ordnung in sein eigenes Leben. Mit den Jahren beginnt er, über sein Leben nachzudenken, über wichtige Entscheidungen, die er getroffen hat und die Konsequenzen. „Die Vergangenheit war nicht mehr zu retten, aber die Gegenwart konnte er vor dem Vergessen bewahren.“ (Zitat Seite 477)

Thema und Genre

Dieser Roman schildert ein Menschenleben von der Kindheit bis ins Alter, die Ereignisse und Entscheidungen, gleichzeitig ist es ein zeitpolitischer Roman und ein Familien- und Generationenroman. Es geht um Lebenspläne, um das Leben als Schriftsteller, um Träume, Enttäuschungen, Beziehungen, Liebe, Fragen und die Suche nach dem Platz im eigenen Leben.

Charaktere

In jungen Jahren träumt Roland Baines von einem Leben in Freiheit, ohne Verpflichtungen. Auch nach der Zeit im Internat macht ihn dies ruhelos, voller Ideen, die er rasch wieder vergisst, nie zu Ende bringt. Er lässt sich durch sein Leben treiben, reagiert, aber agiert nicht. Die Charaktere und die Geschichten der Hauptfiguren enthüllen sich langsam, zunächst fehlen viele Details, doch  im Laufe der Handlung gewinnen wir immer mehr Einblicke in die Vergangenheit. Entscheidungen sind nachvollziehbar, erklärbar, auch wenn man selbst unterschiedlicher Meinung ist.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung schildert das Leben der Hauptfigur Roland Baines chronologisch über viele Jahre, Zeitsprünge sind durch die entsprechenden Jahreszahlen oder Altersangaben leicht zu erkennen. Doch dies ist nur eine Seite dieser facettenreichen Geschichte, denn einen wichtigen Teil machen seine Erinnerungen, Gedankengänge, Überlegungen aus und werden durch viele Gespräche zwischen den Hauptfiguren ergänzt. Die Geschichten der Elterngeneration ergeben sich zum Teil aus Tagebüchern und aus Erzählungen. Chronologisch ist jedoch nur Rolands Geschichte, alle diese ergänzenden Episoden tauchen plötzlich auf, wenn Roland sich daran erinnert, darüber nachdenkt, nach Antworten für sein Leben sucht. Diese Art des Erzählens, des Schilderns und die genauen Beobachtungen, so vielseitig wie die sprachliche Umsetzung, machen das Lesen dieses Romans zu einem packenden Erlebnis.

Fazit

Ein epischer Roman über das Leben, als Wienerin fällt mir der Songtitel „mei potschertes Leb’n“ ein, denn es ist kein einfaches Leben, das Roland führt. Held, Antiheld, gar kein Held, irgendwie doch ein Held, das alles in einer Figur. Gleichzeitig ein politisch-kritischer Roman über eine Generation, die den Fall der Mauer bereits im Erwachsenenalter erlebt hat, die damit verbundenen Hoffnungen, Erwartungen und dann in nur dreißig Jahren  erleben musste, dass immer mehr neue Mauern errichtet wurden und werden. Ich wollte mich während dieser Lesestunden mehrmals überreden, Roland Baines nicht zu mögen, sein Zaudern, seine Antriebslosigkeit – und doch ist es mir in keiner Minute gelungen, dieses Buch nicht großartig zu finden. „Es gab Strömungen, Handlungsstränge, Entwicklungen, die niemand hätte vorhersehen können, auf den nun verbrannten Seiten hatte er nicht einmal die entsprechenden Fragen gestellt.“ (Zitat Seite 696). Hier schreibt ein Autor, der nicht nur alle Facetten der Sprache kennt, sondern auch alle Facetten des Lebens.

Wo vielleicht das Leben wartet – Gusel Jachina

AutorGusel Jachina
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 18. August 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten591
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHelmut Ettinger
ISBN-13978-3351038984

„Die Jagd nach Seife, Verpflegung und Kohle für die Lok brachte nichts, doch Dejew hatte das wichtigste Gesetz des Jägers verstanden, Augen und Ohren stets weit offen zu halten.“ (Zitat Pos. 4387)

