Vierundsiebzig – Ronya Othmann

AutorRonya Othmann
VerlagRowohlt Buchverlag
Datum12. März 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-349800361

„Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist. Die Sprachlosigkeit ist das Unbeschreibliche, und sie ist selbst Teil des Textes.“ (Zitat Pos. 93)

Inhalt

Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann ist in Deutschland aufgewachsen, als Tochter eines êzîdischen Vaters und einer deutschen Mutter. Im August 2014 ist sie einundzwanzig Jahre alt, als sie vor dem Fernsehgerät sitzt und versucht, in Gedanken und Worte zu fassen, was an diesem 3. August 2014 in Shingal geschehen ist, der vierundsiebzigste Ferman, ein Massaker durch IS-Kämpfer an den andersgläubigen Jesiden. Menschen, die fliehen konnten, kommen in den Bergen von Shingal um, die Männer, die im Vertrauen auf ihre arabischen Nachbarn geblieben sind, werden getötet, junge Frauen und Kinder werden auf Sklavenmärkten verkauft. Nach und nach ergibt sich das Bild dieser Ereignisse und der Verbrechen während der Besatzungszeit durch den IS aus den vielen Gesprächen, die sie führt, Camps, die sie besucht, in denen auch Familien leben, die vor dem IS aus Shingal geflohen sind, Fragen, die sie stellt und die doch keine Fragen sind, als sie 2018 in den Irak fliegt und ihre Familie in Silêmanî in der Region Kurdistan besucht. Am ersten Oktober 2022 fliegt sie mit ihrem Vater wieder nach Erbil und gelangt auf abenteuerlichen Wegen von Bagdad über Mossul nach Shingal und damit findet dieser Roman ein formales Ende, auch wenn die Geschichte nicht abgeschlossen werden kann.

Thema und Genre

In dieser literarischen Form eines dokumentarischen Romans zwischen Fakten, Autobiografie, Erinnerungen und tagebuchartigen Aufzeichnungen geht es um den Genozid an den Jesiden, den Versuch, die Ereignisse in einen Text zu fassen, das unvorstellbare Leid, welches der IS über die Menschen in dieser Region gebracht hat und das sich für die Autorin nicht in Worte fassen lässt, aber auch um die karge Schönheit des Landes, um die gelebte Gastfreundschaft und darüber, was Familie bedeutet.

Erzählform und Sprache

Die Texte sind Fragmente, Ronya Othmann schreibt, fügt Worte zu Sätzen zusammen, die Gedanken und Eindrücke kommen und gehen. Wiederholt nähert sie sich und ihre Texte dem Jahr 2014 an, recherchiert in der Bibliothek, liest die Berichte, liest und hört ihre Aufzeichnungen, ergänzt mit ihren persönlichen Erinnerungen, nicht immer chronologisch, aber durch Jahreszahlen und Datumsangaben zuordenbar. Immer wieder die Frage an sich selbst als Schriftstellerin, wie sie über all das Unfassbare schreiben soll, das passiert ist. Sie bezweifelt das erzählerische „Ich“, da sie dies nicht persönlich erlebt hat, die Alltäglichkeiten, die sie beschreibt, eingebunden in die Texte über die Verbrechen an den Êzîden, über die sie aber schreiben muss, damit sie nicht vergessen werden. „Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt. Die verborgenen und aufklaffenden Lücken, nicht unter dem Text, sondern darin.“ (Zitat Pos. 5965)

Fazit

Vielfältig, literarisch ungewöhnlich, eine tief beeindruckende Leseerfahrung.

Pi mal Daumen – Alina Bronsky

AutorAlina Bronsky
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Datum15. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004250

„Moni saß neben mir, nachdem sie ihre Ikea-Tasche in den Gang gestellt hatte. Daraus lugten ein kleiner, bunter Gummistiefel und mehrere Stangen Lauch hervor.“ (Zitat Pos. 91)

Inhalt

Semesterbeginn, die erste Vorlesung Analysis hat schon begonnen, als Moni Kosinsky in den Hörsaal kommt und sich auf den freien Sitz neben Oscar setzt. Oscar, Graf von Ebersdorff, ist erst sechzehn Jahre alt, hochbegabt und sagt immer, was er denkt, da soziales Verhalten und das Knüpfen von Kontakten definitiv kein Thema für den leicht autistischen Einzelgänger sind. Moni, dreiundfünfzig, als Großmutter von drei Enkeln und Inhaberin mehrerer Nebenjobs immer unter Zeitdruck, will sich endlich den Traum vom Mathematik-Studium erfüllen. Da sie in einigen Fächern Zweiergruppen bilden müssen, für Oscar ein notwendiges Übel, das er gerne umgangen hätte, denn „Gut bin ich selber“ (Zitat Pos.134) scheint ihm Moni die beste Lösung zu sein. Womit er Recht hat, denn bald stellt sich heraus, wie gut sie als Zweiergruppe auch die nicht immer einfachen Anforderungen des Alltags meistern.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um zwei Menschen aus unterschiedlichen Generationen und Gesellschaftsschichten, beide sind auf ihre Art Außenseiter. Themen sind Familie, Freundschaft, Vorurteile, Träume und Wünsche an das eigene Leben und natürlich die Mathematik.

Erzählform und Sprache

Oscar ist der Ich-Erzähler der Geschichte und schildert die Ereignisse chronologisch. Da er ein extrem guter Beobachter ist und gewohnt ist, alle Ereignisse, auch die alltäglichsten Kleinigkeiten, in seinen Gedanken genau zu analysieren, erfahren wir nicht nur viel über ihn selbst, sondern auch über Moni und deren Familie. Spannend sind Oscars innere Gedankenströme, denn so können wir besser nachvollziehen, wie einfach für ihn auch sehr komplexe mathematische Fragen zu lösen sind, aber wie herausfordernd es für ihn wird, wenn es um menschliches Miteinander und emotionale Empathie geht. Diese völlig gegensätzlichen Charaktere und ihr ebenso unterschiedliches persönliches Umfeld funktionieren großartig, füllen die Geschichte mit Leben und Spannung. Die mit der Handlung vernetzten mathematischen Themen werden interessant und allgemeinverständlich erklärt. Die Erzählsprache ist eine überzeugend ausgewogene Mischung zwischen einfühlsam, nachdenklich, frech und sehr witzig.

Fazit

Zwei liebenswerte Hauptfiguren und eine unterhaltsame, aber keineswegs triviale Geschichte, die man mit großem Vergnügen liest.

Ich spreche von Blau, nicht vom Meer – Hussein Bin Hamza

AutorHussein Bin Hamza
NachwortMichael Krüger
Verlag Edition CONVERSO
Erscheinungsdatum 25. Februar 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten96
SpracheArabisch/Deutsch
ÜbersetzerGünther Orth
ISBN-13978-3981976366

„Wir begruben unsere Lieben / unter einer dünnen Schicht Erde / in der Hoffnung / dass sie noch einmal nachwachsen.“ (Gedicht Aussaat, Seite 51)

Inhalt

Dies ist eine zweisprachige Ausgabe von Gedichten des syrisch-kurdischen Dichters und Journalisten Hussein Bin Hamza. Geboren in Al-Hasaka, Syrien, lebte er ab 1995 in Beirut, wo er als Schriftsteller, Literaturkritiker, Redakteur und Verlagsleiter tätig war und floh 2017 mit seiner Familie nach Deutschland. Dieser Gedichtband umfasst neunundfünfzig Gedichte, die eines gemeinsam haben: sie alle sind ab 2017 in Deutschland entstanden. „In Deutschland, wo ich seit 2017 lebe, fühle ich mich nicht wie einer, der nach langer Zeit wieder anfängt zu dichten, sondern wie einer, der zum ersten Mal schreibt. Hier in Deutschland wurde ich zu einem neuen Dichter.“ (Hussein Bin Hamza, Seite 88). Der Gedichtband schließt mit einem Nachwort des Schriftstellers und Dichters Michael Krüger.

