Töchter Haitis – Marie Vieux-Chauvet

AutorMarie Vieux-Chauvet
NachwortKaiama L. Glover
Verlag Manesse Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinNathalie Lemmens
ISBN-13978-3717525509

„Ich blickte ohne Widerstreben oder Abscheu auf mich, erkundete voll Inbrunst jene Seele, die zu mir gehörte, horchte auf den neuen Tonfall meines Denkens und verstand, was es damit auf sich hatte.“ (Zitat Seite 80)

Inhalt

Lotus Degrave hat durch ihren französischen Vater eine helle Hautfarbe und gehört damit Anfang der 1940er Jahre in Haiti zur elitären Gesellschaftsschicht. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebt sie allein in der von ihrer Mutter geerbten Villa in Port-au-Prince. Da allgemein bekannt ist, womit ihre Mutter ihr Geld verdient hat, wird Lotus von ihrer Gesellschaftsklasse ausgegrenzt. Andererseits wird sie von den Schwarzen auf Grund ihrer hellen Haut genau dieser verhassten, herrschenden Klasse zugeordnet. So lebt sie trotz der Feste, die sie in ihrer Villa gibt, ein einsames, isoliertes, gelangweiltes Leben. Dann lernt sie Georges Caprou kennen. Er ist der Anführer einer Gruppe von Männern, die sich gegen die Ungerechtigkeiten des herrschenden Regimes auflehnen und eine Revolution planen. Durch ihn sieht sie endlich die Armut, das Leid und das Elend der Menschen, das schon in der Nachbarschaft ihres großen Anwesens beginnt, und beschließt, sich zu ändern, selbst aktiv zu werden.

Thema und Genre

Dieser Roman der haitianischen Schriftstellerin Marie Vieux-Chauvet ist vielseitig, einerseits sozialkritischer Gesellschaftsroman, zeigt er in der Entwicklung der jungen Lotus auch Elemente des Coming-of-Age-, Familien- und Abenteuerromans. Es geht um die Situation der Frauen in den 1940er Jahren in Haiti. Zeitlos aktuelle Themen sind die Gesellschaftsstrukturen, die tiefen Gräben zwischen den Bevölkerungsschichten durch Hautfarbe und Abstammung, damit verbunden Unterdrückung, Armut, Hass und Gewalt, und die sich daraus ergebende brisante politische Situation.

Charaktere

Lotus ist eine junge Frau, die durch das strenge Klassendenken isoliert ist. Von ihrem Leben gelangweilt, oberflächlich und eingebildet, ändert sie sich, als sie die Armut und das Elend der Menschen um sich herum bewusst erkennt. Zunächst will sie vor allem Georges mit ihrer neuen Haltung beeindrucken. Nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch gut durchdacht, immer wieder zweifelt sie an sich selbst, reagiert aufbrausend. „Die Erziehung einer Frau bereitet sie darauf vor, ihr Leben lang an sich zu zweifeln.“ (Zitat Seite 169)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird von Lotus selbst als Ich-Erzählerin geschildert. Die Handlung verläuft chronologisch und wird durch Erinnerungen ergänzt. Da die Autorin besonders auf die Situation der Frauen während dieser Zeit des Klassendenkens und der politischen Umbrüche eingehen will, erleben wir durch die gesamte Handlung auch die persönliche Entwicklung von Lotus Degrave mit, ihre Gedanken und ihre Selbstzweifel. Es sind diese inneren Monologe, in denen sie sich ausführlich mit ihren eigenen Befindlichkeiten und Gefühlen beschäftigt, welche die Sprache manchmal ausufernd, beinahe schwülstig, erscheinen lassen. Ich persönlich hätte daher die Geschichte lieber in einer personalen Erzählform gelesen. Andererseits ist es die Sprache der Zeit, in der dieser Roman geschrieben wurde, er ist 1954 erschienen. Besondere Ausdrücke im Text sind mit Fußnoten versehen und werden in den Anmerkungen am Buchende erklärt. Wichtig ist das Nachwort, welches mit einer kurzen Biografie der Schriftstellerin beginnt und dann die geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge näher erläutert und die Figur der Lotus in diesem Kontext betrachtet. Dies sind wissenswerte Ergänzungen, die auch dem besseren Verständnis für die Hintergründe und Anliegen dieses Romans dienen und Informationen über ein Land, über das ich bisher wenig wusste.

Fazit

Ein facettenreicher, eindrucksvoller Roman, der interessante und zeitlos aktuelle Einblicke in die Gesellschaftsstrukturen, die Stellung und das Leben der Frauen und die Politik des Inselstaates Haiti bietet.

Dschinns – Fatma Aydemir

AutorFatma Aydemir
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsdatum 14. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3446269149

„Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ (Zitat Seite 193)

Inhalt

In einer Woche wird Hüseyin Yılmaz sechzig Jahre alt und kann in Frührente gehen. Fast dreißig Jahre lang hat er in Deutschland gearbeitet und gespart, nun, 1999, hat er sich in Istanbul eine schöne, große Wohnung gekauft. Gerade sind die Möbel geliefert worden, sein Lebenstraum ist dabei, sich zu erfüllen, doch er kann ihn nicht mehr genießen. Dann an diesem ersten Tag in seiner neuen Wohnung erleidet er einen plötzlichen Herzinfarkt und stirbt. Ermine, seine Frau, und auch seine vier Kinder reisen aus Deutschland an und treffen in dieser Wohnung in Istanbul aufeinander und es ist nicht nur die Wohnung, die ihnen fremd ist. „Die Wohnung ist nur noch wie ein Museum, das Museum der Träume von Hüseyin Yilmaz. Und wer braucht schon Museen?“ (Zitat Seite 40)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Mitglieder einer Familie, die Eltern und vier Kinder. Sie alle haben unterschiedliche Wünsche und Träume und auch ihre Geheimnisse. Es geht um Kinder, heute erwachsen, die zwischen den Kulturen aufgewachsen sind. Gefangen in den Traditionen der Eltern, wollen sie in ihrer neuen Heimat Deutschland anerkannt werden und ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben leben.

Charaktere

Hüseyin ist in Deutschland verschlossen geworden und zeigt seine Gefühle nicht. Ermine ist durch ein Erlebnis während der ersten Jahre ihrer Ehe geprägt. Über Deutschland weiß sie auch nach Jahren nichts, sie kennt nur Schule, Kindergarten, den nahen Supermarkt und lebt weiterhin dem überlieferten Frauenbild ihrer Heimat entsprechend. So müssen Sevda, die älteste Tochter, Hakan, Peri und auch der erst fünfzehn Jahre alte Ümit versuchen, selbst ihren Weg zu finden und in ihren Sehnsüchten verstanden zu werden. „Der Tisch ist groß und rund, er erzählt von Plänen für gemeinsame Familienessen und Spieleabenden mit Okeysteinen. Also Dingen, die man in dieser Familie nie macht.“ (Zitat Seite 36)

Handlung und Schreibstil

Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie zwischen unterschiedlichen Träumen, Sehnsüchten, gegenseitigen Missverständnissen und Verletzungen, indem sie jeder Figur eine eigene Stimme gibt. Einer Art Prolog, Hüseyin in der neuen Wohnung in Istanbul, folgen fünf Abschnitte, einer für jedes Familienmitglied. So erfahren wir die detaillierten Lebensgeschichten jeder einzelnen Figur, ihre Eigenheiten, Ansichten, Probleme und mit jedem Kapitel öffnen sich weitere Einblicke in die Konflikte dieser Familie, deren Mitglieder einander teilweise zu fremd geworden sind, um einander noch zu verstehen. Gleichzeitig erfahren wir durch die unterschiedlichen Sichtweisen und Blickwinkel mit jedem Abschnitt mehr über die Hintergründe. Die Sprache erzählt einfühlsam, glaubhaft und authentisch, wechselt gekonnt zwischen Distanz und Nähe.

Fazit

Dieser Roman ist die Geschichte einer Familie zwischen den Kulturen, zwischen den traditionellen Werten der ländlichen Osttürkei und dem modernen Deutschland des Jahres 1999, wobei die Themen zeitlos sind. Jede der insgesamt sechs Figuren hat ihr eigenes Kapitel mit den persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Problemen, Geschichten die sich langsam zu einem Gesamtbild fügen. Diese besondere Art, von einer Familie zu erzählen, ist großartig, packend, lesenswert.

Nebenan – Kristine Bilkau

AutorKristine Bilkau
Verlag Luchterhand Literaturverlag
Erscheinungsdatum 8. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630875194

„Sie dreht sich um, betrachtet den Garten und fühlt sich auf einmal wieder beobachtet. Doch niemand ist zu sehen, das ist nur ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich hier an dieser Türe zu schaffen macht.“ (Zitat Seite 119)

Inhalt

Viele haben das Dorf am Nord-Ostsee-Kanal längst verlassen, auch die fünf Kilometer entfernte Kreisstadt zeigt zahlreiche Leerstände. Doch Julia fühlt sich sofort zu der Stadt mit ihren leeren Lokalen und Hinterhöfen hingezogen. Im Vorjahr hatten ihr Freund Chris und sie das alte Backsteinhaus in dem Dorf entdeckt, hergerichtet und sind aus der Großstadt hierhergezogen. Vor drei Monaten hat Julia ihren Keramikladen in der Kreisstadt eröffnet. Eines Tages kauft dort Astrid dort eine blaue Schale, für Marli, ihre Jugendfreundin. Astrid ist Ärztin, sie hofft, innerhalb dieses Jahres die Nachfolge für ihre Praxis lösen zu können, ihr Mann Andreas ist schon im Ruhestand. Astrids Tante Elsa, Mitte Achtzig, wohnt im Dorf im Haus neben Julia und so ist auch Astrid oft im Dorf. Anfang Januar fällt es Julia auf, dass sie die Familie Winter, die mit drei Kindern im Haus gegenüber wohnt, schon längere Zeit nicht mehr gesehen hat, sind sie noch nicht aus den Ferien zurück oder einfach ausgezogen? Astrid will einen Brief für Mona Winter abgeben, auch sie wundert sich. Doch außer Julia, Astrid, Elsa und einem Kind, das Julia im Garten des Hauses trifft, scheint sich niemand Gedanken über die verschwundene Familie zu machen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben in ländlichen Gegenden und vor allem um Dinge, die fehlen, verschwundene Nachbarn, fehlende Nachfolger, ein unerfüllter Kinderwunsch, Lücken in der eigenen Familiengeschichte, Alltagsprobleme, Konflikte und die Suche nach Antworten.