Inhalt

Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, der Aufstände und des Bürgerkrieges, verbunden mit Ernteausfällen und politischen Entscheidungen, führen in Russland zu einer katastrophalen Hungersnot, bei der Millionen Menschen sterben. Kinder landen in Kinderheimen und Sammelstellen. Fünfhundert dieser Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren soll der Zugführer Dejew von Kasan nach Samarkand bringen, unterstützt von der Kinderkommissarin Belaja. Den Auftrag erhält Dejew am 9. Oktober 1923, doch es gibt keinen Zug, so muss er zuerst eine Lokomotive und Waggons finden. Die Zeit drängt, sollen die Kinder eine Chance haben zu überleben. Die Strecke beträgt mehr als 4.000 Kilometer, die Reise wird mindestens vierzehn Tage dauern und er hat Verpflegung für genau drei, maximal vier Tage bekommen. Doch nicht nur das Essen fehlt, er braucht auch Kleidung, Medikamente für die Kinder, Kohle und Holz für die Lokomotive – es fehlt einfach alles. Doch Dejew, der ehemalige Soldat, der bisher nur Waren transportiert hat, ist fest entschlossen, die Kinder nach Samarkand zu bringen, durch den Bürgerkrieg und unwegsames Gelände, dorthin, wo es genug zu essen geben soll. Seine Ideen und sein persönlicher Einsatz sind waghalsig, kreativ und sehr gefährlich.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem Hintergrund geht es um die Hungersnot in Russland in den 1920er Jahren, das Leben der Menschen, vor allem der Kinder. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen, Obrigkeit, Mut, Zusammenhalt, Menschlichkeit und Liebe, aber auch um Bürgerkrieg, Gewalt und Vorurteile und auch um Schuld und Sühne.

Charaktere

Als ehemaliger Soldat ist der junge Dejew von seinen Erinnerungen traumatisiert. Er ist mutig, scheut keine Gefahren, verzweifelt, wütend und zornig, wenn es ihm nicht gelingt, die dringend notwendigen Dinge zu erhalten. Er beugt sich keiner Obrigkeit und seine beinahe Vorurteile bleiben auch dort bestehen, wo er auf Menschlichkeit trifft.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, in sieben großen Kapiteln, die als Überschrift jeweils die Anzahl der Menschen tragen, die im Mittelpunkt stehen, und dazu den betreffenden Teil der Strecke. Im Laufe der Handlung ergänzen Erinnerungen der einzelnen Figuren die aktuellen Ereignisse. Diese Vorgeschichten der Figuren zeigen jeweils die eigene Entwicklung, Vergangenheit, prägende Erlebnisse und erklären ihren Charakter näher, ihre Einstellung und Handlungen in der Hauptgeschichte. So wird Verhalten, über das man sich beim Lesen zuvor manchmal gewundert hat, erklärt und nachvollziehbar. Spannende Situationen wechseln ab mit Schilderungen von politischen Hintergründen, des Umfeldes und der Natur, die dieser Zug auf seiner langen Reise durchquert, sowie der Gedanken und Befindlichkeiten der einzelnen Hauptfiguren. Diese ausführlichen Schilderungen und die sich wiederholenden ähnlichen Beschreibungen des Zustandes der hungernden Kinder führen trotz der erschütternden Eindrücklichkeit zu Längen. Denn die Sprache spart nicht mit allen grausamen Details, um dann wieder extrem gefühlsbetont ins Schwülstige zu wechseln. Hier wäre meiner Meinung nach weniger mehr gewesen.

Fazit

Eine eindringlicher, beklemmender Roman, geschrieben gegen das Vergessen. Eine packende Geschichte, interessante Hauptfiguren und faktische Hintergründe, lebhafte, sprachgewaltige Schilderungen, obwohl ich mir gerade hier manchmal eine leisere Sprache gewünscht hätte, machen dieses Buch lesenswert.

Dschinns – Fatma Aydemir

AutorFatma Aydemir
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsdatum 14. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3446269149

„Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ (Zitat Seite 193)

Inhalt

In einer Woche wird Hüseyin Yılmaz sechzig Jahre alt und kann in Frührente gehen. Fast dreißig Jahre lang hat er in Deutschland gearbeitet und gespart, nun, 1999, hat er sich in Istanbul eine schöne, große Wohnung gekauft. Gerade sind die Möbel geliefert worden, sein Lebenstraum ist dabei, sich zu erfüllen, doch er kann ihn nicht mehr genießen. Dann an diesem ersten Tag in seiner neuen Wohnung erleidet er einen plötzlichen Herzinfarkt und stirbt. Ermine, seine Frau, und auch seine vier Kinder reisen aus Deutschland an und treffen in dieser Wohnung in Istanbul aufeinander und es ist nicht nur die Wohnung, die ihnen fremd ist. „Die Wohnung ist nur noch wie ein Museum, das Museum der Träume von Hüseyin Yilmaz. Und wer braucht schon Museen?“ (Zitat Seite 40)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Mitglieder einer Familie, die Eltern und vier Kinder. Sie alle haben unterschiedliche Wünsche und Träume und auch ihre Geheimnisse. Es geht um Kinder, heute erwachsen, die zwischen den Kulturen aufgewachsen sind. Gefangen in den Traditionen der Eltern, wollen sie in ihrer neuen Heimat Deutschland anerkannt werden und ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben leben.