Themen und Sprache

In einem Teil dieser Gedichte geht es um die Liebe, um Sehnsucht und um die Zerbrechlichkeit der Liebe. In dem Gedicht „Nach der Liebe“ stellt der Dichter fest, „Wenn wir lieben, hat die Poesie Pause“ (Seite 39), denn die richtig guten Gedichte entstehen erst, nachdem man verlassen wurde. Hussein Bin Hamza beobachtet aber auch erstaunt und skeptisch seine neue Heimat, seinen deutschen Nachbarn, die Natur, doch das Hauptthema dieser Texte sind Flucht, Fremde und vor allem Einsamkeit. „Ich kleidete meine Einsamkeit in einen Wollschal / gab ihr zwei dicke Handschuhe / und zerrte sie nach draußen“ (Zitat aus „Zwei Flecke“, Seite 70). Es ist die poetische Sprache, die, oft lyrisch-metaphorisch knapp, mit einer unglaublichen Intensität ihrer Worte Bilder malt, die sich sofort tief in unsere Gedanken und Gefühle prägen und die uns einzelne Sätze und Gedichte immer wieder lesen und mit neuen Facetten entdecken lässt.

Fazit

Es sind Gedichte, die ihren Gedanken- und Gefühlsreichtum oft in wenig Worte und kurze Sätze fassen, dies so poetisch leise und eindringlich, dass wir beim Lesen Tränen in den Augen, gleichzeitig aber ein Lächeln auf den Lippen spüren.

Schecks Bestsellerbibel: Schätze und Schund aus 20 Jahren – Denis Scheck

AutorDenis Scheck
Verlag Piper Verlag
Erscheinungsdatum 29. August 2024
FormatGebundene Ausgabe
IllustratorTorben Kuhlmann
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492072946

„Gute Literaturkritiker müssen genau wie gute Buchhändler und gute Bibliothekare auch über dieses intuitive Einschätzungsvermögen verfügen, welches Buch zu welcher Leserin, zu welchem Leser passt.“ (Zitat Seite 33)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist ein literarischer und zeitgeschichtlicher Rückblick auf die vergangenen zwanzig Jahre und zugleich eine fundierte Auseinandersetzung des Literaturkritikers Denis Scheck mit den monatlichen Spiegel-Bestsellerlisten Belletristik und Sachbuch.

Umsetzung

Schecks Bestsellerbibel beginnt treffend mit den zehn Geboten des Lesens, gefolgt von einem Vorwort, ein persönlicher literarischer Rückblick des Lesers Denis Scheck. Interessant ist die Liste der zehn meistverkauften Bücher aller Sprachen und Zeiten, erstellt im Jahr 2013, wobei alle religiösen Schriften und Comics  ausgenommen wurden.

Daran schließt der Hauptteil dieses Buches an. Jeder große Abschnitt umfasst ein Jahr von 2023 bis 2003, und beginnt mit einem Essay zu einem bestimmten Thema. Weit gefächert geht es um Literaturkritiker, Bücher als mögliche Therapie, Leser und das Lesen.

Alle Artikel, einer pro Jahr, schließen mit einem kurzen Überblick über die wichtigsten Ereignisse des betreffenden Jahres, einer Aufstellung der Preisträger aller Literaturpreise, der im jeweiligen Jahr verstorbenen literarischen Persönlichkeiten und kurzen Statements von Denis Scheck zur Situation auf dem Büchermarkt.

Die detailliert besprochenen Spiegel-Bestsellerlisten beginnen mit der Sachbuch-Liste Februar 2023, der Belletristik-Liste März 2023 und schließen mit der Belletristik-Liste Juni 2003 und der Sachbuchliste November 2003 ab. Am Ende des Buches findet sich ein alphabetisches Namensregister alle genannten Autoren und Autorinnen.

Fazit

„Literatur ist Zauberei. Wortmagie. Für mich die größte Kunstleistung der Menschheit.“ (Zitat Seite 13) So ist auch dieses Buch eine magische, literarische Fundgrube mit vielen interessanten Informationen, eine kritische, und dennoch unterhaltsame, Auseinandersetzung mit dem wirtschaftlich erfolgreichen belletristischen Massenmarkt der letzten zwanzig Jahre. Man muss mit Denis Scheck nicht immer einer Meinung sein, entdeckt durch ihn aber auf jeden Fall Bücher für die persönliche Wunsch-Leseliste, die man in der Vielfalt des Buchmarktes übersehen hatte.

Todesspur – Andreas Gruber

AutorAndreas Gruber
VerlagGoldmann Verlag
Datum16. Oktober 2024
AusgabeTaschenbuch
Seiten624
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442494484

„Seit einem Jahr geistern Informationen über die Bildung einer vierten Generation der RAF durchs Darknet. Die Gruppe hat aus ihren Fehlern der Vergangenheit gelernt und formiert sich gerade still und heimlich und völlig anonym.“ (Zitat Seite 40)

Inhalt

Dr. Paul Conrad hat Soziologie, Psychologie und Philosophie studiert und der ehemalige Universitätsprofessor ist dem BND als Sympathisant der RAF-Nachfolger bekannt. Jetzt, in dieser Gewitternacht auf Sonntag 19. Mai stellt er plötzlich fest, dass alle seine Konten gesperrt sind. Ein  Blitz erhellt das Heck eines Wagens, Kennzeichen WI, hinter einer Hecke auf dem Nachbargrundstück und Dr. Paul Conrad startet eine Reihe von blitzschnellen Aktionen. So gelingt es ihm, einem Spezialeinsatzkommando der BKA-Ermittler zu entkommen und damit verliert Maarten S. Sneijder die bisher wichtigste Spur zu der neuen RAF-Terrorgruppe Vierte Generation, deren erster Anschlag erst der Beginn einer geplanten großen Anschlagserie ist. Warum aber hält Dr. Paul Conrad unter dem Alias Ron D. Pacula Seminare für positives Denken ab, wie passt das zu einem RAF-Terroristen. Die Zeit drängt, Maarten S. Sneijder hat eine Idee, die ihn und sein Team in ein Luxusressort auf Mallorca führt.

Thema und Genre

In diesem achten Band der Thrillerserie um die BKA-Ermittler Maarten S. Sneijder und Sabine Nemez geht es um eine drohende Serie von Großanschlägen einer neuen RAF-Terrorgruppe und um eine spezielle Idee, an persönliche Daten zu kommen. Im Mittelpunkt der Ermittlungen stehen auch diesmal wieder eigenwillige Profiler Maarten S. Sneijder und sein erfolgreiches Ermittlungsteam.

Erzählform und Sprache

Die rasante Handlung findet auch diesmal in einem straffen Zeitrahmen von nur einer Woche statt, mit einem kurzen Epilog eine Woche danach, und spielt in der aktuellen Zeit. Es sind zwei parallel verkaufende Fälle, die abwechselnd in neun Teilen, jeweils mit Tag und Datum versehen, und insgesamt 106 Kapiteln geschildert werden. Diese Form des Erzählens macht die Geschichte packend und enthüllt gleichzeitig viele kleine Details, die sich langsam immer mehr zu einem Ganzen fügen. Die Ereignisse sind nachvollziehbar, die einzelnen Figuren sind auch in diesem neuen, achten Fall des Ermittlerteams, interessant und stimmig charakterisiert, auch die persönliche Entwicklung entspricht der Realität des Lebens. Die Sprache passt perfekt ins Genre.

Fazit

Auch dieser achte Band um den eigenwilligen, erfolgreichen niederländischen Profiler und forensischen Kripopsychologen Maarten S. Sneijder überzeugt durch aktuelle Themen, eine präzise durchdachte Geschichte, facettenreiche Figuren und Spannung. Es empfiehlt sich, mit dem Lesen an einem Samstag zu beginnen, denn eine „durchlesene“ lange Nacht ist mit diesem Page-Turner garantiert.
 

