Die eigentümliche Vorliebe für das Meer – Gregor Hens

AutorGregor Hens
VerlagAufbau Digital
Datum15. August 2023
AusgabeKindle Ausgabe
Seiten257 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ASINB0C2ZH6PZ8

„Am liebsten würde sie die Routine zwischen Wohnung, Bibliothek und Klinik ewig fortführen. Ihr Leben ist ein Dreieckskurs, vorhersehbar und sicher, es gibt keine Überraschungen, alles hat seine Ordnung.“ (Zitat Seite 18)

Inhalt

Als sie achtzehn Jahre alt ist, verlässt Benedita „Dita“ Chou da Luz ihre Heimatstadt Nam Van und ihre Familie. Sie zieht nach Europa, nach Geest, in das Haus, das sie von ihrer Urgroßmutter Janne geerbt hat, und studiert Medizin. Sie will Ärztin werden. Jetzt, an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, kehrt sie nach Nam Van zurück. Ihr Onkel Gabriel, der das Luxushotel Majestic leitet, das der Familie gehört, hat sie eingeladen. Ein neunzehnstöckiges Luxushotel, ein goldener Turm, der wie ein Leuchtturm alles überstrahlt, wird dieses Haus auch Benedita ihren weiteren Weg weisen?

Thema und Genre

Dieser Generationenroman ist die Geschichte der Familie Chou da Luz. Es geht um das Leben in zwei völlig unterschiedlichen Welten und Kulturen, um Beziehungen, Kinder, Erinnerungen, Familiengeheimnisse, Liebe und Schuld – und immer geht es auch um das Meer.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird abwechselnd von Gabriel und Dita erzählt. Sie beginnt in der Jetztzeit und geht dann weit in die Vergangenheit zurück. „Es ist, als wollte Benedita die Familiengeschichte von hinten aufrollen. Als wollte sie selbst verstehen, an welchem Punkt die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind.“ (Zitat Seite 242) So entsteht langsam ein buntes und bewegtes Bild einer Familie, beginnend mit den beiden sehr unterschiedlichen Urgroßmüttern, weiter zu Ditas Großeltern, bis zu den ebenso unterschiedlichen Brüdern Gabriel und Tovo, Ditas Vater. Diese Art des Erzählens fasziniert sofort durch die Vielfalt der dadurch immer deutlicher aus der Vergangenheit und den vielen verschwiegenen Lücken in der Familiengeschichte hervortretenden Figuren, ihrer Konflikte und Handlungen. Verbunden sind diese Ereignisse mit bildintensiven Beschreibungen der Entwicklung der Hafenstadt Nam Van, der Landschaften und der Natur. Die Sprache ist kraftvoll, einfühlsam und poetisch.

Fazit

Eine spannende Geschichte, deren Vielfalt und Figuren begeistern. Ein Roman, den man von der ersten bis zur letzten Seite mit Begeisterung und Vergnügen liest.

Leben im Schatten der Stürme: Erkundungen auf der Krim – Landolf Scherzer

AutorLandolf Scherzer
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 20. September 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten318
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3351039783

„Wir Tataren wissen: Wenn du die Erinnerung tötest, tötest du dich. Die Russen sagen: Dem Volk, das nicht über seine Vergangenheit spricht, bleiben auch die Wahrheit über die Gegenwart und die Träume von der Zukunft verschlossen.“ (Zitat Pos. 733)

Thema und Inhalt

Der Schriftsteller und Publizist Landolf Scherzer reist 2019 auf die Krim, er stellt Fragen und hört vor allem zu. So erfährt er die Lebensgeschichten von Krimtataren. Mit dieser Reportagereise erfüllt er den Wunsch seines Freundes Wassja, selbst Krimtatar, der Ende 2018 mit seiner Frau nach Australien auswandert und ihn bittet, für ihn auf die Krim zu fliegen und die Geschichten der Krimtataren aufzuschreiben, damit die Vergangenheit nicht vergessen wird und damit die Deutschen verstehen, was heute auf der Krim geschieht. Auf Wassjas Empfehlung kann er privat bei einer Familie in der Nähe der Stadt Saki wohnen. Als er Babuschka Gulnada fragt, ob sie Ukrainerin, Tatarin, Usbekin oder Russin sei, erhält er die Antwort, sie seien Usbeken und Russen und Ukrainer, zuerst jedoch Tataren, Krimtataren. Darum geht es in dieser Reportage, einerseits um die Vergangenheit, andererseits um das Leben der Menschen auf der Krim und die Veränderungen seit 2014.

Umsetzung

Landolf Scherzer besucht die besten Freunde von Wassja, sechs Brüder, die auf einige seiner Fragen antworten, auf andere nicht, sondern statt dessen ihm Geschichten und Erlebnisse aus ihrem Alltag erzählen. Unterwegs spricht der Autor auch selbst unterschiedliche Menschen an, oder wird von ihnen angesprochen. Alle diese Begegnungen notiert er täglich, dazu die Gespräche, die Geschichten, die er erfährt, die Gastfreundschaft, die er überall antrifft, und ergänzt diese Notizen mit seinem eigenen Tagesablauf und den persönlichen Eindrücken und Erfahrungen, ungewöhnlichen, ernsten, nachdenklichen und skurrilen, erheiternden Erlebnissen. Dennoch bleiben viele offene Fragen. Daher reist er knapp neun Monate später mit einem Freund, der durch seinen Handel mit Heimtextilien Kontakte in die Ukraine hat, ein zweites Mal auf die Krim. Diesmal füllen sich die Lücken in seinen Notizen und er schreibt an Wassja: „Alles, was ich erkunden konnte, werde ich nun versuchen aufzuschreiben. Wie und wann und was, weiß ich noch nicht.“ (Zitat Pos. 3644) Nun ist es aufgeschrieben, in den einzelnen Kapiteln sind jeweils mehrere Geschichten zusammengefasst. Die langen Überschriften skizzieren bereits, worum es im jeweiligen Kapitel geht, so sieht eine der Überschriften aus: „Von Bauern, die auf der Krim tiefe Brunnen bohren, dem Geschichtsbruder, der nach 2014 den Fehler gemacht hat, so viel Knoblauch wie zuvor anzubauen, und dem Zaren, der 1867 Alaska an die USA verkaufen musste.“ (Kapitelüberschrift, Pos. 563, 564)