Charaktere

Hüseyin ist in Deutschland verschlossen geworden und zeigt seine Gefühle nicht. Ermine ist durch ein Erlebnis während der ersten Jahre ihrer Ehe geprägt. Über Deutschland weiß sie auch nach Jahren nichts, sie kennt nur Schule, Kindergarten, den nahen Supermarkt und lebt weiterhin dem überlieferten Frauenbild ihrer Heimat entsprechend. So müssen Sevda, die älteste Tochter, Hakan, Peri und auch der erst fünfzehn Jahre alte Ümit versuchen, selbst ihren Weg zu finden und in ihren Sehnsüchten verstanden zu werden. „Der Tisch ist groß und rund, er erzählt von Plänen für gemeinsame Familienessen und Spieleabenden mit Okeysteinen. Also Dingen, die man in dieser Familie nie macht.“ (Zitat Seite 36)

Handlung und Schreibstil

Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie zwischen unterschiedlichen Träumen, Sehnsüchten, gegenseitigen Missverständnissen und Verletzungen, indem sie jeder Figur eine eigene Stimme gibt. Einer Art Prolog, Hüseyin in der neuen Wohnung in Istanbul, folgen fünf Abschnitte, einer für jedes Familienmitglied. So erfahren wir die detaillierten Lebensgeschichten jeder einzelnen Figur, ihre Eigenheiten, Ansichten, Probleme und mit jedem Kapitel öffnen sich weitere Einblicke in die Konflikte dieser Familie, deren Mitglieder einander teilweise zu fremd geworden sind, um einander noch zu verstehen. Gleichzeitig erfahren wir durch die unterschiedlichen Sichtweisen und Blickwinkel mit jedem Abschnitt mehr über die Hintergründe. Die Sprache erzählt einfühlsam, glaubhaft und authentisch, wechselt gekonnt zwischen Distanz und Nähe.

Fazit

Dieser Roman ist die Geschichte einer Familie zwischen den Kulturen, zwischen den traditionellen Werten der ländlichen Osttürkei und dem modernen Deutschland des Jahres 1999, wobei die Themen zeitlos sind. Jede der insgesamt sechs Figuren hat ihr eigenes Kapitel mit den persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Problemen, Geschichten die sich langsam zu einem Gesamtbild fügen. Diese besondere Art, von einer Familie zu erzählen, ist großartig, packend, lesenswert.

Nebenan – Kristine Bilkau

AutorKristine Bilkau
Verlag Luchterhand Literaturverlag
Erscheinungsdatum 8. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630875194

„Sie dreht sich um, betrachtet den Garten und fühlt sich auf einmal wieder beobachtet. Doch niemand ist zu sehen, das ist nur ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich hier an dieser Türe zu schaffen macht.“ (Zitat Seite 119)

Inhalt

Viele haben das Dorf am Nord-Ostsee-Kanal längst verlassen, auch die fünf Kilometer entfernte Kreisstadt zeigt zahlreiche Leerstände. Doch Julia fühlt sich sofort zu der Stadt mit ihren leeren Lokalen und Hinterhöfen hingezogen. Im Vorjahr hatten ihr Freund Chris und sie das alte Backsteinhaus in dem Dorf entdeckt, hergerichtet und sind aus der Großstadt hierhergezogen. Vor drei Monaten hat Julia ihren Keramikladen in der Kreisstadt eröffnet. Eines Tages kauft dort Astrid dort eine blaue Schale, für Marli, ihre Jugendfreundin. Astrid ist Ärztin, sie hofft, innerhalb dieses Jahres die Nachfolge für ihre Praxis lösen zu können, ihr Mann Andreas ist schon im Ruhestand. Astrids Tante Elsa, Mitte Achtzig, wohnt im Dorf im Haus neben Julia und so ist auch Astrid oft im Dorf. Anfang Januar fällt es Julia auf, dass sie die Familie Winter, die mit drei Kindern im Haus gegenüber wohnt, schon längere Zeit nicht mehr gesehen hat, sind sie noch nicht aus den Ferien zurück oder einfach ausgezogen? Astrid will einen Brief für Mona Winter abgeben, auch sie wundert sich. Doch außer Julia, Astrid, Elsa und einem Kind, das Julia im Garten des Hauses trifft, scheint sich niemand Gedanken über die verschwundene Familie zu machen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben in ländlichen Gegenden und vor allem um Dinge, die fehlen, verschwundene Nachbarn, fehlende Nachfolger, ein unerfüllter Kinderwunsch, Lücken in der eigenen Familiengeschichte, Alltagsprobleme, Konflikte und die Suche nach Antworten.