Eine Nebensache Adan- ia Shibli

AutorAdania Shibli
VerlagUnionsverlag
Datum29. Juli 2024
AusgabeTaschenbuch
Seiten128
SpracheDeutsch
ÜbersetzerGünther Orth
ISBN-13978-3293710177

„Und so kam es also, dass ich jenen Artikel las, an dem mich ein ganz bestimmtes Detail interessierte, nämlich das Datum des darin geschilderten Vorfalls.“ (Zitat Seite 65)

Inhalt

Die junge Ich-Erzählerin hat gerade einen neuen Job begonnen und ist auch in eine neue Wohnung gezogen. An die Checkpoints und Kontrollen durch Militärstreifen hat sie sich längst gewöhnt, daher wäre die Geschichte, die sie zufällig in der Zeitung liest, trotz der Tragik für sie nichts Außergewöhnliches gewesen. Was ihr jedoch sofort auffällt, ist das Datum, der 13. August 1949, an dem sechs Schüsse das Leben eines Beduinenmädchen gewaltsam beendet haben, denn am 13. August, genau fünfundzwanzig Jahre später, wurde sie geboren. Da sie generell unfähig ist, Grenzen zu erkennen, ist ihr sofort klar, dass sie wegen dieses besonderen Datums wieder einmal Grenzen überschreiten wird, denn sie will wissen, was damals wirklich geschehen ist und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit hinter der Geschichte des Mädchens.

Thema und Genre

Dieser Roman greift zeitlos brisante Themen auf, Gewalt an Frauen in Kriegszeiten, kriegerische Auseinandersetzungen, Einengung durch Kontrollpunkte und Gebietsgrenzen, Alltagsleben zwischen Palästina und Israel. Vor allem geht es um die Möglichkeiten des erzählenden Schreibens, um Wahrheit und Medienethik, besonders in der Kriegsberichterstattung.

Erzählform und Sprache

Adania Shibli erzählt diese Geschichte in zwei Teilen und wählt dafür auch zwei unterschiedlichen Erzählformen. Im ersten Teil berichtet ein auktorialer Erzähler über eine zur Grenzsicherung eingeteilte Einheit israelischer Soldaten am Rande der Negev-Wüste und den Ablauf der Ereignisse zwischen dem 9. und 13. August 1949. Im zweiten Teil beginnt eine junge Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht kennen, auf Grund eines Zeitungsartikels mit eigenen Nachforschungen, die sie bis an den Ort des damaligen Geschehens führen.

Trotz oder gerade wegen der für einen Roman relativ wenig Seiten ist dies eine Geschichte von hoher sprachlicher und inhaltlicher Dichte. Spannend sind auch besondere Parallelen, die nur wir Leser erkennen, da die Ich-Erzählerin gewöhnt ist, auf Details zu achten und diese in ihrer Schilderung auch immer wieder erwähnt. Die Sprache ist einfühlsam, poetisch und die Ich-Erzählerin überzeugend authentisch.

Fazit

Eine beeindruckende, auch in der Erzählform intensive Geschichte, in der es um wesentlich mehr geht, als das Einzelschicksal eines bis heute unbekannten Beduinenmädchens. Dieser Roman ist keine Nebensache, fiktiv an keine Grenzen gebunden, zeigt er die Auswirkungen von kriegerischen Auseinandersetzungen und Gewalt auf und regt zum Nachdenken an.
 

Die Wirtinnen“  von Silvia Pistotnig

AutorSilvia Pistotnig
VerlagElster & Salis Verlag
Datum9. Mai 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten360
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3039300464

„Nur nicht an das Orgelspielen und die Musik denken. Das war nichts, womit sich ein Essen auf den Tisch stellen oder ein Mann finden ließ.“ (Zitat Seite 62)

Inhalt

Es sind die Arbeit und die Verantwortung für das familieneigene Gasthaus in einem Kärntner Dorf, welche das Leben der beiden Frauen, Johanna und Marianne, ihre Tochter, prägen. Sowohl die hochbegabte Johanna mit ihrer Liebe zur Musik und zu den Tasteninstrumenten, als auch Marianne mit ihrer Affinität für Zahlen und Mathematik, haben keine Chance, ihre Träume und Wünsche an das Leben verwirklichen zu können. Mariannes Tochter, die junge, rebellische Getrud „Trudi“, schämt sich für ihr Zuhause in diesem in die Jahre gekommenen Familiengasthof und plant, dieses sofort nach der Matura verlassen, nach Wien zu gehen und dort zu studieren. Dieser Wunsch kann sich erfüllen, denn ihr älterer Bruder Thomas studiert bereits, nicht jedoch ihr Traum von einer Fußball-Karriere als Mädchen in diesen frühen 1990er Jahren. Noch aber lebt Trudi bei ihrer altmodischen, verschlossenen Großmutter Johanna und ihrer Mutter Marianne, die auf Grund der Arbeit im Gasthaus kaum Zeit für sie hat, und versucht, sich in dem eigenartigen, komplizierten Gefüge der Generationen ihrer Familie zurechtzufinden. „Kann mir irgendwer irgendwas erklären?“ (Zitat Seite 309)

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um traditionelle Rollen der Frau, Gehorsam und Pflichtgefühl. Diese starren Gefüge lassen keine Veränderungen und schon gar kein Ausbrechen zu, Begabungen und eigene Lebensträume sind unerfüllbare Wünsche, geopfert der Verantwortung für die Familie.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte erstreckt sich über die Jahre 1936 bis 2022 und ist in Kapitel eingeteilt, wobei jeweils eine der drei Frauen, Johanna, Marianne oder Gertrud, im personalen Mittelpunkt steht. Die einzelnen Erzählstränge der drei Hauptfiguren verlaufen in sich chronologisch, jedes Kapitel trägt als Überschrift den entsprechenden Namen und die Jahreszahl. Dadurch ergibt sich eine vielschichtige Handlung, sehr klar strukturiert und nachvollziehbar. Gleichzeitig wird die Geschichte dadurch packend, da sich Details, die wir als Leser bereits aus den Schilderungen der Geschehnisse in Johannas Vergangenheit kennen und über die in der Familie geschwiegen wird, für Marianne und Getrud erst viel später durch Antworten auf ihre Fragen zumindest teilweise enthüllen. Doch wichtige Ereignisse, besonders in Johannas Leben, bleiben ungesagt, dadurch können wir Johannas Verhalten besser verstehen, als ihre Tochter und Enkelin. Die Autorin verändert auch ihre Erzählsprache passend zur jeweiligen Zeit und Figur. So sehen wir mit Johannas Augen die Großstadt Wien im Jahr 1938, wo sie eine Stelle als Dienstmädchen antritt, und Trudi, oder wie sie genannt werden will, Geri, wird 1994 durch ihre Sprache sofort zur erfrischend unangepassten Jugendlichen, die sie ja auch ist.

Fazit

Eine facettenreiche Familien- und Generationengeschichte, in deren Mittelpunkt drei Frauen stehen, von denen jede auf ihre Art besonders ist, die sich jedoch auf Grund des Umfeldes und der Lebensumstände nicht so entfalten können, wie es ihren Begabungen und Wünschen entspricht. Skurrile Momente und die genaue, aber dennoch einfühlsame, liebevolle Zuwendung, mit der die Autorin auf ihre Figuren blickt, machen diese Geschichte zu einem überzeugenden Leseerlebnis.

Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre – Monika Zeiner

AutorMonika Zeiner
Verlagdtv Verlagsgesellschaft
Datum12. September 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten672
SpracheDeutsch
ISBN-13ISBN-13: 978-3423284240

„Ich war lange Zeit nicht mehr in der Villa Sternbald gewesen, aber ich hatte sie mir oft vergegenwärtigt, als müsste mir die Erinnerung etwas zeigen, das bisher verborgen gewesen ist.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Seit Generationen stellt das Familienunternehmen Finck Schulmöbel her. Gegründet von Ferdinand „Ferry“ Heinrich Finck, ging es auf seinen Sohn Johann „Jean“ Finck über, obwohl dieser viel lieber Insektenforscher geworden wäre. Jeans Sohn Heinrich „Henry“ jedoch ist der geborene Unternehmer. Die Beziehungen der jeweiligen Söhne zu ihren Vätern ist in dieser Familie immer problematisch, es sind die Großväter, die sich um die Enkel kümmern. Daher entscheidet sich der schon als Junge phantasievolle Drehbuchautor Nikolas Finck, der vor vielen Jahren den Familiensitz, die Villa Sternbald, verlassen und seither nicht mehr betreten hat, nun doch an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, zum 103. Geburtstag seines Großvaters Henry. Obwohl es das Verhalten und die Entscheidungen seines Großvaters waren, die dazu geführt hatten, dass es zum Bruch kam, als Nikolas ein Jugendlicher war, der viele Fragen stellte, Fragen, die nicht oder ausweichend beantwortet wurden. Konkret ging es um die Übernahme des Unternehmens der Familie Stein, das ebenfalls Schulmöbel herstellte, im Jahr 1935. Aus den geplanten Tagen werden Wochen und Monate, in denen Nikolas in die Vergangenheit der Familie, in die Familiengeheimnisse und in seine eigenen Erinnerungen eintaucht. „Ist es, dachte ich, das Gedächtnis, das die Sanduhr umdreht und die Zeit immer wieder verrieseln lässt?“ (Zitat Seite 53)

Thema und Genre

In diesem deutschen Generationen- und Familienroman, geht es um Familiengefüge, Familiengeheimnisse, Halbwahrheiten, Erinnerungen, Kindheit, Erziehung, Gesellschaftsnormen, Philosophie, Religion, Konflikte und Gefühle – und Insekten in vielen Varianten. Ein wichtiges Kernthema ist das Verhalten der Familie während der Jahre des Nationalsozialismus.

Erzählform und Sprache

Monika Zeiner passt die gewählte Erzählform dieses Romans, der aus aneinandergereihten Episoden besteht, den Personen an, Nikolas Finck, die Hauptfigur, ist der Ich-Erzähler in der aktuellen Zeit. Die Geschichte seines Großvaters, Urgroßvaters, Ururgroßvaters wird in der personalen Form geschildert, mit jeweils einer der Figuren im Mittelpunkt. Die Rahmenhandlung, der Besuch von Nikolas in seinem Elternhaus, verläuft chronologisch, wird jedoch von eigenen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, und von den zahlreichen Episoden aus dem Leben seiner Vorfahren unterbrochen. Die Erzählform ordnet die Handlung den Figuren und Anliegen unter, schildert nicht so sehr die Ereignisse, sondern vielmehr die Hintergründe, Konflikte und Befindlichkeiten der einzelnen Figuren, wodurch sich neben Dialogen, die nicht unbedingt mit einem realen Gegenüber geführt werden, es kann auch Gisberta, eine tote Feuerwanze sein, viele innere Monologe und Gedankenströme ergeben. Die Kernthemen der Autorin, Familiengefüge, Väter und Söhne, fehlende Mütter, Literaturverweise, Philosophische Abhandlungen, Religion, Kindheit und Erziehung im Wandel der Zeit, die Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus, ergänzt durch umfassendes Wissen über Insekten, füllen die Seiten. Sprachlich hat mich dieser Roman sehr angesprochen, die gekonnten Sätze, Formulierungen und die brillanten Vergleiche machen Freude beim Lesen.

Fazit

„Von fließender Zeit kann in der Villa Sternbald keine Rede sein. Sie hat es nicht eilig, sie hat sich hier eingerichtet wie die Schnecke in ihrem Haus.“ (Zitat Seite 345)

Diese Aussage beschreibt meiner Meinung nach auch perfekt den vorliegenden Roman, eine Geschichte, die sich breit und behäbig fließend statt packend über sechshundertfünfzig Seiten ergießt. Für mich nicht das richtige Buch, andere Leser begeistert es, wie die positiven Fachbewertungen zeigen.

Reichskanzlerplatz – Nora Bossong

AutorNora Bossong
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum12. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten296
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431900

„Sie war nicht einfach nur verliebt in diesen Mann, und ich habe erst später Worte dafür gefunden: Mit ihm glaubte sie in den Himmel aufzusteigen und alles darunter überließ sie der Hölle.“ (Zitat Pos. 1552)

Inhalt

1919 ist Hans Kesselbach zwölf Jahre alt, als er von seinem gleichaltrigen Schulfreund Hellmut Quandt in die Villa der Industriellenfamilie eingeladen wird und dessen Stiefmutter kennenlernt. Magda Quandt ist damals erst neunzehn Jahre alt, und obwohl Hans heimlich in Hellmut verliebt ist, beeindruckt ihn auch dessen junge, schöne Mutter. Als er diese nach beinahe zehn Jahren auf Grund eines schweren persönlichen Verlustes, der sie beide betrifft, wieder besucht, beginnen sie eine Affäre. Zwischen Hans und Magda entsteht eine Verbindung, die trotz aller Konflikte auch bestehen bleibt, als aus Magda Quandt Frau Magda Goebbels geworden ist und Hans diese Verbindung und die völlig veränderte Magda nicht verstehen kann. Hans verlässt Deutschland im Herbst 1938 und ist als deutscher Diplomat im Mailänder Generalkonsulat tätig. Er passt sich an, ist vorsichtig und versucht, sie möglichst unauffällig zu verhalten. „Weniges wollen wir so sehr wie betrogen werden, und Meisterschaft bedeutet ja nichts anderes, als zu wissen, wie man täuscht.“ (Zitat Pos. 2362)

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Roman, Fiktion mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, stehen die Menschen, Familiengefüge, Konflikte, zwischenmenschliche Beziehungen, Freundschaft und die Facetten der Liebe. Die Kernthemen persönliche Entscheidungen, die Möglichkeit, dass eine andere Wahl des Lebensweges das gesamte nachfolgende Leben vielleicht hätte verändern können, Schuld, Mitschuld und Mitwissen ziehen sich durch den gesamten Roman. „Es war ja nicht so, dass wir nichts sahen oder hörten oder wussten.“ (Zitat Pos. 1923)

Erzählform und Sprache

Die Handlung dieser Geschichte umfasst die Jahre 1919 bis 1945, doch es geht nicht um historisch bekannte Ereignisse und Fakten, sondern Nora Bossong will mit diesem Roman die Entwicklungen dieser Jahre aus der Sicht der Menschen, besonders ihrer beiden Hauptfiguren Hans und Magda, nachvollziehen und legt ihren präzise beobachtenden Blick auf die persönliche Haltung der Menschen. Magda Goebbels aus unterschiedlichen, nuancierten Blickwinkeln darzustellen, nahe an den bekannten Fakten, aber mit erzählerischer Freiheit, die sich aus einigen vagen Einträgen in Goebbels privaten Tagebüchern ergab, wonach Magda bereits während ihrer Ehe mit Quandt eine Affäre mit einem jungen Studenten hatte und diese Beziehung weiterführte, als sie bereits mit Joseph Goebbels zusammen war. Daraus entstand die fiktive Figur Hans Kesselbach, der die Ereignisse als Ich-Erzähler schildert, ergänzt durch seine Erinnerungen, seine Beobachtungen und die eigenen Gedanken, mit denen er sein Verhalten und auch das seiner Umgebung hinterfragt und die Entscheidungen, die sie treffen. Somit ist er die eigentliche Hauptfigur dieses Romans. Die Handlung verläuft chronologisch und die einzelnen Kapitel sind in übergeordneten Abschnitten zusammengefasst, die den jeweiligen Zeitrahmen angeben und die teilweise einige Jahre überspringen, da es kein historischer Roman ist. Auch die nachdenkliche, präzise Sprache, mit der Nora Bossong auf ihre Figuren blickt und ihnen folgt, ist interessant und packend zu lesen.