Charaktere

Julia mit ihrer Sehnsucht nach einem eigenen Kind, Astrid mit ihrem Wunsch nach einer Nachfolge für ihre Praxis und Elsa, die dabei ist, die Dinge ihres Lebens zu ordnen: es sind diese drei unterschiedlichen Frauen mit ihren Wünschen und Sorgen, die im Zentrum dieser Geschichte stehen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung beginnt im Winter, zu Beginn eines neuen Jahres und endet im Sommer. Sie wird ergänzt durch Erinnerungen und Gespräche, die Ereignisse aus der Vergangenheit erzählen. Abwechselnd steht entweder Julia oder Astrid im Mittelpunkt eines Kapitels. Zunächst begegnen sie einander, ohne sich zu kennen, Astrid kauft eine Schale, die Julia angefertigt hat, ohne zu wissen, dass Julia auch die Nachbarin von Elsa ist. Diese und weitere Begegnungen im Dorf und in der Kreisstadt verbindet die Autorin gekonnt zu einer gemeinsamen Geschichte, der Geschichte der Menschen, die schon immer hier gelebt haben und jener, die neu zugezogen sind. Die Sprache erzählt einfühlsam, lässt den Figuren Raum, ist nicht bemüht, auf jede Frage auch eine Antwort zu finden. Großartig sind die Schilderungen des Umfeldes, der Landschaft am Kanal, der das Dorf in einen Nord- und Südteil trennt, der alten Häuser und teilweise verwilderten Gärten, der Kreisstadt, der unterschiedlichen Stimmungen der Natur.

Fazit

Eine leise, einfühlsam und lebendig erzählte Geschichte über das Leben, über Lücken, Wünsche, Abschiede und Neubeginn. Ein Roman über den Alltag und die Themen unserer Gegenwart, der den Mut hat, Fragen für die eigenen Gedanken der Lesenden offen zu lassen, statt einfach Lösungen zu präsentieren, und dennoch positiv bleibt.

Mithu Sanyal über Emily Brontë – Mithu Sanyal

AutorMithu Sanyal
HerausgeberVolker Weidermann
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 6. Oktober 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462003666

„Es macht etwas mit mir und zwar jedes Mal, wenn ich es lese. Ich weiß nicht, warum es das tut, ich weiß nicht einmal, ob ich es herausfinden möchte, wie es das tut – aus Angst, damit den Zauber zu brechen -, aber ich möchte ein wenig von diesem Zauber teilen.“ (Zitat Pos. 173)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der zweite Band der Serie „Bücher des Lebens“, herausgegeben von Volker Wiedermann. Die Idee dazu entstand während eines Videogespräches zwischen ihm und Mithu Sanyal. Es ging um Bücher, die Mithu Sanyal geprägt haben und zu der Autorin gemacht, die sie heute ist. Sie hat sich spontan und ohne nachdenken zu müssen für Emily Brontë entschieden. Entdeckt hatte sie das Buch Wuthering Hights auf Grund des gleichnamigen Songs von Kate Bush und sie war erst fünfzehn Jahre alt, als sie diesen Roman zum ersten Mal las. Sie war beeindruckt von dem Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Heathcliff und Cathy. Gleichzeitig konnte sie sich eine mit Heathcliff identifizieren, ein Fremder, ein Außenseiter in der Familie Earnshaw. Bis heute übt dieses Buch eine besondere Magie auf Mithu Sanyal aus und diese Magie möchte sie mit uns teilen.

Umsetzung

An ein kurzes Vorwort von Volker Weidermann schließen Motti an, Zitate der damals vorwiegend ablehnenden Meinungen des viktorianischen Publikums.

In dem folgenden Kapital „Warum“ schildert und erklärt Mithu Sanyal, was dieser Roman für sie bedeutet, in „Worum“ beschreibt sie, worum es in Wuthering Heights geht: Sie beleuchtet Handlung, Charaktere und geschichtliche Zusammenhänge aus vielen unterschiedlichen Perspektiven und ergänzt ihre persönlichen Eindrücke mit einer ebenso breiten Vielfalt an Aussagen, Interpretationen und Sichtweisen. In den beiden folgenden Kapiteln „Leben“ und „Nachleben“ geht es um die Mitglieder der Familie Brontë, vor allem natürlich um Emily Brontë. Mit den Kapiteln „Sex“, „Class“, „Race“ und „Ghosts“ vernetzt sie die Kernthemen dieses inzwischen einhundertfünfundsiebzig Jahre alten Romans mit unserer Zeit, schafft zeitlos aktuelle Verbindungen.

Im Anhang finden sich die Lebensdaten Emily Brontës, die Quellenangabe zu den in den jeweiligen Kapiteln zitierten Textstellen aus dem Originalroman, sowie die Fußnoten.

Fazit

Dieses Buch ist interessante, vielseitige, mit Vergnügen zu lesende Mischung aus literaturwissenschaftlichen Interpretationen und Meinungen und der eigenen Sichtweise von Mithu Sanyal, in Verbindung mit ihren persönlichen Erfahrungen und Gedanken. Mich hat es angeregt, wieder einmal das Original, „Sturmhöhe“ von Emily Brontë, aus dem Regal zu nehmen und mit Mithu Sanyals Anleitung neu zu entdecken.

Dürrst – Simon Froehling

AutorSimon Froehling
Verlag Bilgerverlag
Erscheinungsdatum 1. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten266
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3037621004

„Als junger Erwachsener wolltest du dich als spontaner und chaotischer Mensch sehen, und es hat lange gedauert, bis du dir eingestehen konntest, dass du nur in der Routine aufblühst, dass du Alltagsrituale brauchst.“ (Zitat Seite 70)

Inhalt

Andreas Durrer, genannt „Dürrst“, verlässt mit sechzehn Jahren sein bürgerliches, gut situiertes Elternhaus und zieht in eine WG. Gleichzeitig schreibt er sich in den Vorkurs der Schule für Gestaltung ein. Sein erster großer Erfolg ist eine Installation, eine Nachbildung von „Giovanni’s Room. Inzwischen ist er achtunddreißig Jahre alt, hat einen Job in einem Museum, künstlerische Höhenflüge wechseln einander mit psychischen Sturzflügen ab. Nach Jahren der kurzen Abenteuer hält er sich für bereit, sich zu verlieben und eine Beziehung zu führen. Auch als Künstler will er wieder durchstarten, mit einem neuen Projekt an seine früheren Erfolge anschließen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um ein in allen Facetten intensiv gelebtes Leben. Themen sind die Kunst, die Kunstszene, die queere Szene, das breite Spektrum an zwischenmenschlichen Beziehungen.

Charaktere

Dürrst ist ein Künstler, dessen Leben zwischen Phasen extensiver Kreativität, Rastlosigkeit und völliger Antriebslosigkeit schwankt. Er ist immer noch auf der Suche nach Antworten auf die Frage, was er wirklich will vom Leben. Einerseits wünscht er sich eine echte Beziehung, gleichzeitig aber fühlt er sich eingeengt und auch die Angst, verlassen zu werden, ist immer präsent.

Handlung und Schreibstil

Der Autor wählt für diesen Roman eine eher seltene Erzählform, ein personaler Ich-Erzähler in der zweiten Person und durch dieses „du“ wird die gesamte Geschichte zum Monolog des Ich-Erzählers Andreas, genannt Dürrst. So wie die Gedanken sich nicht immer an chronologische Abläufe halten, wird auch diese Geschichte in Fragmenten erzählt, Erinnerungen, die er mit anderen teilt, über prägende Erlebnisse spricht, während seine Gedanken sich an wesentlich mehr erinnern, das er jedoch für sich behält, in seiner stillen Zwiesprache. Der chronologische Ablauf ist nur als ungefährer Rahmen, immer wieder unterteilt, zu erkennen. Diese besondere Erzählform, in Verbindung mit der eindringlichen, angenehm geradlinigen Sprache, führt zu einem ungemein intensiven, dichten Leseerlebnis, dieses „du“ zieht uns beim Lesen sofort wie ein starker Sog mitten in die Handlung, in das Geschehen. Wir sind Dürrst, fühlen mit ihm, sind wie sein Freundeskreis bei ihm, mit ihm unterwegs und sorgen uns um ihn in besonders rasanten, heftigen Phasen.

Fazit

Ein ungemein dichter, vielschichtiger Roman, eine Geschichte, rasant und direkt, einfühlsam, packend und mit einer besonderen Intensität von der ersten bis zur letzten Seite, die uns zunächst atemlos und sprachlos zurücklässt.