Charaktere

Julia mit ihrer Sehnsucht nach einem eigenen Kind, Astrid mit ihrem Wunsch nach einer Nachfolge für ihre Praxis und Elsa, die dabei ist, die Dinge ihres Lebens zu ordnen: es sind diese drei unterschiedlichen Frauen mit ihren Wünschen und Sorgen, die im Zentrum dieser Geschichte stehen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung beginnt im Winter, zu Beginn eines neuen Jahres und endet im Sommer. Sie wird ergänzt durch Erinnerungen und Gespräche, die Ereignisse aus der Vergangenheit erzählen. Abwechselnd steht entweder Julia oder Astrid im Mittelpunkt eines Kapitels. Zunächst begegnen sie einander, ohne sich zu kennen, Astrid kauft eine Schale, die Julia angefertigt hat, ohne zu wissen, dass Julia auch die Nachbarin von Elsa ist. Diese und weitere Begegnungen im Dorf und in der Kreisstadt verbindet die Autorin gekonnt zu einer gemeinsamen Geschichte, der Geschichte der Menschen, die schon immer hier gelebt haben und jener, die neu zugezogen sind. Die Sprache erzählt einfühlsam, lässt den Figuren Raum, ist nicht bemüht, auf jede Frage auch eine Antwort zu finden. Großartig sind die Schilderungen des Umfeldes, der Landschaft am Kanal, der das Dorf in einen Nord- und Südteil trennt, der alten Häuser und teilweise verwilderten Gärten, der Kreisstadt, der unterschiedlichen Stimmungen der Natur.

Fazit

Eine leise, einfühlsam und lebendig erzählte Geschichte über das Leben, über Lücken, Wünsche, Abschiede und Neubeginn. Ein Roman über den Alltag und die Themen unserer Gegenwart, der den Mut hat, Fragen für die eigenen Gedanken der Lesenden offen zu lassen, statt einfach Lösungen zu präsentieren, und dennoch positiv bleibt.

Dürrst – Simon Froehling

AutorSimon Froehling
Verlag Bilgerverlag
Erscheinungsdatum 1. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten266
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3037621004

„Als junger Erwachsener wolltest du dich als spontaner und chaotischer Mensch sehen, und es hat lange gedauert, bis du dir eingestehen konntest, dass du nur in der Routine aufblühst, dass du Alltagsrituale brauchst.“ (Zitat Seite 70)

Inhalt

Andreas Durrer, genannt „Dürrst“, verlässt mit sechzehn Jahren sein bürgerliches, gut situiertes Elternhaus und zieht in eine WG. Gleichzeitig schreibt er sich in den Vorkurs der Schule für Gestaltung ein. Sein erster großer Erfolg ist eine Installation, eine Nachbildung von „Giovanni’s Room. Inzwischen ist er achtunddreißig Jahre alt, hat einen Job in einem Museum, künstlerische Höhenflüge wechseln einander mit psychischen Sturzflügen ab. Nach Jahren der kurzen Abenteuer hält er sich für bereit, sich zu verlieben und eine Beziehung zu führen. Auch als Künstler will er wieder durchstarten, mit einem neuen Projekt an seine früheren Erfolge anschließen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um ein in allen Facetten intensiv gelebtes Leben. Themen sind die Kunst, die Kunstszene, die queere Szene, das breite Spektrum an zwischenmenschlichen Beziehungen.

Charaktere

Dürrst ist ein Künstler, dessen Leben zwischen Phasen extensiver Kreativität, Rastlosigkeit und völliger Antriebslosigkeit schwankt. Er ist immer noch auf der Suche nach Antworten auf die Frage, was er wirklich will vom Leben. Einerseits wünscht er sich eine echte Beziehung, gleichzeitig aber fühlt er sich eingeengt und auch die Angst, verlassen zu werden, ist immer präsent.

Handlung und Schreibstil

Der Autor wählt für diesen Roman eine eher seltene Erzählform, ein personaler Ich-Erzähler in der zweiten Person und durch dieses „du“ wird die gesamte Geschichte zum Monolog des Ich-Erzählers Andreas, genannt Dürrst. So wie die Gedanken sich nicht immer an chronologische Abläufe halten, wird auch diese Geschichte in Fragmenten erzählt, Erinnerungen, die er mit anderen teilt, über prägende Erlebnisse spricht, während seine Gedanken sich an wesentlich mehr erinnern, das er jedoch für sich behält, in seiner stillen Zwiesprache. Der chronologische Ablauf ist nur als ungefährer Rahmen, immer wieder unterteilt, zu erkennen. Diese besondere Erzählform, in Verbindung mit der eindringlichen, angenehm geradlinigen Sprache, führt zu einem ungemein intensiven, dichten Leseerlebnis, dieses „du“ zieht uns beim Lesen sofort wie ein starker Sog mitten in die Handlung, in das Geschehen. Wir sind Dürrst, fühlen mit ihm, sind wie sein Freundeskreis bei ihm, mit ihm unterwegs und sorgen uns um ihn in besonders rasanten, heftigen Phasen.