Fazit

Ein sehr kluger, vielschichtiger und auf Grund der Erzählform und der Figuren überzeugender Roman zwischen Fakten und Fiktion, in dessen Mittelpunkt die Menschen stehen, ihr Verhalten und die Entscheidungen, die sie treffen. Die Konflikte, Fragenstellungen und Themen sind gerade heute wieder von brisanter Aktualität und regen zum weiteren Nachdenken an. „ … und man entkommt nicht der Geschichte, die man selbst schreibt.“ (Pos. 3231)

Der Rabe, der mich liebte – Abdelaziz Baraka Sakin

AutorAbdelaziz Baraka Sakin
VerlagVerlag Klingenberg
Datum31. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten137
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinLarissa Bender
ISBN-13978-3903284272

„Tauben stammen von Raben ab. Aber die Tauben lieben die Sanftmut und die Unterwürfigkeit, während die Raben die Rebellion und die Weisheit lieben, weil sie klüger sind und einen reineren Geist haben.“ (Zitat Seite 17, 18)

Inhalt

Der Sudanese Ahmad Al-Nur, genannt Nuri, hatte an der Universität in Khartum Maschinenbau studiert, doch in Europa werden seine Zeugnisse nicht anerkannt. Als sein Asylantrag in Paris angenommen wird, macht er sich als Schrotthändler selbstständig und seine Geschäftsreisen führen ihn durch ganz Europa. Adam Inglitz dagegen, Nuris bester Freund aus Jugendtagen, mit dem er gemeinsam die Fluchtwege quer durch Europa bis nach Calais gemeistert hatte, will nur eines, heimlich nach Großbritannien übersetzen, an der Universität Oxford studieren und anschließend dort Universitätsprofessor werden. Ihre Wege trennen sich. Nun trifft Al-Nur auf einer Dienstreise in Graz ein und sieht dort auf dem Hauptbahnhof zufällig seinen Freund Adam Inglitz nach zwei Jahren wieder, dünn, sichtbar gealtert, bettelnd. Adam scheint ihn nicht wiederzuerkennen und läuft weg. Nuri versucht, seinen Freund zu finden.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Flucht, das Leben der Migranten im Untergrund, um Fluchtrouten, Schleuser, Asylgesetze, die Dublin-Verordnung, aber auch um Zusammenhalt und Freundschaft. Im Mittelpunkt stehen die Menschen mit ihren Träumen, Hoffnungen, mutigen Entscheidungen, aber auch Entbehrungen und Verzweiflung.

Erzählform und Sprache

Zu Beginn der Geschichte schildert Al-Nur als Ich-Erzähler das Wiedersehen mit Adam Inglitz, ergänzt durch viele Erinnerungen an die gemeinsame Zeit im heimatlichen Dorf und am Gymnasium. Er erinnert sich an prägende Episoden auf ihrer Fluchtroute, die Gefahren und die erste Zeit in Europa. Die Ich-Perspektive bleibt, doch es sind nun unterschiedliche Personen, die jeweils ihren Teil der Geschichte, ihre eigenen Erinnerungen und persönlichen Erlebnisse mit Adam Inglitz erzählen, in denen auch die Liebe einen Platz hat. So ergibt sich ein eindrückliches, vielschichtiges Gesamtbild, ein besonderer Blick auf einen besonderen Menschen, geschrieben in einer präzise beobachtenden und gleichzeitig sehr poetischen Sprache.

Fazit

Eine einfühlsame Geschichte über die harte Realität der Migration und des illegalen Lebens ohne Aufenthaltsstatus, aber auch über Hoffnungen, Träume, Freundschaft und Liebe. „Ohne ihn hätte der Dschungel mich umgebracht, die Hoffnungslosigkeit des Dschungels, seine salzige Luft und seine giftigen Winde.“ (Zitat Seite 131)

Daniel Kehlmann über Leo Perutz – Daniel Kehlmann

AutorDaniel Kehlmann
HerausgeberVolker Weidermann
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 5. September 2024
FormatGebundene Ausgabe
Seiten112
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004069

„Handlung ist das, was in einer Geschichte passiert – nicht Sprache, nicht Form, nicht Gestaltung, sondern das, was tatsächlich vor sich geht. Handlung ist also das in der Literatur, was selbst nicht Literatur ist.“ (Zitat Pos. 83)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist das sechste Buch aus der Serie „Bücher meines Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Daniel Kehlmann schreibt über den österreichischen Schriftsteller Leo Perutz, der ihn begeistert und geprägt hat. Im Vorwort, verfasst von Volker Weidermann, erfahren wir, dass Daniel Kehlmann in seinem Roman „Ruhm“ einer seiner Figuren bewusst den Namen Leo gegeben hat und diesen Roman in der Form des Werkes „Nachts unter der steinernen Brücke“ von Leo Perutz verfasst hat.

Umsetzung

Leo Perutz wollte nicht durch die Biografie seines Lebens bekannt sein, sondern durch sein literarisches Werk. Dieser Einstellung folgt Daniel Kehlmann auch in diesem Buch. In neun Kapiteln bringt er uns Leo Perutz über vier seiner Romane wie „Der schwedische Reiter“ und vor allem „Nachts unter der steinernen Brücke“ näher, ein Roman, den Daniel Kehlmann als metaphysisches Puzzle bezeichnet. Daniel Kehlmann schildert, wie Leo Perutz an den einzelnen Romanen gearbeitet hat, definiert dessen Herangehensweise an die Stoffe, Handlung, Erzählformen und sprachliche Umsetzung. Punktuelle Besprechungen und Erläuterungen der Inhalte werden durch kurze Auszüge präzisiert und ergänzt. Eine Aufstellung der Lebensdaten von Leo Perutz, das Quellenverzeichnis und die Angaben zu den Fußnoten im Text finden sich am Ende dieses Buches.

Fazit

Ein Schriftsteller schreibt über einen Schriftsteller. Dies bedeutet nicht nur viel interessantes, neues Wissen, das dazu anregt, die Romane von Leo Perutz zu lesen, sondern auch sprachliches Lesevergnügen.

Beteigeuze – Barbara Zeman

AutorBarbara Zeman
Verlagdtv Verlagsgesellschaft
Datum15. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423284158

„Und der Himmel ist still und das Meer ist still, nur mein Atem geht laut, und als ich mich umdrehe, schwankt der Boden ein bisschen unter dem Gewicht des Meeres und dem von mir.“ (Zitat Seite 19)

Inhalt

Theresa Neges ist vierzig Jahre alt und lebt mit ihrem fünf Jahre jüngeren Freund Josef, einem Austellungsarchitekten für Künstler, in einer kleinen Wohnung in der Wiener Taborstraße. Ursprünglich hat Theresa an der Wiener Angewandten Mode studiert, doch irgendwie hat sich ihr Leben in den Jahren sehr verändert. Seit drei Tagen hat sie wieder Arbeit gefunden, in einem Wiener Café, doch am liebsten lebt sie ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen, füllt den Tag mit spontanen Einfällen und wartet darauf, dass im späten Herbst ihr Lieblingsstern am Himmel auftaucht, Beteigeuze, rot leuchtend im Sternbild Orion.

Thema und Genre

Ein Roman in Fragmenten, Skizzen, Gedankenschnipseln. Es geht um Tagesabläufe und sich spontan ergebende, teilweise skurrile Ereignisse im Leben einer Vierzigjährigen, die beschlossen hat, die Medikamente abzusetzen, die sie auf Grund ihrer psychosozialen Beeinträchtigung nehmen sollte.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte versetzt uns in die innere Welt der Hauptfigur Theresa und so besteht eine Art von Handlung ausschließlich aus den vielen Bewusstseinsströmen Theresas. Auch Gespräche und Dialoge werden von Theresa zuerst in ihren Gedanken interpretiert, umformuliert und kommentiert, sie hört nur, was und wie sie es hören will. Auf mich wirkt diese Figur wie eine in die Jahre gekommene, tragische und deprimierende Pippi Langstrumpf, die sich ihre eigene Welt erschafft, in der sie sich bewegt, wie es ihr gerade passt. Von den Menschen in ihrem Umfeld erwartet sie, dass sich alle ihren skurrilen Ideen und ihrem eigenartigen Verhalten, das sie selbst oft lustig findet, unterordnen. Mich konnte diese Hauptfigur teilweise nicht erreichen. Da es sich bei der Erzählform ausschließlich um die Wiedergabe der Gedanken und inneren Monologe der Wienerin Theresa handelt, ist auch die Sprache entsprechend einfach, ergänzt durch Theresas Wissen zu Themen, die sie interessieren, Lexika-Einträge, die sie in ihren Gedanken wiederholt.