Die Erweiterung – Robert Menasse

AutorRobdert Menasse
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 10. Oktober 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten653
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518430804

„So geht Politik. Im Grunde ist Politik ein Spiel mit Kulissen, es ist wie im Theater: Vorne hast du symbolische Handlunge, dahinter die Technik.“ (Zitat Pos. 1276)

Inhalt

Begonnen hat alles mit dem Helm des Skanderbeg. Es ist ein ungewöhnlicher Helm mit einem Ziegenkopf auf dem Helmscheitel, zu sehen im Weltmuseum in Wien und ein Symbol für die Geschichte der Skipetaren in Europa. Der Ministerpräsident von Albanien hatte vor seiner Wahl versprochen, sich dafür einzusetzen, dass Albanien Mitglied der Europäischen Union wird. Nun sollen auf Grund der Weigerung Frankreichs nicht einmal die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Genau das ist der Moment, in dem Ismael Lani, sein Pressesprecher, den Ministerpräsidenten an Skanderbeg, ihren Nationalhelden, erinnert und Fate Vasa, Künstler und ebenfalls enger Berater des Ministerpräsidenten, die Idee aufnimmt und weiterführt. Albanien fordert die österreichische Regierung auf, den Helm zurückzugeben, was abgelehnt wird. Doch kurz darauf wird der Helm aus dem Museum in Wien gestohlen und rückt so in der Mittelpunkt der Ereignisse rund um die geplante Balkan-Konferenz über eine mögliche EU-Erweiterung.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Europa und die Europäische Union, um die Politik mit ihren Spielchen und Intrigen, aber auch um gesellschaftliche und persönliche Konflikte, Freundschaft, Familie, Beziehungen. Ein Kernthema ist die wechselvolle Geschichte des Westbalkans.

Charaktere

Auch in diesem Roman bringt der Autor seine unterschiedlichen Figuren auf den Weg, einige völlig unabhängig voneinander, andere gemeinsam, oder ihre Wege kreuzen sich im Laufe der Handlung. Mit charmant-bissiger Eleganz definiert er Charaktere, ihre Wünsche, Träume, oder den Verlust derselben. „Wir sind, sagte er, auf der Stelle tretend einen Schritt weiter.“ (Zitat Pos. 5861)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt während der Jahre 2019 und 2020 und wird ergänzt durch Rückblicke in Form von Erinnerungen und Erzählungen über Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefinden haben. Wir folgen den Hauptfiguren, die abwechselnd im Mittelpunkt der Handlung der einzelnen Kapitel stehen. Der Autor lässt sich Zeit, er schickt seine Figuren los, zeigt sie auch in ihrem persönlichen Umfeld, lässt uns an ihren Alltagsproblemen, Zweifeln und Sehnsüchten teilhaben, gleichzeitig führt er uns mit kritischem Witz durch die vielen Facetten der europäischen Politik. Doch der Schein trügt. Gerade hat man es sich noch im unterhaltsamen Lesevergnügen gemütlich gemacht, neugierig, mal schmunzelnd, mal nachdenklich, folgen wir den Entscheidungen und Wirrnissen der einzelnen Figuren, da wenden sich die Ereignisse und es beginnt ein rasanter Showdown.

Fazit

Was mit „Die Hauptstadt“ begann, wird mit diesem facettenreichen Roman, der auch sprachlich begeistert, genial und großartig weitergeführt.  

Quecksilberlicht – Thomas Stangl

AutorThomas Stangl
Verlag Matthes & Seitz Berlin
Erscheinungsdatum 18. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten267
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3751800846

„Wenn ich selbst erzählen müsste, warum ich mich an die Bücher und ans Lesen und später ans Schreiben angehängt habe, wie an etwas, das stärker, fester und lebendiger ist als ich, dann müsste ich wahrscheinlich mit meiner Großmutter oder meinen Großmüttern beginnen.“ (Zitat Pos. 555)

Inhalt

Es beginnt in einem Hinterhof eines Hauses in Wien Simmering, der schreibende Ich-Erzähler stellt sich einen Augenblick im Leben seiner damals dreizehn Jahre alten Großmutter vor, ein Ereignis, das ihr Leben für immer verändert hat. „Du schaust mich an, diese befremdliche Figur aus einer befremdlichen anderen Zeit. Ich muss mir einbilden, dass du mich anschaust, sonst würde es nicht funktionieren.“ (Zitat Pos. 51) Der Autor nimmt Episoden, Situationen aus dem Leben seiner Großmütter und seiner Familie, sowie aus dem Leben des ersten Kaisers von China, und verbindet diese Fragmente neu und beinahe beliebig mit Momenten aus dem Leben von berühmten englischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, ordnet die Fragmente neu und bringt sie so alle wieder zurück ins Leben.  

Thema und Genre

Im Mittelpunkt stehen das Schreiben und die Literatur als Möglichkeiten des Erinnerns und des unsterblichen Weiterlebens nach dem Tod als Romanfiguren dort, wie die eigene Biografie mit Romanfiguren verknüpft wurde.

Charaktere

Der schreibende Ich-Erzähler stellt seine Frage, ob die Sprache die Wirklichkeit neu erfinden kann, in den Mittelpunkt seiner Geschichte. Zwischen die geschichtlichen Figuren, die er durch sein Schreiben wieder ins Leben gerufen hat, schreibt er immer wieder auch sich selbst. Er schreibt, er beobachtet die leeren Straßen während der Pandemie, holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

Handlung und Schreibstil

Es ist eine Geschichte über das Leben und den Tod, realistisch und philosophisch und immer von allen Seiten betrachtet. Chronologische Abläufe lassen sich in diesem Gefüge nur vage erkennen und entschlüsseln sich nur langsam. Einen Teil bildet die eigene Familiengeschichte in Kindheitserinnerungen, persönlichen Erfahrungen, erzählten Geschichten und auch den Auslassungen darin. Die Gedankenreise führt den schreibenden Ich-Erzähler und auch uns Lesende aber viel weiter, zurück in das Reich von Qin Shihuangdi, erster Kaiser von China, in das ländliche England des neunzehnten Jahrhunderts, zu den englischen Dichterinnen, die dort gelebt haben, in das London des neunzehnten Jahrhunderts und wieder zurück nach Wien, damals und heute. Auch die Sprache ist eine unruhige Reise durch diese wie Schnipsel in die Luft geworfenen, irgendwie wieder aufgefangenen und mit zufälliger Leichtigkeit aneinandergereihten Fragmente, die dann doch, erstaunlicherweise, ein stimmiges Ganzes ergeben.

Fazit

Quecksilberlicht, schon der Titel und das Buchcover bleiben beim Lesen in den Gedanken haften und aus diesem diffusen Licht treten die einzelnen Personen heraus, erzählen kurz aus ihrem Leben, teilen ihre Gedanken mit uns, verschwinden wieder, um dann mit immer neuen Details und Geschichten wieder aufzutauchen. Der Tod begleitet alle diese Fragmente, doch in der Literatur und nun auch in diesem Roman leben sie alle weiter. Für Lesende, die Geschichten mit klar definierten Erzählsträngen schätzen, ist dieser ungewöhnliche Roman vermutlich nicht die richtige Wahl. Wenn man jedoch bereit ist, die gewohnte Wohlfühlzone zu verlassen, so erlebt man mit diesem Buch facettenreiche, ungewohnte und fordernde Lesestunden.

Blutbuch – Kim de l’Horizon

AutorKim de l’Horizon
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 19. Juli 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832182083

„Aber das geht nicht, diese Ploterei, vorgetrampelte Pfade im Sand. Der Weg muss im Gehen entstehen.“ (Zitat Pos. 441)

Inhalt

Die Erzählfigur ist sechsundzwanzig Jahre alt, lebt in Zürich und schreibt an einem Brief an die an Demenz erkrankte Großmutter. Es geht darin auch um Dinge, über die nie geredet wurde, doch das ist nur ein kleiner Teil. Es geht um die bisherigen Lebenserinnerungen der Erzählfigur, doch auch das ist nur ein Teil, denn es geht auch um das Leben der Großmutter, um ein mögliches Füllen der Lücken in der Geschichte der Familie und es geht auch darum, den weiblichen Vorfahren im jahrhundertealten Stammbaum endlich eine Stimme zu geben. Dies alles fächert sich weit auf, wie die Äste der Blutbuche, jener Baum in Großmutters Garten, an den sich die Erzählfigur am besten erinnert.

Thema und Genre

Dieser autofiktionale Roman geht neue Wege, zeigt, wie ein Familien- und Generationenroman der Gegenwart aussehen kann. Die traditionellen Gesellschaftsstrukturen werden hinterfragt und aufgelöst. Es geht um die Suche nach dem „Ich“, welches nicht in die althergebrachten Normen „er“ oder „sie“ gepresst sein will, um das Ankommen im eigenen Körper und gleichzeitig ist es auch eine facettenreiche Suche nach neuen Möglichkeiten der sprachlichen Ausdrucksweise.

Charaktere

„Ich schreibe dir, weil: Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.“ (Zitat Pos. 331). Zu Beginn des Schreibens fühlt sich der Körper der nonbinären Erzählfigur wie eine Fremdsprache an, das Schreiben ist auch eine Suche nach der eigenen Körpersprache. Der natürliche Jahreslauf der Blutbuche aus Dastehen, Laub abwerfen, Ausharren, neues Laub bilden, Verwandeln, steht auch für den Weg der Erzählfigur.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung ist in fünf Teile gegliedert. Die Abschnitte des ersten Teils entstehen aus Kindheitserinnerungen an die Großmutter, im zweiten Teil sind es Erinnerungen an Ereignisse und Situationen in der Kindheit der Erzählfigur. Im vierten Teil gehen die Recherchen viele Generationen weit zurück. Die Mutter der Erzählfigur hat die weibliche Blutlinie des Familienstammbaumes genau recherchiert und mit den auffindbaren Lebensgeschichten ergänzt und die Erzählfigur beschäftigt sich mit diesen Aufzeichnungen. Die völlig andere Erzählsprache im dritten Teil dagegen bewegt wird atemlos, rasant, manchmal rauschhaft, hemmungslos, als Ausdruck der ebenso hemmungslosen sexuellen Erfahrungen und Träume der Erzählfigur. Der fünfte Teil schließlich wird poetisch, geschrieben in englischer Sprache und es zeigt sich wieder, wie wenig Worte diese Sprache benötigt, um deutlich und intensiv Gefühle und Beschreibungen von Situationen und Naturerfahrungen wiederzugeben, wo die deutsche Sprache sich immer wieder in langen Satzgebilden verhakt. Die Erzählfigur wächst in Ostermundigen bei Bern auf. Im bernerdeutschen Dialekt heißt Mutter Meer, angelehnt an das französische mère, die Großmutter daher Großmeer, und das wird auch so geschrieben. Wasser ist, neben der Blutbuche, ein immer wiederkehrendes Motiv in diesem Roman und so gleiten die einzelnen Fragmente und auch die Sprache voran wie die Wellen des Meeres.