Fazit

Ein ungemein dichter, vielschichtiger Roman, eine Geschichte, rasant und direkt, einfühlsam, packend und mit einer besonderen Intensität von der ersten bis zur letzten Seite, die uns zunächst atemlos und sprachlos zurücklässt.

Die Erweiterung – Robert Menasse

AutorRobdert Menasse
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 10. Oktober 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten653
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518430804

„So geht Politik. Im Grunde ist Politik ein Spiel mit Kulissen, es ist wie im Theater: Vorne hast du symbolische Handlunge, dahinter die Technik.“ (Zitat Pos. 1276)

Inhalt

Begonnen hat alles mit dem Helm des Skanderbeg. Es ist ein ungewöhnlicher Helm mit einem Ziegenkopf auf dem Helmscheitel, zu sehen im Weltmuseum in Wien und ein Symbol für die Geschichte der Skipetaren in Europa. Der Ministerpräsident von Albanien hatte vor seiner Wahl versprochen, sich dafür einzusetzen, dass Albanien Mitglied der Europäischen Union wird. Nun sollen auf Grund der Weigerung Frankreichs nicht einmal die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Genau das ist der Moment, in dem Ismael Lani, sein Pressesprecher, den Ministerpräsidenten an Skanderbeg, ihren Nationalhelden, erinnert und Fate Vasa, Künstler und ebenfalls enger Berater des Ministerpräsidenten, die Idee aufnimmt und weiterführt. Albanien fordert die österreichische Regierung auf, den Helm zurückzugeben, was abgelehnt wird. Doch kurz darauf wird der Helm aus dem Museum in Wien gestohlen und rückt so in der Mittelpunkt der Ereignisse rund um die geplante Balkan-Konferenz über eine mögliche EU-Erweiterung.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Europa und die Europäische Union, um die Politik mit ihren Spielchen und Intrigen, aber auch um gesellschaftliche und persönliche Konflikte, Freundschaft, Familie, Beziehungen. Ein Kernthema ist die wechselvolle Geschichte des Westbalkans.

Charaktere

Auch in diesem Roman bringt der Autor seine unterschiedlichen Figuren auf den Weg, einige völlig unabhängig voneinander, andere gemeinsam, oder ihre Wege kreuzen sich im Laufe der Handlung. Mit charmant-bissiger Eleganz definiert er Charaktere, ihre Wünsche, Träume, oder den Verlust derselben. „Wir sind, sagte er, auf der Stelle tretend einen Schritt weiter.“ (Zitat Pos. 5861)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt während der Jahre 2019 und 2020 und wird ergänzt durch Rückblicke in Form von Erinnerungen und Erzählungen über Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefinden haben. Wir folgen den Hauptfiguren, die abwechselnd im Mittelpunkt der Handlung der einzelnen Kapitel stehen. Der Autor lässt sich Zeit, er schickt seine Figuren los, zeigt sie auch in ihrem persönlichen Umfeld, lässt uns an ihren Alltagsproblemen, Zweifeln und Sehnsüchten teilhaben, gleichzeitig führt er uns mit kritischem Witz durch die vielen Facetten der europäischen Politik. Doch der Schein trügt. Gerade hat man es sich noch im unterhaltsamen Lesevergnügen gemütlich gemacht, neugierig, mal schmunzelnd, mal nachdenklich, folgen wir den Entscheidungen und Wirrnissen der einzelnen Figuren, da wenden sich die Ereignisse und es beginnt ein rasanter Showdown.

Fazit

Was mit „Die Hauptstadt“ begann, wird mit diesem facettenreichen Roman, der auch sprachlich begeistert, genial und großartig weitergeführt.  

Quecksilberlicht – Thomas Stangl

AutorThomas Stangl
Verlag Matthes & Seitz Berlin
Erscheinungsdatum 18. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten267
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3751800846

„Wenn ich selbst erzählen müsste, warum ich mich an die Bücher und ans Lesen und später ans Schreiben angehängt habe, wie an etwas, das stärker, fester und lebendiger ist als ich, dann müsste ich wahrscheinlich mit meiner Großmutter oder meinen Großmüttern beginnen.“ (Zitat Pos. 555)

Inhalt

Es beginnt in einem Hinterhof eines Hauses in Wien Simmering, der schreibende Ich-Erzähler stellt sich einen Augenblick im Leben seiner damals dreizehn Jahre alten Großmutter vor, ein Ereignis, das ihr Leben für immer verändert hat. „Du schaust mich an, diese befremdliche Figur aus einer befremdlichen anderen Zeit. Ich muss mir einbilden, dass du mich anschaust, sonst würde es nicht funktionieren.“ (Zitat Pos. 51) Der Autor nimmt Episoden, Situationen aus dem Leben seiner Großmütter und seiner Familie, sowie aus dem Leben des ersten Kaisers von China, und verbindet diese Fragmente neu und beinahe beliebig mit Momenten aus dem Leben von berühmten englischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, ordnet die Fragmente neu und bringt sie so alle wieder zurück ins Leben.  