Fazit

Ich habe das Buch auf Grund der Inhaltsbeschreibung des Verlages und der begeisterten Besprechungen in literarischen Fachkreisen und Medien gekauft und kann diese Begeisterung nur bedingt nachvollziehen.

Die Projektoren – Clemens Meyer

AutorClemens Meyer
VerlagS. FISCHER
Datum28. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten1056
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3100022462

„Viele Jahre später, als der Cowboy mit seinem Wanderkino in einem alten roten Lastwagen durch endlose Steppen und fremde Berge fuhr, erinnerte er sich falsch, und er sah, wie Negosava und der Mann mit dem karierten Halstuch, der Cowboy der frühen Jahre, der er einmal gewesen war, im Bioskop von Split saßen und einen deutschen Indianerfilm sahen, doch was sind schon die richtigen Erinnerungen, und wo beginnen die Träume und wo die Märchen?“ (Zitat Pos. 2950)

Inhalt

Ein Mann, wegen seines karierten Halstuchs Cowboy genannt, der die Originalverfilmungen der Bücher von Karl May im Velebitgebirge 1962 miterlebte, kleine Rollen als Komparse hatte, schreibt ab 1970 selbst unter dem Pseudonym Fallmer erfolgreiche Westernromane. Viele Jahre später reist er bis in den Irak. So wie dem Cowboy folgen wir auch einem Hadschi, der seinen Sihdi sucht, durch die Zeiten der DDR, durch Titos Jugoslawien, die Jahre danach und durch die brutalen Kriege, die ab 1992 das Land Jugoslawien zerrissen. „Ich bin der, der ich bin. Der Hadschi, wie er im Buche steht, der den sucht der ihn einst ins Buch geschrieben hat.“ (Zitat Pos. 12851) Denn damit hat im Grunde alles begonnen, mit Karl May und seinen Geschichten, in der Indianer und Deutsche Blutsbrüder waren, dem wilden Kudistan geholfen wurde und Araber als edle Wüstensöhne auftraten.

Thema und Genre

Dieser epische Roman ist vieles, die Geschichte Europas zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert, ein spannender Abenteuerroman, eine Geschichte des Films, darin eingebettet Familien- und Generationengeschichten. Es geht um Zeitgeschichte, um politische Strömungen und um die grausame Zerstörung durch Kriege und vor allem deren Auswirkungen auf die Menschen, die davon betroffen sind.

Erzählform und Sprache

Im Hintergrund besteht eine chronologische Abfolge der Ereignisse, doch führen die einzelnen Episoden durch die Zeiten und die Kriege, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und zurück in eine andere Vergangenheit, ein Sprung über Jahre in eine wieder andere Jetztzeit. Man folgt den einzelnen Figuren, fiktiven und auch realen wie Lex Barker. Mit den Jahren tritt auch die nächste Generation der fiktiven Figuren auf, die völlig andere Wege gehen. Man blättert manchmal verwirrt einige Kapitel zurück, wer ist jetzt wer, bis man sich einfach auf diese weite, facettenreiche, oft surreale Geschichte einlässt, sich von ihr weitertragen lässt, staunend, Kopfschüttelnd-erheitert,und dann wieder zutiefst erschüttert durch die brutale Realität der Schilderungen der Kampf- und Kriegshandlungen. Im Roman tritt mehrmals die Figur des Fragmentaristen auf, der erzählt und erzählt, ganze Geschichten zwischen gestern, heute und morgen auf Wände schreibt und so liest sich auch dieser Roman. Die Sprache ist vielfältig, schildert ruhig fließend, poetisch, um dann, wenn es um den raschen Ablauf von Szenen geht, atemlos Wort um Wort, Wortgruppe um Wortgruppe zu einem einzigen Satz in Seitenlänge aneinanderzureihen.

Fazit

Ein roter LKW mit einem Wanderkino, ein uralter Mann am Steuer, so ziehen sich Filmrollen, Projektoren, Erinnerungen, Romane und Filme nicht nur durch Jugoslawien, sondern durch diese Jahrhundertgeschichte Europas. Eine literarische Achterbahnfahrt, auf die man sich bald einlässt, ohne viel zu fragen, sich beim Lesen von den Ereignissen weitertreiben lässt, neugierig dieser ungewöhnlichen, kreativen und auch sprachlich großartigen Mischung folgend, die uns Clemens Meyer hier vorsetzt.

Dorf ohne Franz – Verena Dolovai

AutorVerena Dolovai
VerlagSeptime Verlag
Datum12. Februar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten168
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3991200352

„Ich bin kein hübsches, zartes Pflänzchen, das fürsorglicher Pflege bedarf. Eher der robuste Dornenbusch, der kaum Wasser braucht und selten Blüten trägt.“ (Zitat Pos. 319)

Inhalt

Maria ist das mittlere Kind zwischen dem fünf Jahre älteren Bruder Josef und dem vier Jahre jüngeren Bruder Franz. Josef erbt den Hof und die Grundstücke, der als Kind zarte, von der Mutter deshalb verwöhnte Franz erhält Geld und verlässt das Dorf, so bald er kann. Von Maria, die ja nur ein Mädchen ist, wird erwartet, dass sie den Erbverzicht unterschreibt, möglichst rasch einen Ehemann im Dorf findet und fleißig für alle arbeitet. Während ihre Freundin Theresa auf ein Internat gehen darf und dadurch für immer der beklemmenden Enge des Dorfes und der ebenso eng denkenden Dorfgemeinschaft entflieht, bleibt Maria und führt ein Leben als pflichtbewusst mitarbeitende Hilfskraft, Pflegerin, Ehefrau und Mutter einer Tochter. „Ich habe der Rolle entsprochen, die erwartet wurde. Weil ich nicht auffallen wollte, weil ich es nicht konnte?“ (Zitat Pos. 963)

Thema und Genre

n diesem Roman geht es um Erinnerungen an ein hartes Leben voller Entbehrungen und Verzicht auf dem Land, in einer Familiestruktur mit dem beklemmend traditionellen Frauenbild, um unerfüllte Träume eines Mädchens, später Frau, das Dorf zu verlassen und ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen.

Erzählform und Sprache

Maria, die Hauptfigur, erinnert sich im Heute an ihr Leben zurück. Sie erzählt von ihrer harten Kindheit in den 1960er Jahren, von fehlender Mutterliebe, von der unerfüllten Sehnsucht nach einer Ausbildung. Sie schildert ihren Alltag in einem engen, von den Männern dominierten Familiengefüge und starren Dorfleben. Chronologisch folgen wir ihrem Weg als Kind, als junge Frau, als Ehefrau und Mutter. Langsam enthüllen sich einige Familiengeheimnisse, es wird klar, warum der jüngere Bruder Franz das Dorf verlassen hat, denn in Marias Erinnerungen taucht er trotz seiner Abwesenheit immer wieder auf. Die knappe und dadurch eindringliche Erzählsprache verstärkt in ihrer Ausdrucksweise die Hauptfigur und das Genre.

Fazit

Landleben ohne falsche Romantik, Frauenleben in einer Welt der Väter, Brüder und Ehemänner, fern jeder Freiheit und Gleichstellung. Man möchte die Hauptfigur abwechselnd mitfühlend in Gedanken umarmen, dann wieder eindringlich auf sie einreden, sie metaphorisch anschreien, dass es nicht so sein muss, dass sie die Dinge ändern könnte, ihr Leben selbst in die Hand nehmen, so wie sie es sich in all den Jahren wünscht. Eine beklemmende, gleichzeitig beeindruckende Geschichte.