Fazit

Dieser Roman der Gegenwartsliteratur fordert uns Lesende mit allen Sinnen, denn er öffnet sich wie eine Wundertüte, wir finden eine Familiengeschichte, eine Generationengeschichte, eine Coming-of-Age-Geschichte, eine Geschichte über Freundschaft und die manchmal leise, manchmal aufbrausend pulsierende, zornige Suche nach einer Ausdrucksform für das eigene Ich und den Platz im eigenen Körper. Gleichzeitig ist es ein Streifzug durch die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten literarischer Ausdrucksformen.

Die Mauersegler – Fernando Aramburu

AutorFernando Aramburu
Verlag Rowohlt Buchverlag
Erscheinungsdatum 13. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten832
SpracheDeutsch
ÜbersetzerWilli Zurbrüggen
ISBN-13978-3498003036

„Das ist die Frist, die ich mir gesetzt habe, um meine Angelegenheiten zu regeln und herauszufinden, warum ich nicht mehr weiterleben will. Ich hoffe, dass mein Entschluss unwiderruflich ist. Im Moment ist er das.“ (Zitat Seite 11)

Inhalt

Inhalt

Toni, vierundfünfzig Jahre alt, finanziell unabhängig, Philosophieprofessor an einem Gymnasium in Madrid, beschließt am 31. Juli 2018 sich in genau einem Jahr, in der Nacht vom 31. Juli zum 1. August 2019, das Leben zu nehmen. Warum genau ein Jahr, weiß er selbst nicht so genau, aber es ist das absolute Limit. Nur sein bester und auch einziger Freund weiß von seinem Vorsatz. Toni will dieses ihm noch verbleibende Jahr genau dokumentieren und schreibt täglich seine Erinnerungen an Kindheit und Familie, seine Gedanken, Beobachtungen und Ereignisse des jeweiligen Tages nieder. Sein immer gleicher Tagesablauf wird empfindlich gestört, als er eines Tages überraschend bei seiner Hunderunde mit seiner Hündin Pepa im Park den Hund Toni trifft und die Besitzerin des Hundes, Águeda, die Frau, die er vor siebenundzwanzig Jahren verlassen hatte. Obwohl er sofort seine gewohnten Wege meidet, begegnet ihm Águeda immer wieder. Beobachtet sie ihn etwa?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Erinnerungen, die Hoffnungen und Enttäuschungen, um die Freude am Leben und den Verlust der Lebensfreude, um Familie, Beziehungen, Freundschaft und das Älterwerden.

Charaktere

Alle Figuren dieses Romans haben eines gemeinsam, sie sind aus unterschiedlichen Gründen Außenseiter der Gesellschaft. Meiner Meinung nach sind sie zu klischeehaft dargestellt. Die attraktive, schöne Frau, fordernd, kalt, untreu, und als Gegensatz die unattraktive, ungepflegte, übergewichtige Frau, die sich einfühlsam um ihre Mitmenschen kümmert. Die Hauptfigur Toni wäre gerne ein Mauersegler, frei und immer hoch in den Lüften unterwegs, übersieht jedoch, dass Mauersegler nie allein fliegen, sondern immer in Gruppen, wo sie sich mit diesen typischen Sirr-Rufen verständigen. Toni dagegen wurde mit den Jahren zum Einzelgänger ohne Lebensfreude und sieht alle seine Mitmenschen sehr kritisch, manche Mitglieder seiner Familie hasst er sogar.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt am 1. August, dauert 365 Tage und jedes Kapitel entspricht einem Tag. Mit jedem Monatsbeginn trägt die Überschrift zusätzlich den Namen des entsprechenden Monats und beginnt wie ein Kalender wieder mit der 1. Die Handlung selbst verläuft nur im Ablauf der aktuellen Tage chronologisch, denn es geht auch um Erinnerungen an die Vergangenheit, an einzelne Ereignisse, an die er sich plötzlich wieder erinnert und die er dann nochmals überdenkt und niederschreibt. Es sind einige gute, aber viele negative Erlebnisse, Situationen und Lebensabschnitte, die Toni als Ich-Erzähler mit uns teilt. Heute wie damals wird oft und heftig über die politische Situation in Spanien diskutiert, er schreibt auch darüber, aber eher als Zuhörer und Beobachter seiner Mitmenschen. Sehr gelungen sind die Schilderungen des Alltagslebens in Madrid, des Viertels, in dem Toni nun wohnt, mit seinen Lokalen, Geschäften und Parks.  

Fazit

Meine neugierigen Erwartungen an diesen neuen Roman des bekannten Autors wurden nicht erfüllt. Im Text auf der Buchrückseite wird Toni als Antiheld eingestuft, für mich wurde er mit der Anzahl der Seiten des Buches auf Grund seiner überheblichen Selbsteinschätzung eher zum „Anti-Menschen“, was meine Begeisterung an diesem Roman etwas getrübt hat.

Todesrache – Andreas Gruber

AutorAndreas Gruber
Maarten S. Sneijder – Sabine Nemez 7
Verlag Goldmann Verlag
Erscheinungsdatum 21, September 2022
FormatTaschenbuch
Seiten592
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442491100

„Schon wieder dieses Wort. Grundsätzlich! Sneijders Bauchgefühl sagte ihm, dass die Ermittlungen nicht so einfach und zügig ablaufen würden, wie er sich das erhofft hatte.“ (Zitat Seite 98, 99)

Inhalt

Der letzte Einsatz von Maarten S. Sneijder, Profiler beim BKA Wiesbaden, hat einen hohen Preis gefordert. Auch die Ermittlerin Sabine Nemez, von ihm ausgebildet und seine engste Mitarbeiterin, ist in dem brennenden Wrack vor Kaliningrad umgekommen. Davon sind alle überzeugt, auch Maarten S. Sneijder, bis er plötzlich einen Anruf von ihr erhält, kaum verständlich, nur ein paar Worte. Ihm ist klar, dass er sie finden muss und das schnell. Er stellt ein kleines Team zusammen. Die erste Spur führt nach Polen. Eine andere Spur führt zu einem pensionierten Richter in Leipzig und damit auch zu Walter Pulaski, Kripo Leipzig. Schwierig, absolut kein Teamplayer, klärt er eigenmächtig und erfolgreich komplexe Fälle auf. Maarten S. Sneijder braucht Pulaskis Unterstützung, doch dieser hat sich gerade beurlauben lassen, um in einem Verbrechen zu ermitteln, das ihn persönlich betrifft. Er hat weder die Zeit noch die Nerven für den Profiler aus Wiesbaden, und hat generell für die BKA-Kravattenträger nichts übrig. Doch er hat nicht mit der Hartnäckigkeit von Maarten S. Sneijder gerechnet.

Thema und Genre

Dieser Thriller, Band sieben der Reihe um Maarten S. Sneijder und Sabine Nemez, führt das Ermittlerteam quer durch Deutschland und nach Polen. Es geht um Netzwerke, die weit in die Vergangenheit zurückreichen und lukrative Geschäftsideen. Auch Cyberkriminalität ist ein Thema.

Charaktere

Diesmal lässt der Autor zwei seiner speziellsten Ermittlerfiguren aufeinandertreffen, den Profiler Maarten S. Sneijder und Kommissar Walter Pulaski, und dies ergibt ein geniales Feuerwerk an Dialogen und Ideen. Der vielseitig, versierte IT-Spezialist Marc Krüger „Marc wechselte zweimal den Benutzernamen, nahm ein paar nicht ganz legale Abkürzungen und war dann auch schon im Archiv der Justizvollzugsanstalt.“ (Zitat Seite 376) ist ebenfalls wieder Mitglied in Sneijders Team, das ergänzt wird durch junge, hochbegabte Kriminalkommissaranwärterin Miyu Nakahara. Die Unterschiedlichkeit dieser sehr präzise und konsequent entwickelten Figuren ist die perfekte Ergänzung zur Spannung der Handlung.

Handlung und Schreibstil

Von Beginn der Geschichte an entwickeln sich mehrere Handlungsstränge gleichzeitig, die zunächst keinen erklärbaren Zusammenhang erkennen lassen. Der straffe Zeitrahmen der aktuellen Handlung vom Prolog am 29. Mai bis zum 9. Juni sorgt dafür, dass die Geschichte rasant und sehr packend verläuft. Die Handlung ist in sieben übergeordnete Teile gegliedert, wobei jeder Teil einem Tag der Ermittlungen entspricht, beginnend am 3. Juni, und in übersichtliche Kapitel unterteilt ist. Die Schilderung der Ereignisse der Vergangenheit unterbricht mehrmals die aktuellen Handlungen und trägt als Überschrift das entsprechende Jahr und den Ort. Es sind einzelne, in sich abgeschlossene Fälle, ein weiteres spannendes Puzzleteil.  Es ist großartig, wie es dem Autor gelingt, die einzelnen Teile Schritt für Schritt zu einer sehr abwechslungsreichen und komplexen Geschichte zusammenzufügen, und dabei immer nachvollziehbar und glaubhaft zu bleiben. Die Sprache entspricht dem Genre und die witzigen, schrägen Dialoge lockern die Spannung auf, ohne jedoch den Spannungsbogen zu unterbrechen.

Fazit

Eine unglaublich facettenreiche, sehr gekonnt aufgebaute, komplexe Geschichte. Hochspannung und Lesevergnügen, ein Thriller, der begeistert.