Thema und Genre

Im Mittelpunkt stehen das Schreiben und die Literatur als Möglichkeiten des Erinnerns und des unsterblichen Weiterlebens nach dem Tod als Romanfiguren dort, wie die eigene Biografie mit Romanfiguren verknüpft wurde.

Charaktere

Der schreibende Ich-Erzähler stellt seine Frage, ob die Sprache die Wirklichkeit neu erfinden kann, in den Mittelpunkt seiner Geschichte. Zwischen die geschichtlichen Figuren, die er durch sein Schreiben wieder ins Leben gerufen hat, schreibt er immer wieder auch sich selbst. Er schreibt, er beobachtet die leeren Straßen während der Pandemie, holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

Handlung und Schreibstil

Es ist eine Geschichte über das Leben und den Tod, realistisch und philosophisch und immer von allen Seiten betrachtet. Chronologische Abläufe lassen sich in diesem Gefüge nur vage erkennen und entschlüsseln sich nur langsam. Einen Teil bildet die eigene Familiengeschichte in Kindheitserinnerungen, persönlichen Erfahrungen, erzählten Geschichten und auch den Auslassungen darin. Die Gedankenreise führt den schreibenden Ich-Erzähler und auch uns Lesende aber viel weiter, zurück in das Reich von Qin Shihuangdi, erster Kaiser von China, in das ländliche England des neunzehnten Jahrhunderts, zu den englischen Dichterinnen, die dort gelebt haben, in das London des neunzehnten Jahrhunderts und wieder zurück nach Wien, damals und heute. Auch die Sprache ist eine unruhige Reise durch diese wie Schnipsel in die Luft geworfenen, irgendwie wieder aufgefangenen und mit zufälliger Leichtigkeit aneinandergereihten Fragmente, die dann doch, erstaunlicherweise, ein stimmiges Ganzes ergeben.

Fazit

Quecksilberlicht, schon der Titel und das Buchcover bleiben beim Lesen in den Gedanken haften und aus diesem diffusen Licht treten die einzelnen Personen heraus, erzählen kurz aus ihrem Leben, teilen ihre Gedanken mit uns, verschwinden wieder, um dann mit immer neuen Details und Geschichten wieder aufzutauchen. Der Tod begleitet alle diese Fragmente, doch in der Literatur und nun auch in diesem Roman leben sie alle weiter. Für Lesende, die Geschichten mit klar definierten Erzählsträngen schätzen, ist dieser ungewöhnliche Roman vermutlich nicht die richtige Wahl. Wenn man jedoch bereit ist, die gewohnte Wohlfühlzone zu verlassen, so erlebt man mit diesem Buch facettenreiche, ungewohnte und fordernde Lesestunden.

Blutbuch – Kim de l’Horizon

AutorKim de l’Horizon
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 19. Juli 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832182083

„Aber das geht nicht, diese Ploterei, vorgetrampelte Pfade im Sand. Der Weg muss im Gehen entstehen.“ (Zitat Pos. 441)

Inhalt

Die Erzählfigur ist sechsundzwanzig Jahre alt, lebt in Zürich und schreibt an einem Brief an die an Demenz erkrankte Großmutter. Es geht darin auch um Dinge, über die nie geredet wurde, doch das ist nur ein kleiner Teil. Es geht um die bisherigen Lebenserinnerungen der Erzählfigur, doch auch das ist nur ein Teil, denn es geht auch um das Leben der Großmutter, um ein mögliches Füllen der Lücken in der Geschichte der Familie und es geht auch darum, den weiblichen Vorfahren im jahrhundertealten Stammbaum endlich eine Stimme zu geben. Dies alles fächert sich weit auf, wie die Äste der Blutbuche, jener Baum in Großmutters Garten, an den sich die Erzählfigur am besten erinnert.

Thema und Genre

Dieser autofiktionale Roman geht neue Wege, zeigt, wie ein Familien- und Generationenroman der Gegenwart aussehen kann. Die traditionellen Gesellschaftsstrukturen werden hinterfragt und aufgelöst. Es geht um die Suche nach dem „Ich“, welches nicht in die althergebrachten Normen „er“ oder „sie“ gepresst sein will, um das Ankommen im eigenen Körper und gleichzeitig ist es auch eine facettenreiche Suche nach neuen Möglichkeiten der sprachlichen Ausdrucksweise.