Lauter – Stephan Roiss

AutorStephan Roiss
VerlagJung und Jung
Datum20. März 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990272930

„Ich wachte nicht gern auf, und beim Anblick des Abendhimmels, wolkenlos und indigoblau, fragte ich mich, ob jemals nichts gewesen war – und warum es nicht dabei geblieben ist.“ (Zitat Seite 111)

Inhalt

Leon ist gerade in Kuba, als er die Nachricht erhält, dass seine Mutter im Sterben liegt. Obwohl er sofort aufbricht, kommt er zwanzig Minuten zu spät. Er verliert sich selbst in Kindheitserinnerungen und Jugenderinnerungen, versteht sich selbst nicht mehr, seine Mutter ist in seinen Gedanken immer präsent. Auch seine Freundinnen Vio und Milena und die gemeinsame Noisepunk Band Graógrammán erreichen ihn nur teilweise, wenn er durch die Musik seinen Zorn ausleben kann. Die Einladung eines alten Freundes, der in Venedig lebt, schlägt er zunächst aus, bis er sich völlig unerwartet einer Krebsbehandlung unterziehen muss. Danach tritt er seine Reise nach Italien doch an. „Lass die Haare wehen, Kleiner“, pflegt Vio oft zu ihm zu sagen, doch so einfach ist das nicht.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Trauer, Verlust, Erinnerungen, eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung, um ungebremste Lebensfreude und um das Gegenteil davon, zornige Verweigerung. Wichtige Themen sind Freundschaft und Liebe, und vor allem Musik in vielen Facetten, die Erinnerungen an die leisen Lieder der Mutter und Leons harter, dröhnender Punkrock.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte spielt in der Gegenwart, es sind Episoden, die sich aneinanderreihen, immer wieder in die Vergangenheit abgleiten, in Kindheitserinnerungen, in prägende Erlebnisse einer wild gelebten Zeit. Lebhafte Schilderungen der Eindrücke und Beobachtungen des Alltags der Menschen, zuerst in Kuba, dann in Italien, der Musik, von langen, exzessiven Abenden und Nächten, werden ergänzt durch Gedankenströme und einer inneren, fassungslosen Einsamkeit, die gewollt auch ins Außen getragen wird. Eine Hauptfigur unserer Zeit, die auf der Suche ist. „Du wirst eine Antwort finden, allerdings nicht in deinen Gedanken. Für manche Probleme ist die Lösung keine Erkenntnis, sondern eine Entscheidung. Ein Wagnis.“ (Zitat Seite 128) Auch die Sprache ist genial, spielt mit den vielen Möglichkeiten des Erzählens und man folgt ihr ebenso gebannt, wie dieser Geschichte.

Fazit

Eine packende, begeisternde Mischung aus lebhaft, bunt, laut und sehr dunkel, mit vielen leisen, nachdenklichen Nuancen, großartig erzählt.

Bücher sind Klamotten fürs Hirn – Hrsg. ‎Ulrike Helmer

AutorenDiverse
Verlag Ulrike Helmer Verlag
Erscheinungsdatum 14. Mai 2012
FormatTaschenbuch
Seiten152
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3897413221

„Bücher sind wie Zeitmaschinen: Sie sind historische Dokumente ihrer Entstehungszeit. Wir können heute nachlesen, was die Menschen früher bewegt hat, und aus ihren Erfahrungen für unser eigenes Leben lernen.“ (Zitat Seite 20, 21, aus: Angela Pfeiffer „Was ist ein Buch“)

Thema und Inhalt

In diesem Buch geht es um Einblicke in Buchhandlungen und Bücher, Lesestoff als Text und gleichzeitig als Gewebe, aus dem Geschichten gesponnen sind. Es ist eine bunte, vielseitige Mischung aus nachdenklichen, kritischen, aber auch sehr unterhaltsamen Beiträgen.

Umsetzung

Ulrike Helmer und ihr Verlag haben wieder Buchhändlerinnen und Buchhändler eingeladen, eigene Texte als Einblicke ins Buchhändlerische zu senden. Dieses Buch umfasst neben dem Vorwort und ersten Beitrag von Ulrike Helmer noch fünfundzwanzig weitere Beiträge von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren. Es sind Essays, eigene Erfahrungen, kritische Artikel, lustige Erlebnisse mit Kunden auf der Suche nach einem Buch, und auch Textauszüge aus Romanen, wie zum Beispiel Elizabeth Stoddard „Die Morgensons“. Jeder Beitrag schließt mit einer Kurzbiografie der jeweiligen Verfasserin, des jeweiligen Verfassers, ab.

Fazit

Eine unterhaltsame Lektüre, nicht nur für in der Buchbranche aktive Menschen, sondern auch für alle Leserinnen und Leser.

Österreichischer Buchpreis 2024

RedaktionRamona Geng
HerausgeberHauptverbund des
Österreichischen Buchhandels
Erscheinungsdatum 5. September 2024
Broschüre
Seitenca. 135
SpracheDeutsch

„Er verfolgt das Ziel, die Qualität und die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur zu würdigen und ihr im deutschsprachigen Raum erhöhte Aufmerksamkeit zu verschaffen.“ (Zitat Pos. 1055, über den Österreichischen Buchpreis)

Thema und Inhalt

Der Österreichische Buchpreis wurde 2016 zum ersten Mal vergeben. 2024 wurden für den Österreichischen Buchpreis von 56 Verlagen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz 84 Titel eingereicht, für den Debütpreis waren es 21 Verlage mit 26 Titeln. Es sind Werke aus den Bereichen Belletristik, Lyrik, Drama und Essay mit einem Erscheinungsdatum zwischen 11. Oktober 2023 und 9. Oktober 2024. Die Longlist umfasst 20 Titel, die Shortlist Debüt 3 Titel.

Umsetzung

Die Broschüre, die ich in der elektronischen Ausgabe auf dem Kindle lesen konnte, beginnt mit umfangreichen Leseproben aus allen nominierten Büchern. Es folgen ab Seite 114 Informationen über die Nominierten, die Jury, und ab Seite 130 die Coverabbildungen der Bücher mit nochmaliger Angabe von Autorin oder Autor, Titel, Verlag, Seitenzahl und Preis. Die jeweilige Einteilung erfolgt in alphabetischer Reihenfolge der Namen der Nominierten, beginnt immer mit der Longlist, daran schließt jeweils die Shortlist Debüt an.

Fazit

Auch 2024 ist es wieder eine interessante, spannende Mischung, die Leseproben machen neugierig auf die nominierten Bücher.

Die Herrin der Vögel – Bachtyar Ali

AutorBachtyar Ali
VerlagUnionsverlag
Datum19. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ÜbersetzungUte Cantera-Lang
Rawezh Salim
ISBN-13978-3293006140

„Wir waren das letzte Volk auf dieser Erde, das seine Häuser verlassen würde, um die entdeckten Kontinente neu zu entdecken und die bekannten Städte und Wälder neu kennenzulernen.“ (Zitat Seite 223)

Inhalt

Nach fünfunddreißig Jahren in Bagdad kehrt Fikrat Guldantschi in die Stadt seiner Jugend im kurdischen Norden des Landes zurück, da er ahnt, dass mit Saddam Hussein ein furchtbarer Krieg droht und er besonders seine jüngste Tochter Sausan schützen will. Doch schon nach wenigen Tagen fühlt sich Sausan in dieser ihr fremden Stadt wie im Exil. Von Geburt an zart und von schwacher Gesundheit, verbringt Sausan ihre Tage in der Bibliothek ihres Vaters und durch die Bücher lernt sie die beeindruckenden Wunder einer Welt kennen, die sie nie selbst wird bereisen können. Als sich zur gleichen Zeit drei Männer in ihre zarte Schönheit verlieben und um ihre Hand anhalten, schickt Sausan alle drei auf eine weite Reise. Sie haben acht Jahre Zeit, die Welt zu bereisen, ihr einhundert seltene Vögel aus verschiedenen Ländern mitzubringen und ihr von den Reiseerlebnissen in den fernen Ländern zu berichten. Einige Menschen der Stadt, besonders die Frauen, halten Sausan für eingebildet und hochnäsig, doch Sausan weiß genau, warum sie ihren drei Verehrern diese Aufgabe stellt.