Sisi – Karen Duve

AutorKaren Duve
Verlag Galiani-Berlin
Erscheinungsdatum 22. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten416
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3869712109

„Der krumme Weg ist hier doch immer der bequemere. Warum etwas direkt sagen, wenn man es auch hintenherum erledigen kann.“ (Zitat Pos. 1327)

Inhalt

So oft als möglich flieht Elisabeth, Kaiserin von Österreich, dem anstrengenden, intriganten Wiener Hofleben, das sie nicht nur einengt, sondern auch langweilt. Auf dem ungarischen Landsitz des Kaiserpaares, Schloss Gödöllö, kann sie sich freier bewegen und ihrer großen Leidenschaft, dem Reiten, nachgehen, so oft und lange sie will. Bei der Eröffnung der Wiener Weltausstellung 1873 erzählen ihr englische Würdenträger begeistert von den englischen Parforcejagden. Nach einem ersten Besuch im Jahr 1874 reist sie 1876 wieder nach England und nimmt dort an den schwierigsten Parforcejagden teil, während ihre bevorzugte Hofdame und Vertraute, Gräfin Marie Festetics, sorgenvoll auf ihre Rückkehr wartet, denn Elisabeth ist eine hervorragende Reiterin, aber gleichzeitig draufgängerisch und durch kein Hindernis aufzuhalten. Die Kaiserin ist der Mittelpunkt im Leben der Gräfin Festetics. Doch als die Kaiserin ihre junge Nichte Marie Louise Wallersee auf Schloss Gödöllö einlädt und diese, ebenfalls eine hervorragende Reiterin, bald zur Vertrauten der Kaiserin wird, fürchtet die Hofdame um Position bei der Kaiserin und schmiedet entsprechende Pläne.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Episoden aus dem Leben von Elisabeth, Kaiserin von Österreich. Der knappe Zeitrahmen umfasst die Jahre 1874 bis 1877, ergänzt durch Rückblicke. Themen sind Pferde, Jagden, Liebe, Klatsch und Intrigen.

Charaktere

„Bis ins kleinste Detail recherchiert und gnadenlos seziert: Karen Duve über eine Kaiserin, die ihrer Zeit oft weit voraus war und trotzdem bis heute unterschätzt wird.“ So steht es in der Beschreibung des Verlages. Doch leider zeigt dieser Roman nur einige Facetten ihrer vielschichtigen Persönlichkeit: wir erfahren viel über die außergewöhnliche begabte Reiterin und begeisterte Sportlerin Elisabeth, über die große Disziplin, mit der sie ihre Schönheit pflegte, über Skandale und Gerüchte über angebliche Affären, die bekannten, realen Liaisonen des Kaisers, aber wir erfahren nichts über die wesentlich spannenderen intellektuellen Seiten dieser vielseitig interessierten, gebildeten, außergewöhnlichen  Frau, die in ihren modernen Ansichten ihrer Zeit weit voraus war und durch ihren Freiheitsdrang und Wunsch nach Selbstbestimmung der Frauen eine frühe Vorreiterin für ein verändertes Frauenbild war.

Handlung und Schreibstil

Diese Jahre zwischen 1874 und 1877, die das Kernstück der Geschichte bilden, sind bereits geprägt durch Reisen und Aufenthalte fern vom Wiener Hof. Doch während ihr bevorzugter Rückzugsort bald darauf Korfu wurde, sind es in diesen Jahren noch Gödöllö, ihr Elternhaus in Possenhofen und, als neues Reiseziel, England. Es sind die Jahre, in denen die großartige, begeisterte, ehrgeizige Reiterin ihre Jagdleidenschaft auslebt. Geschildert werden einzelne Episoden und prägende Ereignisse, und auch die längst bekannten Anekdoten, Gerüchte und Intrigen am kaiserlichen Hof in Wien fehlen nicht. Doch dies alles findet sich bereits in der großartigen, umfassenden Elisabeth-Biografie von Brigitte Hamann. Wie vom Verlag angekündigt, wurde „gnadenlos seziert“, was in diesem Fall bedeutet, dass jene vorhin genannten Abschnitte so ausgesucht wurden, dass sie in das einseitige Bild der Kaiserin passen, das die Autorin mit diesem Roman vermitteln will. Daran ändert auch das ausführliche Literaturverzeichnis im Anhang nichts. Ein typischer Roman des in den letzten Jahren beliebten Genre „Berühmte Frauen, starke Frauen und die Liebe“. Auch die Sprache entspricht dem Genre Unterhaltungsroman.

Fazit

Ich hatte nicht mit diesem engen Zeitrahmen von wenigen Jahren, zugeschnitten auf den Schwerpunkt Pferde, Treibjagd und Skandälchen gerechnet. Viele andere wichtige Facetten werden nur gestreift und in meinen Augen sehr selektiv zusammengesetzt. Wer sich bereits mit dieser interessanten, facettenreichen, aber auch schwierigen und ambivalenten Persönlichkeit der berühmten österreichischen Kaiserin auseinandergesetzt hat, findet in diesem Roman nichts Neues. Mich konnte dieser Roman nicht überzeugen, aber ich bin sicher, er wird begeisterte Leserinnen finden.

Das Haus über dem Fjord – Kristin Valla

AutorKristin Valla
Verlag mareverlag
Erscheinungsdatum 20. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinGabriele Haefs
ISBN-13978-3866486492

„Ich stand in der Auffahrt, hatte die Autotür offen, dachte, dass das Haus noch immer schön sei. Es lag allein oben am Hang und sah aus, als ob es eigentlich keine Menschen brauchte.“ (Pos. 254)

Inhalt

Elin ist zehn Jahre alt, als ihre Weigerung, ein Kleid anzuziehen, ihr und ihrer Mutter das Leben rettet. Denn die beiden sind nicht in dem Auto, das von einem plötzlichen Erdrutsch verschüttet wird und in dem Elins Vater und ihre beiden älteren Brüder sterben. Im Herbst 2007 kehrt Elin, die in Oslo lebt und als Journalistin für eine Modezeitschrift tätig ist, in den kleinen Ort in der Provinz Nordland zurück. Vor zwei Jahren ist ihre Mutter gestorben und Elin beginnt, das Haus der Familie zu räumen, da sie es verkaufen will. Was will sie behalten, was entsorgen? Sie blättert den alten Terminkalender ihres Vaters aus dem Unglücksjahr 1985 noch einmal durch und plötzlich fällt es ihr auf – im Frühjahr vor dem Unglück dichte Termine, geschäftlich und privat, Reisen mit ihrer Mutter, Ballettaufführungen, Theater – es endet mit einer Eintragung ‚Ferien‘ im Juli und dann nichts mehr. Die Seiten des Herbstes sind völlig leer. Das Warum schickt Elin auf eine Suche in die Vergangenheit, die sie zunächst zu Gesprächen mit allen Dorfbewohnern und dann bis nach Frankreich führt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Familie, Eltern und Kinder, Erinnerungen und prägende Kindheitserlebnisse, ein wichtiges Thema ist die Suche nach dem eigenen, bewusst gestalteten Leben.

Charaktere

Elin ist Journalistin und arbeitet jetzt als Chefin vom Dienst bei einem norwegischen Modemagazin in Oslo. Durch das Unglück 1985 endet ihre unbeschwerte Jugend abrupt, Verlust und Trauer prägen sie bis heute. Mit dem Schriftsteller Ola, dem besten Freund ihres ältesten Bruders, verbindet sie immer noch eine vertraute Freundschaft. Es sind sympathische Figuren, deren Geschichte wir in diesem Buch folgen.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch von Elin als Ich-Erzählerin geschildert. Sie beginnt im Sommer 1985, die Haupthandlung schließt im Herbst 2007 an, reicht bis in den Sommer 2008 und endet dann in der Gegenwart, im Sommer 2019. Im Mittelpunkt steht Elin znd ihr Leben, ihre Recherchen zu den Ereignissen im Jahr 1985 wechseln mit Beschreibungen ihrer aktuellen beruflichen Tätigkeit ab. Ergänzt wird die Handlung durch viele Rückblenden, Elins Erinnerungen und ergänzende Details, die sich durch die Erinnerungen der Personen ergeben, mit denen sie spricht und denen sie ihre Fragen stellt, bis sich die Geschichte zu einem stimmigen Gesamtbild fügt. Die Sprache ist sehr angenehm zu lesen, nimmt sich auch Zeit für die Beschreibung der Landschaft des Nordlands, der zwischenmenschlichen Aspekte, die Schilderung des Lebens in der Gemeinschaft eines kleinen Ortes, und der internationalen Modewelt, Elins Berufsumfeld – das alles bunt, nachvollziehbar und ohne Längen.

Fazit

„Wer unsere Eltern wirklich waren, werden wir vielleicht nie erfahren. Aber wer sie für uns sind, entscheiden wir zum Glück selbst.“ (Pos. 3096) Dies ist eines der Kernthemen in dieser vielschichtigen, stimmigen Geschichte, die mich in packenden, angenehmen Lesestunden nach Norwegen entführt hat.