Charaktere

„Ich schreibe dir, weil: Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.“ (Zitat Pos. 331). Zu Beginn des Schreibens fühlt sich der Körper der nonbinären Erzählfigur wie eine Fremdsprache an, das Schreiben ist auch eine Suche nach der eigenen Körpersprache. Der natürliche Jahreslauf der Blutbuche aus Dastehen, Laub abwerfen, Ausharren, neues Laub bilden, Verwandeln, steht auch für den Weg der Erzählfigur.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung ist in fünf Teile gegliedert. Die Abschnitte des ersten Teils entstehen aus Kindheitserinnerungen an die Großmutter, im zweiten Teil sind es Erinnerungen an Ereignisse und Situationen in der Kindheit der Erzählfigur. Im vierten Teil gehen die Recherchen viele Generationen weit zurück. Die Mutter der Erzählfigur hat die weibliche Blutlinie des Familienstammbaumes genau recherchiert und mit den auffindbaren Lebensgeschichten ergänzt und die Erzählfigur beschäftigt sich mit diesen Aufzeichnungen. Die völlig andere Erzählsprache im dritten Teil dagegen bewegt wird atemlos, rasant, manchmal rauschhaft, hemmungslos, als Ausdruck der ebenso hemmungslosen sexuellen Erfahrungen und Träume der Erzählfigur. Der fünfte Teil schließlich wird poetisch, geschrieben in englischer Sprache und es zeigt sich wieder, wie wenig Worte diese Sprache benötigt, um deutlich und intensiv Gefühle und Beschreibungen von Situationen und Naturerfahrungen wiederzugeben, wo die deutsche Sprache sich immer wieder in langen Satzgebilden verhakt. Die Erzählfigur wächst in Ostermundigen bei Bern auf. Im bernerdeutschen Dialekt heißt Mutter Meer, angelehnt an das französische mère, die Großmutter daher Großmeer, und das wird auch so geschrieben. Wasser ist, neben der Blutbuche, ein immer wiederkehrendes Motiv in diesem Roman und so gleiten die einzelnen Fragmente und auch die Sprache voran wie die Wellen des Meeres.

Fazit

Dieser Roman der Gegenwartsliteratur fordert uns Lesende mit allen Sinnen, denn er öffnet sich wie eine Wundertüte, wir finden eine Familiengeschichte, eine Generationengeschichte, eine Coming-of-Age-Geschichte, eine Geschichte über Freundschaft und die manchmal leise, manchmal aufbrausend pulsierende, zornige Suche nach einer Ausdrucksform für das eigene Ich und den Platz im eigenen Körper. Gleichzeitig ist es ein Streifzug durch die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten literarischer Ausdrucksformen.

Die Dringlichkeit der Dinge – Markus Grundtner

AutorMarkus Grundtner
Verlag edition keiper
Erscheinungsdatum 22. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten230
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903322554

„Ich hasse Gedanken, die ohne jegliche Rechtsgrundlage von meinem Kopf Besitz ergreifen und sich auch noch als dessen Eigentümer aufspielen Es ist Zeit, die wahren Besitz- und Eigentumsverhältnisse an meinem Kopf zu klären (Zitat Pos. 85)

Inhalt

Mag. Mathias Gandt, siebenundzwanzig Jahre alt, hat sein Jus-Studium erfolgreich beendet und sich bei einer angesehenen Wiener Rechtsanwaltskanzlei beworben. In zwei Jahren kann er zur Anwaltsprüfung antreten und genau so steht es auf seiner Liste der drei K für die nächsten fünf Jahre: Kanzlei, Karriere, Kind, in dieser Reihenfolge, ein geordneter Ablauf. Doch dann tritt vor dem offenen Bücherschrank am Wiener Margaretenplatz Klaudia Antonini in sein Leben. Nach dreizehn enttäuschenden Jahren in Wien ist die temperamentvolle Italienerin auf dem Weg zurück nach Triest. Doch mit Mathias, der sein Leben nach juristischen Grundsätzen organisiert, wagt sie einen Neubeginn in Wien und fügt den drei K ein viertes K hinzu: K wie Klaudia, wobei sie es mit der Reihenfolge nicht so genau nimmt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Wendepunkte im eigenen Leben, Neubeginn, Beziehungen,  Lebensplanung, und dazu eine gute Portion an juristischen Themen wie Sachenrecht, Mietrecht, Vertragsrecht und den beruflichen Alltag von Rechtsanwälten.

Charaktere

Mathias ist ein von den Paragrafen überzeugter Jurist und ordnet auch seine Alltagsprobleme nach juristischen Denkmustern. Klaudia handelt spontan, erklärt wortreich, was sie will und was nicht. Mathias sucht die drei K, sie die 3 L: Liebe, Literatur, Lehre.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in der Gegenwart, Ort der Handlung ist Wien. Die Hauptfigur Mathias ist der Ich-Erzähler. Seine erste richtige Anstellung als Konzipient, nicht mehr nur als Praktikant wie während seines Jus-Studiums, ist ein wichtiger Schritt auf seinem genau geplanten Weg zum Rechtsanwalt. Zwischen den sachlichen Formulierungen der Gesetzestexte fühlt er sich wohl und sicher und er erwartet, dass dieses Jahr, der Zeitraum der Handlung, ebenso strukturiert ablaufen wird. Diese Hauptfigur lässt der Autor auf eine temperamentvolle, spontane Italienerin mit einem Universitätsabschluss in Literatur treffen. Es sind diese Gegensätze, welche die Stärke dieser Geschichte ausmachen, originell, ungewöhnlich und dennoch charmant, und mitten aus dem Leben unserer Zeit gegriffen. Die Sprache verpackt sogar einen Ausflug in eine breite Palette von Rechtsformen und betitelt die Überschriften als Paragrafen mit jeweils einem treffenden Stichwort.