Thema und Genre

In diesem poetischen Roman mit märchenhaften und magischen Elementen geht es um die Kraft der Bücher, um die Träume und Sehnsüchte der Menschen, um Heimat, HeimaFamilie und die Liebe, um die Schönheit der Natur, um die Freiheit des Reisens, um fremde Länder, aber auch um die Zeit der brutalen Kriege Saddam Husseins gegen die Kurden im Nordirak, um Umstürze, Gewalt, Clanfehden und das damit verbundene Leid.

Erzählform und Sprache

Auch in seinem neuesten Roman verbindet Bachtyar Ali seine wunderbare, lebhafte, magische Erzählkunst mit präzisen, realistischen Schilderungen von Politik, Unterdrückung und Tod. Es ist eine besondere Erzählform, die er für diese Geschichte wählt, die in der nahen Vergangenheit stattgefunden hat, und nun in der Tradition des Geschichtenerzählens geschildert wird, wobei die Beobachtungen der Menschen, die diese Geschichte einer großen Liebe von drei Männern zur selben Frau im nahen Umfeld miterleben und mit großem Interesse durch die Jahre verfolgen, sich in einem „wir“ des Erzählers ausdrückt. Die Sprache ist vielfältig, bunt, bildintensiv und blickt einfühlsam auf die Menschen, ihr Schicksal und ihre Beweggründe.

Fazit

Es gibt Bücher, die uns mit der Geschichte, die sie erzählen, auf eine magische Phantasiereise schicken, uns zum Träumen, aber auch Nachdenken anregen. Dies ist so ein Buch.

Vaterländer – Sabin Tambrea

AutorSabin Tambrea
VerlagGutkind Verlag
Datum29. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3989410008

„Ein Mosaik aus seinen Farben ergoss sich durch das Zimmer, als wir die Kleidung ausräumten, schließlich der Kalender mit der Gravur 1990 aus der oberen Ablage herunterfiel, jeden Tag des Jahres bis zur letzten Seite mit der Zeichnung seiner Handschrift ausgefüllt, überschrieben mit den Worten: Memoiren, Horea Sava.“ (Zitat Seite 163)

Inhalt

In der Schule sitzt Béla Tambrea neben Rodica, beide sind ehrgeizig, abwechselnd Klassenbeste und beide wollen Violinisten werden. Später, als Ehepaar, kommen sie auf einer gemeinsamen Orchesterreise 1984 in die westdeutsche Stadt Marl. Erstmals spricht Béla es aus, dass er zuhause in Târgu Mureș in Rumänien keine Zukunft sieht und ein Jahr später trifft er während einer Konzerttournee in Frankreich im Juli 1985 eine Entscheidung. Es folgen schwierige Jahre der Trennung, bis am 19. März 1987 Rodica mit dem dreijährigen Sabin „Nuku“ und seiner acht Jahre alten Schwester Ai nach einer Reise über Ungarn und Wien in Köln eintrifft, wo Béla sie abholt und das neue Leben der Familie in Marl, Deutschland, beginnt.

Thema und Genre

Vaterländer ist ein autobiografischer Generationen- und Familienroman, gleichzeitig jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik in Rumänien, eine Schilderung des Alltagslebens der Menschen unter dem Druck und der Willkür der Securitate unter Gheorghiu-Dej, und anschließend im Ceauceșcu-Regime. Ein Thema sind Flucht und die Probleme eines Neubeginns in einem fremden Land, der teilweise Verlust der Heimat und das Leben in einem neuen Kulturraum, wo jedoch die Musik alle Grenzen überwindet. Es ist eine Geschichte über Familie, Mut, Zusammenhalt, Verzweiflung, Hoffnung und die Kraft der Liebe.

Erzählform und Sprache

Sabin Tambrea teilt seinen Roman in drei Abschnitte, im ersten Teil schildert der junge Sabin als Ich-Erzähler seine Kindheit und Jugend ab seiner Ankunft in Deutschland, den zweiten Teil bilden die persönlichen Aufzeichnungen seines Großvaters Horea Sava über die Jahre seiner Inhaftierung durch die Securitate. Der letzte Teil ergänzt den ersten Teil, nun erzählt Sabins Vater Béla die Geschichte der Familie aus seiner Sicht. Alle drei Teile verlaufen in sich chronologisch, um sich am Ende zu treffen und den Kreis zu schließen. Sabin Tambrea schreibt einfühlsam, poetisch, aber gleichzeitig lebhaft, packend und präzise.

Fazit

Ein beeindruckender, authentischer Generationenroman, spannend, interessant zu lesen und auch sprachlich überzeugend.

Das Wohlbefinden – Ulla Lenze

AutorUlla Lenze
VerlagKlett-Cotta
Datum17. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608986853

„Wenn sie an damals zurückdachte, schien ihr eigentlich alles wie ein seltsamer Traum, der auch anders hätte geträumt werden können.“ (Zitat Pos. 2360)

Inhalt

Die Content-Managerin Vanessa Schellmann wohnt im Wedding, doch gerade wurde ihre Wohnung gekündigt, dies bedeutet Wohnungssuche in Berlin. Sie besichtigt auch ein aufstrebendes Neubauprojekt auf dem Areal der ehemaligen Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz. Dort, im ehemaligen Postgebäude, hatte sich 1908 ihre Urgroßmutter eingemietet, die Schriftstellerin Johanna Schellmann, denn sie wollte ein Buch über die Heilstätten Beelik schreiben. Als Vanessas Makler hört, wer sie ist, übergibt er ihr einen alten, mit Schreibmaschine geschriebenen Text, den Johanna Schellmann verfasst hatte, der jedoch nie veröffentlicht wurde. So erfährt Vanessa nicht nur, wer ihre Urgroßmutter war, sondern auch deren besondere Beziehung und von Spiritualität geprägte Verbindung zu der Arbeiterin Anna Brenner, eine Patientin, die Johanna in den Heilstätten kennengelernt hat und die wegen ihrer Hellsichtigkeit und philosophischen Ansichten bewundert, aber auch gefürchtet wird.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um die für den Beginn des 20. Jahrhunderts moderne und besonders unter sozialen Aspekten fortschrittliche Einrichtung Lungenheilstätten Beelitz der Arbeiterwohlfahrt. Wetere Themen sind schreibende Frauen, sowie der zu dieser Zeit im Bürgertum beliebte Okkultismus mit Séancen und Medien. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Frauen auf der Suche nach Selbstbestimmung und ihrem eigenen Weg im Leben.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte spielt in Berlin auf drei unterschiedlichen Zeitebenen, die jeweils chronologisch geschildert werden, Johanna und Anna 1907 – 1909, Johanna 1967 und Vanessa 2020. Die Abschnitte, die in den Heilstätten Beelitz spielen, zeigen ein eindrucksvolles, lebendiges Bild dieser weitläufigen sozialen Einrichtung und der damit verbundenen Problematiken. Das Jahr 2020 beschreibt die reale Situation einer modernen Stadtentwicklung und Bebauung von nicht museal genutzten Teilen des Areals. Im gesellschaftspolitischen Mittelpunkt stehen jedoch die Frauen. Durch Generationen getrennt sind Johanna, Anna und Vanessa auf der Suche nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Die Sprache schildert ruhig und präzise, die Wechsel zwischen den Zeitebenen unterbrechen teilweise den Erzählfluss, Ortsangabe und Jahreszahl in der Überschrift erleichtern die Zuordnung.

Fazit

Ein interessanter gesellschaftspolitischer Generationenroman, ein anschauliches Bild der Entwicklungen und Bestrebungen jener Zeit. Das Wohlbefinden, Heilung durch Selbstheilung, ist nicht nur der medizinische Ansatz jener Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern wird durch unterschiedliche Blickwinkel des Erzählens auf die jeweilige Lebenssituation der Hauptfiguren zur Metapher für das Streben der Frauen unterschiedlicher Generationen nach Eigenständigkeit und persönlicher Freiheit.

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