„Montaignes Katze – Nils Minkmar

AutorNils Minkmar
Verlag S. FISCHER Verlag
Erscheinungsdatum 7. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3103972948

„Wenn wir all das überleben, dann freue ich mich auf einen dritten Band ihrer Essais. Darin darf dann gerne etwas über diese Tage stehen, aber bitte intelligent verschlüsselt. Hoffentlich hilft es späteren Menschen von Bildung, Politik besser zu verstehen und gnädig mit uns zu sein.“ (Zitat Pos. 1886)

Inhalt

In einer Regennacht im Februar 1584 trifft ein in Grau gekleideter reitender Bote auf dem Schloss von Michel de Montaigne ein. Les Grisons, so nennt man diese Männer, die streng geheime Botschaften von der Spitze Frankreichs überbringen und Montaigne weiß sofort, wer nach ihm schickt. Der bekannte Diplomat und Philosoph war gerade zum zweiten Mal zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt worden, hat vor kurzer Zeit sein zweites Buch veröffentlicht und zieht sich mit seiner Frau Françoise und der kleinen Tochter Léonore so oft als möglich auf sein Schloss zurück, um hier zu denken und an seinen Essais zu schreiben. Doch nun muss er sofort nach Paris reisen, begleitet von seiner Frau, um die Reise inoffiziell und privat erscheinen zu lassen. Es ist eine unruhige, konfliktreiche Zeit, voller Misstrauen, Intrigen und Gewalt. Auch nach zwölf Jahren wurde die Bartholomäusnacht weder von den Katholiken, noch von den Hugenotten vergessen. Daher ist die Frage, wer dem kinderlosen Heinrich III. als König nachfolgen wird, von extremer Wichtigkeit und dafür wird Montaignes Unterstützung gebraucht.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses historischen Romans steht Michel de Montaigne, der einflussreiche Politiker, Humanist und Schriftsteller. In dem von Unruhen, Aufständen und Glaubenskriegen zerrissenen Frankreich im späten 16. Jahrhundert, in dieser hochpolitischen Zeit der Bündnisse und Intrigen, sieht es Montaigne als seine Aufgabe, sich für eine Lösung einzusetzen, die eine Chance hat, Frankreich das Ende der Bürgerkriege, neuen Wohlstand und mehr Gerechtigkeit für alle zu bringen. „Wie lösen sich kriegerische Positionen auf? In der Szene hängt der Schlüssel zu den Sorgen unserer Zeit. Aber wie muss er beschaffen sein?“ (Zitat Pos. 188). Es sind Überlegungen und Gedanken wie dieser, welche diesen Roman zeitlos machen, Parallelen zu unserer Zeit ziehen.  

Charaktere

Dem Autor gelingt es durch sein Fachwissen und seine Recherchen, die bekannten historischen Persönlichkeiten interessant und authentisch zum Leben zu erwecken. Die fiktive Figur des jungen Schreibers Nicolas Poulain und seine Beobachtungen und Erlebnisse zeigen eindrücklich das Leben der einfacheren Bevölkerungsschichten in dieser Zeit.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung schildert chronologisch die Ereignisse des Jahre 1584, beginnend mit einer Nacht im Februar bis zum Jahresende, wobei Rückblenden und Erinnerungen die Zusammenhänge erklären. Die Geschichte ist in drei übergeordnete Abschnitte gegliedert, welche in Kapitel unterteilt sind. Es handelt sich um einen Roman, doch der geschichtliche Hintergrund und die bekannten Tatsachen sind immer präsent, werden nicht verändert und umgeben den fiktiven, aber durchaus möglichen Teil der Handlung. Durch sein umfassendes Wissen und seine spürbare Begeisterung für Montaigne und diese Zeit gelingt dem Autor mit diesem Roman eine überzeugend lebhafte, faszinierende und spannende Schilderung dieser Zeit und ihrer Persönlichkeiten. Dies trifft auch auf die Sprache zu. In einer der ersten Szenen eilt der junge Nicolas Poulain, der statt seines verschollenen Onkels Charles als Schreiber für Montaigne tätig sein soll, durch Paris. Er ist spät dran, bleibt aber doch stehen, um in Stuben und Läden zu schauen. Er beschreibt, was er gerade sieht und so ergibt sich beim Lesen sofort ein buntes Bild der geschäftigen Stadt Paris in diesem Februar 1584.

Fazit

Diese vielseitige, interessante und spannende Geschichte führt uns schon mit der ersten Seite in Montaignes Welt und in das Jahr 1584 in Paris und Bordeaux. Ein großartiges Buch und so packend, dass man es nur aus der Hand legt, wenn es unbedingt sein muss.

Die Dringlichkeit der Dinge – Markus Grundtner

AutorMarkus Grundtner
Verlag edition keiper
Erscheinungsdatum 22. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten230
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903322554

„Ich hasse Gedanken, die ohne jegliche Rechtsgrundlage von meinem Kopf Besitz ergreifen und sich auch noch als dessen Eigentümer aufspielen Es ist Zeit, die wahren Besitz- und Eigentumsverhältnisse an meinem Kopf zu klären (Zitat Pos. 85)

Inhalt

Mag. Mathias Gandt, siebenundzwanzig Jahre alt, hat sein Jus-Studium erfolgreich beendet und sich bei einer angesehenen Wiener Rechtsanwaltskanzlei beworben. In zwei Jahren kann er zur Anwaltsprüfung antreten und genau so steht es auf seiner Liste der drei K für die nächsten fünf Jahre: Kanzlei, Karriere, Kind, in dieser Reihenfolge, ein geordneter Ablauf. Doch dann tritt vor dem offenen Bücherschrank am Wiener Margaretenplatz Klaudia Antonini in sein Leben. Nach dreizehn enttäuschenden Jahren in Wien ist die temperamentvolle Italienerin auf dem Weg zurück nach Triest. Doch mit Mathias, der sein Leben nach juristischen Grundsätzen organisiert, wagt sie einen Neubeginn in Wien und fügt den drei K ein viertes K hinzu: K wie Klaudia, wobei sie es mit der Reihenfolge nicht so genau nimmt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Wendepunkte im eigenen Leben, Neubeginn, Beziehungen,  Lebensplanung, und dazu eine gute Portion an juristischen Themen wie Sachenrecht, Mietrecht, Vertragsrecht und den beruflichen Alltag von Rechtsanwälten.

Charaktere

Mathias ist ein von den Paragrafen überzeugter Jurist und ordnet auch seine Alltagsprobleme nach juristischen Denkmustern. Klaudia handelt spontan, erklärt wortreich, was sie will und was nicht. Mathias sucht die drei K, sie die 3 L: Liebe, Literatur, Lehre.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in der Gegenwart, Ort der Handlung ist Wien. Die Hauptfigur Mathias ist der Ich-Erzähler. Seine erste richtige Anstellung als Konzipient, nicht mehr nur als Praktikant wie während seines Jus-Studiums, ist ein wichtiger Schritt auf seinem genau geplanten Weg zum Rechtsanwalt. Zwischen den sachlichen Formulierungen der Gesetzestexte fühlt er sich wohl und sicher und er erwartet, dass dieses Jahr, der Zeitraum der Handlung, ebenso strukturiert ablaufen wird. Diese Hauptfigur lässt der Autor auf eine temperamentvolle, spontane Italienerin mit einem Universitätsabschluss in Literatur treffen. Es sind diese Gegensätze, welche die Stärke dieser Geschichte ausmachen, originell, ungewöhnlich und dennoch charmant, und mitten aus dem Leben unserer Zeit gegriffen. Die Sprache verpackt sogar einen Ausflug in eine breite Palette von Rechtsformen und betitelt die Überschriften als Paragrafen mit jeweils einem treffenden Stichwort.

Fazit

Neugierig und gespannt folgt man den beiden Hauptfiguren. Gegensätze ziehen sich an, sagt ein Sprichwort, aber können solche Gegensätze in eine funktionierende Beziehung führen? Ein amüsantes, interessantes Buch, eine originelle Geschichte auch für Lesende ohne besondere juristische Vorkenntnisse. Für mich eine Entdeckung auf der österreichischen Longlist 2022, die mich überzeugt hat.

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen – Verena Roßbacher

AutorVerena Roßbacher
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 10. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3-462-00119-8

„Tatsache war: Aus dem völlig vergagelten Kind war eine hundertprozentig chaotisch zusammengewürfelte Erwachsene geworden.“ (Zitat Pos. 2265)

Inhalt

Charly Benz ist dreiundvierzig Jahre alt und lebt in Berlin. Sie arbeitet im Marketing von LuckyLily, einer veganen Foodcompany, wobei Charly weder Veganerin, noch wenigstens Vegetarierin ist. „Ich hatte keine Ahnung von Marketing und machte einen guten Job. Diese Tatsache allein war so himmeltraurig, dass ich hätte heulen können.“ (Zitat Pos. 280) Ihre Post bringt sie alle zwei Wochen zu Herbert Schabowsky, der sie für sie öffnet und sortiert. Dies mit viel Kaffee, Mohawk Red Zigaretten und Gesprächen über Gott und die Welt. Charly ist so etwas wie eine chaotische Optimistin, die sich zu viele Sorgen macht, Single, manchmal einsam, aber nicht unglücklich. Dennoch – zur Zeit fühlt sie sich in der Eintönigkeit gefangen, aber aus eigenem Antrieb schafft sie keinen Neubeginn. Bis mehrere Dinge gleichzeitig geschehen: von ihrer Schwester Sybille hatte sie zum Geburtstag einen Gutschein für die Teilnahme an einer Familienaufstellung bekommen, doch Charly hatte keine Absicht, hinzugehen. Nun trifft sie mit Herrn Schabowsky die Vereinbarung, an dieser Familienaufstellung teilzunehmen, wenn er im Gegenzug dringend notwendige ärztliche Untersuchungen machen lässt, bei denen sie ihn begleitet. Beides setzt völlig unvorhersehbare Ereignisse in Gang.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Romans steht eine eigenwillige, moderne Frau, die sich ihren vielen Fragen und Themen zu stellen versucht. Es geht um Freundschaft, Familie, Beziehungen, Liebe in vielen Facetten, kurz, um die bunte, manchmal verwirrende Vielfalt des Lebens.

Charaktere

Charly isst nicht Schokolade, sondern verkohlte Croissants zum Frühstück, dazu Kaffee und Zigaretten. „Fazit: Mein Leben sah nicht gut aus. Verzehrte Croissants: fünf. Zigaretten: viele. Fertig.“ (Zitat Pos. 320) Sie ist vielleicht nicht perfekt, dafür unwiderstehlich und liebenswert, man wünscht sie sich sofort als BFF, ab der ersten Seite dieses Romans.