Fazit

Neugierig und gespannt folgt man den beiden Hauptfiguren. Gegensätze ziehen sich an, sagt ein Sprichwort, aber können solche Gegensätze in eine funktionierende Beziehung führen? Ein amüsantes, interessantes Buch, eine originelle Geschichte auch für Lesende ohne besondere juristische Vorkenntnisse. Für mich eine Entdeckung auf der österreichischen Longlist 2022, die mich überzeugt hat.

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen – Verena Roßbacher

AutorVerena Roßbacher
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 10. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3-462-00119-8

„Tatsache war: Aus dem völlig vergagelten Kind war eine hundertprozentig chaotisch zusammengewürfelte Erwachsene geworden.“ (Zitat Pos. 2265)

Inhalt

Charly Benz ist dreiundvierzig Jahre alt und lebt in Berlin. Sie arbeitet im Marketing von LuckyLily, einer veganen Foodcompany, wobei Charly weder Veganerin, noch wenigstens Vegetarierin ist. „Ich hatte keine Ahnung von Marketing und machte einen guten Job. Diese Tatsache allein war so himmeltraurig, dass ich hätte heulen können.“ (Zitat Pos. 280) Ihre Post bringt sie alle zwei Wochen zu Herbert Schabowsky, der sie für sie öffnet und sortiert. Dies mit viel Kaffee, Mohawk Red Zigaretten und Gesprächen über Gott und die Welt. Charly ist so etwas wie eine chaotische Optimistin, die sich zu viele Sorgen macht, Single, manchmal einsam, aber nicht unglücklich. Dennoch – zur Zeit fühlt sie sich in der Eintönigkeit gefangen, aber aus eigenem Antrieb schafft sie keinen Neubeginn. Bis mehrere Dinge gleichzeitig geschehen: von ihrer Schwester Sybille hatte sie zum Geburtstag einen Gutschein für die Teilnahme an einer Familienaufstellung bekommen, doch Charly hatte keine Absicht, hinzugehen. Nun trifft sie mit Herrn Schabowsky die Vereinbarung, an dieser Familienaufstellung teilzunehmen, wenn er im Gegenzug dringend notwendige ärztliche Untersuchungen machen lässt, bei denen sie ihn begleitet. Beides setzt völlig unvorhersehbare Ereignisse in Gang.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Romans steht eine eigenwillige, moderne Frau, die sich ihren vielen Fragen und Themen zu stellen versucht. Es geht um Freundschaft, Familie, Beziehungen, Liebe in vielen Facetten, kurz, um die bunte, manchmal verwirrende Vielfalt des Lebens.

Charaktere

Charly isst nicht Schokolade, sondern verkohlte Croissants zum Frühstück, dazu Kaffee und Zigaretten. „Fazit: Mein Leben sah nicht gut aus. Verzehrte Croissants: fünf. Zigaretten: viele. Fertig.“ (Zitat Pos. 320) Sie ist vielleicht nicht perfekt, dafür unwiderstehlich und liebenswert, man wünscht sie sich sofort als BFF, ab der ersten Seite dieses Romans.

Handlung und Schreibstil

Charly Benz ist eine chaotische Ich-Erzählerin, die in Bezug auf ihre Person gerne mal untertreibt. Der Handlungsrahmen umfasst etwa ein Jahr, verläuft nicht unbedingt chronologisch, alles andere wäre bei dieser Ich-Erzählerin auch eher erstaunlich. Ergänzungen durch viele Erinnerungen und Rückblenden lassen Raum für eigene Überlegungen und ergeben in Verbindung mit den aktuellen Ereignissen ein sehr gelungenes Gesamtbild. Die Sprache passt perfekt zu dieser eigenwilligen Hauptfigur.

Fazit

Moderne Frauenliteratur, die zeigt, was in diesem Genre möglich ist, überzeugend und sehr erfrischend, weil ohne Protagonistinnen, die in jammerndem Selbstmitleid versinken. Eine originelle, einfühlsame und positive Geschichte von unglaublich komisch, schräg, skurril bis zu ernst, traurig, nachdenklich – bittersüß, wie das Schokoladekonfekt im Titel.

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