Handlung und Schreibstil

Charly Benz ist eine chaotische Ich-Erzählerin, die in Bezug auf ihre Person gerne mal untertreibt. Der Handlungsrahmen umfasst etwa ein Jahr, verläuft nicht unbedingt chronologisch, alles andere wäre bei dieser Ich-Erzählerin auch eher erstaunlich. Ergänzungen durch viele Erinnerungen und Rückblenden lassen Raum für eigene Überlegungen und ergeben in Verbindung mit den aktuellen Ereignissen ein sehr gelungenes Gesamtbild. Die Sprache passt perfekt zu dieser eigenwilligen Hauptfigur.

Fazit

Moderne Frauenliteratur, die zeigt, was in diesem Genre möglich ist, überzeugend und sehr erfrischend, weil ohne Protagonistinnen, die in jammerndem Selbstmitleid versinken. Eine originelle, einfühlsame und positive Geschichte von unglaublich komisch, schräg, skurril bis zu ernst, traurig, nachdenklich – bittersüß, wie das Schokoladekonfekt im Titel.

Das Tor Europas: Die Geschichte der Ukraine – Serhii Plokhy

Autor Serhii Plokhy
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 3. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten560
SpracheDeutsch
ÜbersetzerThomas Wollermann,
Bernhard Jendricke,
Stephan Pauli, Stephan Kleiner,
Anselm Bühling
ISBN-13978-3455015263

„Die Ukraine, erst vor kurzem ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt, hat eine lange, dramatische und faszinierende Geschichte, die oft von den großen Narrativen der Imperien, die das Land jahrhundertelang beherrschten, überlagert wird.“ (Zitat Pos. 65)

Thema und Inhalt

Der Autor Serhii Plokhy, Historiker und Professor für ukrainische Geschichte, legt hier ein Werk über die mehr als zweitausend Jahre alte, wechselvolle Geschichte der Ukraine vor, von den Kimmerern, den Skythen, über die der  griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet, über die Rus-Wikinger, Mongolen, Kosaken, Österreich-Ungarn, die russischen Zaren, Russland, die UDSSR bis zur Eigenstaatlichkeit 1994, aktualisiert mit den Ereignissen ab 2014 und einem Epilog über das aktuelle Jahr 2022. Der Text wird ergänzt durch zehn Landkarten, welche 770 vor Christus beginnen, Zeittafeln, welche die Ereignisse im Zusammenhang mit der Ukraine in die wichtigen historischen Daten des Weltgeschehens einordnen. Es folgen das Who’s Who der ukrainischen Geschichte, eine Namenstafel, ebenfalls chronologisch und nicht alphabetisch, ein Literaturverzeichnis und Sachregister.

Umsetzung

Bereits Herodot gliedert das Land in Küste, Steppe, Wald und diese Unterteilung zieht sich durch die Jahrtausende der ukrainischen Geschichte, dieses Landes, das über Jahrhunderte um die Eigenständigkeit kämpfte und das doch immer wieder neu aufgeteilt und unterschiedlichen Ländern zugeordnet wurde. Der Autor betrachtet die unterschiedlichen Regionen nicht in getrennten Abschnitten, sondern immer gemeinsam, mit Blick auf das Ganze. So erfahren wir nicht nur über die unterschiedlichen Völker, die gleichzeitig in der Ukraine gelebt haben, die Herrscher, kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern auch über das Leben der Menschen, die wirtschaftliche Entwicklung, Gesellschaftsformen, Sprachen, Bildung, Politik und Religion.

Es sind grundsätzliche Fragen, die in diesem Buch gestellt und beantwortet werden, Fragen wie: was hat die Ukraine-Krise ausgelöst, wodurch unterscheiden sich die Ukrainer von den Russen, wer hat Anspruch auf die Krim und die Ostukraine und die sich aus der Geschichte ergebenden Argumente. Auch die Veränderungen, die mit dem Euromaidan 2014, dem russischen Angriff auf die Krim und den Donbas einhergingen, werden geschildert, damit verbunden die Veränderungen in der ukrainischen Gesellschaft, in denen der heutige Widerstand begründet ist.

Die Sprache ist informativ, sachlich und trotz der komplexen Themen erklärt der Autor die Zusammenhänge verständlich und nachvollziehbar.

Fazit

Dieses interessante, umfassende Werk über die Geschichte der Ukraine trägt zum besseren Verständnis der Entwicklungen in der Ukraine bei. Denn es ist die Geschichte eines großen Landes mit vielen unterschiedlichen Regionen, aus denen sich unterschiedliche kulturelle Räume ergeben, die jedoch eine gemeinsame Sprache, Geschichte und der Wille eint, die im Referendum vom 1. Dezember 1991 mit überwältigender Mehrheit bejahte Unabhängigkeit zu verteidigen. „In der Praxis gibt es keine einfach auszumachende kulturelle Grenze, die die Krim von den benachbarten Regionen der Südukraine oder den Donbas von den anderen östlichen Regionen scheiden würde.“ (Zitat Pos. 16238)

Kangal – Anna Yeliz Schentke

AutorAnna Yeliz Schentke
Verlag S. FISCHER Verlag
Erscheinungsdatum 9. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3103970814

 „Wir mussten andere werden, um sagen zu können, war wir dachten. Lieber eine andere sein, als keine Stimme zu haben. Als Kangal wurde ich nicht als ich und nicht als Frau erkannt.“ (Zitat Pos. 106)

Inhalt

Dilek hat mit Freundin Sinai Geografie studiert. Als Sinais Freund Baran verhaftet wird, fürchtet Dilek, dass ihre Identität aufgedeckt wird, unter der sie kritische Artikel im Netz veröffentlicht. Heimlich fliegt sie nach Frankfurt, nicht einmal ihren Freund Tekin hat sie eingeweiht. Dileks Cousine Ayla lebt mit ihrer Familie in Frankfurt, doch nach einem Streit der beiden Mütter vor vielen Jahren wurde der Kontakt bewusst abgebrochen. Dilek meldet sich bei Ayla, doch sie ist misstrauisch geworden und weiß nicht, ob sie ihr trauen kann. In Istanbul ist Tekin immer noch überzeugt, dass sie vorsichtig genug waren, um nicht entdeckt zu werden, und dass Dilek es bereuen wird, nach Deutschland gegangen zu sein.

Thema und Genre

Ein Thema ist die politische Situation in der Türkei, denn die Politik der letzten Jahre wird auch in Deutschland beobachtet, und die Meinung dazu entzweit die Menschen dort wie hier bis in die Familien. Doch es geht vor allem um eine junge Generation, die nach ihrer Identität und Zukunft sucht, um mutige junge Frauen, die ihren eigenen Weg gehen wollen, notfalls über Umwege. Auch die Bedeutung der Familie und der Familienstrukturen zwischen traditionell und modern sind ein Thema.

Charaktere

Es sind drei Hauptfiguren, Dilek, Ayla und Tekin, die abwechselnd ihre Sicht der Dinge schildern. Ayla will einerseits die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen, doch ihre eigenen Pläne für ihre Zukunft gibt sie nicht auf. Tekin ist im Netz gegen die Einschränkungen der persönlichen und der Meinungsfreiheit aktiv, er ist wachsam und vorsichtig, aber er unterscheidet zwischen Furcht und Angst und trifft keine voreiligen Entscheidungen. Dilek flieht nach Deutschland, weil sie Angst hat, verhaftet zu werden, doch sie fühlt sich auch in Deutschland nicht sicher und fragt sich, ob es richtig war, nach Frankfurt zu kommen. „Heute denke ich, ich hatte keine Wahl, morgen frage ich mich, ob ich nicht ein Feigling bin und es mir einfach mache, jetzt und hier.“ (Zitat Pos. 283)

Handlung und Schreibstil

„Seien sie sich bewusst, dass regierungskritische Äußerungen in sozialen Medien, auch wenn sie länger zurückliegen, aber auch das Teilen oder Liken eines fremden Beitrages Anlass für strafrechtliche Maßnahmen der türkischen Sicherheitsbehörden sein können.“ (Zitat Pos. 44) Diese Aussage bringt uns mitten in die Ereignisse. Die Handlung spielt in einem kurzen Zeitraum in der Gegenwart. Ergänzt wird sie durch Rückblicke, jede der Hauptfiguren erinnert sich an prägende persönliche Erfahrungen. Die Autorin erzählt die Geschichte in kurzen Kapiteln, im raschen Wechsel zwischen den drei Hauptfiguren. Die in der Überschrift des Kapitels genannte Figur wird im jeweiligen Kapitel zur Ich-Erzählerin, zum Ich-Erzähler. Ähnlich schnörkellos wie dieser straffe Aufbau ist auch die Sprache, während die Themen und Problematiken breit gefächert sind. Spannung entsteht durch die Entscheidungen und die vielen damit verbundenen Konflikte und Fragen.

Fazit

Kangal ist einerseits ein politischer Roman, es ist jedoch auch ein präziser Blick auf die aktuellen Themen unserer Gesellschaft, besonders die Situation der jungen Menschen zwischen Familientradition und Aufbruch, zwischen Türkei und Deutschland. In dieser Geschichte sind es vor allem die jungen Frauen, die selbstbewusst ihren eigenen Weg gehen wollen.

Spitzweg – Eckhart Nickel

AutorEckhart Nickel
Verlag Piper Verlag
Erscheinungsdatum 28. April 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492071437

„Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich gerne über einen Speicher in meinem Gehirn verfügen, der alle Momente versammelt, in denen ich Menschen, Orte und Dinge zum ersten Mal gesehen habe, die später im Leben für mich wichtig werden.“ (Zitat Pos. 473)

Inhalt

Bevor der jugendliche Ich-Erzähler Carl kennenlernt, den Neuen in der Klasse, der mit niemandem spricht, etwas abgehoben in seiner eigenen Welt zu leben scheint, konnte er mit Malerei nichts anfangen. Dann kommt der Tag, an dem die Kunstlehrerin in ihrer Unterrichtsstunde das Selbstporträt der sehr talentierten Schülerin Kristen mit einer rüden Bemerkung kritisiert. Carl überredet den zunächst zögernden Ich-Erzähler, der Zeichenlehrerin eine Lektion zu erteilen. Kirsten verschwindet, nur ein von ihr gezeichnetes Bild in Anlehnung an Millais Ophelia bleibt zurück. Doch anders als besprochen, verschwindet das Mädchen tatsächlich und die beiden Freude begeben sich auf die Suche.

Thema und Genre

In diesem Coming-of-Age Roman geht es um die Kunst, vor allem um die Ausdrucksformen der Malerei als Spiegel und Interpretation der Wirklichkeit, um Literatur, Psychologie, Freundschaft und die erste Liebe in dieser besonderen Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenenleben, wo die Suche danach, wer man ist und wer man sein will, gerade erst beginnt.

Charaktere

Carl ist ein selbstbewusster junger Mann, er zelebriert sein Auftreten gleich einem modernen Romantiker unserer Zeit, beschäftigt sich intensiv mit der Malerei, besonders mit den Bildern des Malers Carl Spitzweg. Der junge Ich-Erzähler ist das genaue Gegenteil, er zieht sich zu Hause meistens sofort in sein Zimmer zurück, blickt aus dem Fenster und versinkt träumend in den Beobachtungen der Natur. Dies ändert sich durch seine Freundschaft mit Carl. „Ich litt unter der schmerzlichen Abwesenheit des Besonderen. Nur in der Kunst schien alles besonders, Carl konnte es sehen und erklären.“ (Zitat Pos. 2746)

Handlung und Schreibstil

Der junge Ich-Erzähler schildert die Ereignisse, die dieser besonderen Zeichenstunde folgen, im Kern chronologisch, doch mit vielen Unterbrechungen, psychologischen Betrachtungen, genauen Beobachtungen einer möglichen Realität. So ist der Ich-Erzähler ist ein unverlässlicher Erzähler, in den manchmal beinahe verzweifelten Versuchen, aus der empfundenen Langeweile seines Lebens auszubrechen, mit allen Unsicherheiten seiner jungen Jahre, führt er uns durch surreale, skurrile Schein- und Traumwelten. Die intensiven Gespräche mit seinem kunstbegeisterten Freund Carl, dessen an Monologe grenzenden  Erklärungen über die Fähigkeit der Kunst, eine ästhetische, oft auch bei genauem Hinsehen kritische Variante der Realität anzubieten, umgeben und ergänzen facettenreich die Kernhandlung. Die Sprache bringt die poetischen bis ausufernden Satzgebilde der Romantik in die Gegenwart unserer Zeit.

Fazit

Ein trotz der surrealen Vielfältigkeit leiser, poetischer Roman über das Erwachsenwerden, die damit verbundenen verwirrenden Fragen mit der Suche nach philosophischen Antworten,  und gleichzeitig ein intensiver Ausflug in die Malerei zwischen Biedermeier und Romantik.

Der Diamanten-Coup – Patrick Burow

AutorPatrick Burow
Verlag Benevento Publishing
Erscheinungsdatum 25. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten296
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3710901447

„Der Plan war riskant – und die Spannung in dem Audi mit Händen zu greifen. Die vier Männer würden an diesem 25. November 2019 den größten Kunstraub der Nachkriegsgeschichte begehen.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Sie sind ein bewährtes Team und ihre Coups sind Auftragsarbeiten, genau wie in den frühen Morgenstunden an diesem 25. November 2019 in Dresden. Ihr Ziel ist das Grüne Gewölbe im Residenzschloss Dresden, das den größten barocken Juwelenschatz Europas beherbergt. Sie wissen, sie haben nur fünf Minuten Zeit, doch das genügt, um die wertvollsten Schmuckstücke einzupacken, darunter den berühmten Sächsischen Weißen Diamanten. Als die Polizei eintrifft, sind die Diebe längst spurlos verschwunden. Verschwinden muss auch der angesehene Professor für Kunstgeschichte und Kunstdetektiv Adrian Falke, denn für die Polizei ist der der Hauptverdächtige. Ausgerechnet die Direktorin des Museums, Julia Graf, rettet ihn davor, verhaftet zu werden. Einerseits ist ihr klar, wie absurd dieser Verdacht der Ermittler ist, vor allem jedoch braucht sie ihn in Freiheit, denn sie hofft, mit seiner Hilfe die geraubten Diamanten zu finden. Gemeinsam beginnt eine rasante Suche, doch immer sind die Diebe ihnen einen Schritt voraus.

Thema und Genre

Vom Verlag wird diese Geschichte dem Genre Thriller zugeordnet, für mich finden sich hier die typischen Charakteristika eines Kriminalromans. Themen sind berühmte Kunstdiebstähle, internationaler Diamantenhandel und weltweit agierende Verbrecherorganisationen.

Charaktere

Adrian und Julia sind sympathische Hauptfiguren, private Ermittler ohne die in diesem Genre aktuell sehr oft eingesetzten Traumata aus Scheidungen, verstorbenen Ehepartnern, Alkoholexzessen, für mich sehr positiv. Alle Personen dieser Geschichte sind fiktiv, aber nahe an echten Vorbildern, was sie realistisch und ihr Handeln nachvollziehbar macht.

Handlung und Schreibstil

Obwohl der Coup am Beginn der Geschichte auf tatsächlichen Fakten basiert, ist die nachfolgende Handlung, ebenso wie die Figuren, frei erfunden. Die rasante Handlung wird in kurzen Kapiteln erzählt, in deren Mittelpunkt abwechselnd die unterschiedlichen Gruppen der Hauptpersonen stehen. Als Überschrift trägt jedes Kapitel Ort, Datum, Uhrzeit, letzteres deshalb, weil es sich oft um Ereignisse handelt, die gleichzeitig an verschiedenen Orten stattfinden, und oft innerhalb von knappen Zeitspannen. Der knappe Zeitrahmen beträgt nur einen Monat und die Suche führt Adrian und Julia von Dresden über Hamburg, Paris, London, Antwerpen bis nach Dubai und zurück. Interessante Informationen über Diamanten und den Handel mit diesen wertvollen Steinen ergänzen die Handlung, ohne jedoch die Spannung zu nehmen.

Fazit

Ein True-Crime-Actionroman in Anlehnung an den Dresdner Jahrhunderdiebstahl am 25. November 2019, bei dem berühmte Diamanten von unermesslichem Wert erbeutet wurden, die bis heute verschwunden sind. Eine sehr gut recherchierte, spannende Geschichte, unterhaltsam zu lesen.

Österreichischer Buchpreis 2022 – Herausgeber: Österreichischer Buchpreis

Verlag Österreichischer Buchpreis
Erscheinungsdatum 6. September 2022
FormatTaschenbuch
Seiten
SpracheDeutsch
ISBN2773519332657

„Er verfolgt das Ziel, die Qualität und die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur zu würdigen du ihr im deutschsprachigen Raum erhöhte Aufmerksamkeit zu verschaffen.“ (Zitat Pos. 1124)

Inhalt

Dieser wichtige Preis wurde in Österreich 2016 zum ersten Mal vergeben. 2022 haben 58 Verlage insgesamt 110 Titel eingereicht, für den Debütpreis haben 18 Verlage 23 Erstlingswerke eingereich. Insgesamt bewarben sich somit 133 Werke aus den Bereichen Belletristik, Lyrik, Drama und Essay. Der vorgeschriebene Erscheinungstermin liegt zwischen dem 8. Oktober 2021 und dem 11. Oktober 2022. Nicht nur 35 Verlage aus Österreich haben Titel eingereicht, sondern auch 26 aus Deutschland und ein Verlag aus der Schweiz.

Gestaltung

Die zehn nominierten Titel der Longlist werden in alphabetischer Reihenfolge der Namen der Autoren und Autorinnen mit einer Leseprobe vorgestellt. Die jeweilige Überschrift trägt den Autorennamen, den Titel und die Kategorie. Am Ende der Leseprobe werden diese Angaben wiederholt und mit dem Namen des Verlages, sowie dem Erscheinungsjahr ergänzt. Es folgen die Leseproben der drei Titel der Shortlist Debütpreis. Anschließend an die Leseproben finden sich ausführliche Porträts der Autoren und Autorinnen mit Foto und Lebenslauf, ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge, gefolgt von den Porträts der Jurymitglieder. Den Abschluss der Broschüre bilden die Informationen über die Bücher selbst, Coverfoto, Verlag, Anzahl der Seiten und Preis. Auch hier wird die alphabetische Reihenfolge nach Autoren- und Autorinnenname beibehalten, allerdings sind die Werke wieder nach Longlist 2022 und Shortlist Debüt 2022 getrennt.

Fazit

In österreichischen Buchhandlungen liegt die Broschüre in gedruckter Form auf. Ich lebe in Deutschland und bin daher dankbar, dass sie auch auf NetGalley Deutschland in elektronische Form kostenlos zur Verfügung gestellt wird, in dieser Form habe ich sie gelesen. Es ist ein sehr interessanter, informativer Überblick über die nominierten Werke. Die ausführlichen Leseproben sind eine perfekte Entscheidungshilfe für die eigene Wunschliste. Manche der Bücher sind bekannt, finden sich schon auf der deutschen Longlist, wir finden auch 2022 Neuerscheinungen von sehr bekannten Schriftstellern und Schriftstellerinnen, Namen, deren frühere Werke in vergangenen Jahren nominiert waren. Nicht nur auf der Debütliste fand ich aber auch mir unbekannte Titel, die schon bei der Leseprobe auf Grund der Themen und der Art zu schreiben meine Neugierde und entsprechende Wünsche weckten. Ich kann mich nicht erinnern, in einem der früheren Jahre bei einer Longlist-Leseprobe schallend gelacht zu haben. Ich finde die Vielfalt der österreichischen Buchpreis-Liste 2022, es ist auch ein Lyrikband dabei, wieder sehr gelungen.

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