Fazit

„Ich stehe am Fenster“ – so beginnt diese interessante, abwechslungsreiche, eindrückliche Reportage über die Halbinsel Krim, die wechselvolle Geschichte und die Menschen, die dort leben. Auch wenn man sich in den letzten Monaten bereits durch Sachbücher und Berichte über die Ukraine informiert hat, findet man hier breit gefächerte, vertiefende Einblicke, informatives Wissen und Hintergrundwissen, das man so noch nicht gelesen hat. „Doch Patrioten werden nicht als Patrioten geboren. Patrioten müssen sich die Herrschenden erst durch Ideologie Formen.“ (Zitat Pos. 2613). Dieses Zitat, die Aussage des Chefredakteurs einer Zeitung, ist wohl die beste Erklärung  dafür, warum man dieses Buch, das der Autor den Ukrainern und Russen widmet, die sich für ein friedliches Zusammenleben aller Völker einsetzen, unbedingt lesen sollte.

Das Haus auf dem Wasser – Emuna Elon

AutorEmuna Elon
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 20. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten360
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBarbara Linner
ISBN-13978-3351038410

„Ich selbst hoffe, dass mein Schreiben nicht im Sumpf der Vergangenheit gründet, sondern meine Seele und die Seelen meiner Leser zu dem trägt, was gegenwärtig ist, und was in Zukunft sein wird.“ (Zitat Pos. 122)

Inhalt

Joel Blum, ein preisgekrönter, international erfolgreicher israelischer Schriftsteller, reist mit seiner Frau Bat-Ami nach Amsterdam. Sein holländischer Verleger hat ihn eingeladen und seine Frau überzeugt ihn von der Wichtigkeit dieser Reise, obwohl Joel damit den letzten Willen seiner verstorbenen Mutter missachtet. Diese hatte ihn eindringlich gebeten, nie nach Amsterdam zurückzukehren. Bei dem Empfang, den der Amsterdamer Verlag ihm zu Ehren gibt, fragt plötzlich ein Journalist, ob es wahr sei, dass Joel Blum hier in Amsterdam geboren sei. Damit deckt er ein Geheimnis auf. Denn Joel Blum ist tatsächlich der Sohn einer alteingesessenen Amsterdamer Familie, die im zweiten Weltkrieg nach Israel ausgewandert ist. Damals war Joel ein Baby. Er selbst hat keine Erinnerungen an diese Zeit und seine Mutter hatte auf alle Fragen geschwiegen. Jetzt fliegt er, eine Woche nach diesem Vorfall, wieder nach Amsterdam, diesmal allein. Denn im Jüdischen Museum hatte er einen Film gesehen, eine kurze Sequenz, wenige Minuten, die alles verändert haben. Er begibt sich auf die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit und arbeitet gleichzeitig an einem neuen Roman, der dies zum Thema hat.

Thema und Genre

In diesem Roman, der in Amsterdam und Tel Aviv spielt, geht es um die Zeit der Besatzung und Judenverfolgung in Holland, um Familiengeheimnisse und um die Suche nach der eigenen Identität. Gleichzeitig ist auch das Schreiben, die Entstehung einer Geschichte und ihrer Figuren ein Thema.

Charaktere

Joel Blum ist ein bekannter Schriftsteller, ein genauer Beobachter mit vielen offenen Fragen, auf die er nun Antworten sucht. „Doch etwas in ihm sagt ihm, sollte ihm das alles gelingen, würde dieses Buch der Roman seines Lebens werden – nur um diesen Roman zu schreiben, sei er überhaupt ein Schriftsteller geworden.“ (Zitat Pos. 227)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte ist in vier übergeordnete Kapitel gegliedert, jedes davon ein Notizheft, denn Joel Blum pflegt seine Eindrücke immer in Notizheften festzuhalten, wenn er an einem neuen Romanstoff arbeitet. Seine Tage in Amsterdam füllen sich mit Recherchen, dazwischen schildert er das Leben von Sonia, seiner Mutter, und ihrer Familie in diesen Tagen, an denen immer mehr Juden verhaftet und abtransportiert werden. Immer wieder füllen sich die Straßen, Plätze und Häuser, die er in der Gegenwart aufsucht, für ihn mit den Menschen aus seiner Vergangenheit und auch seine Notizhefte füllen sich. Diese Art des Erzählens macht diese besondere, eindrückliche Geschichte spannend. Ergänzt wird die Handlung durch lebhafte Schilderungen Amsterdams damals und heute, in einer wunderbar zu lesenden Sprache

Fazit

Eine überzeugend erzählte, einfühlsame, packende Geschichte über Familiengeheimnisse und die Suche nach der eigenen Identität als Resultat von Vergangenheit und Gegenwart.

Fast hell – Alexander Osang

AutorAlexander Osang
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 18. Januar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten237
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3351038588

„Fast hell“ von Alexander Osang, Aufbau Verlag, 18. Januar 2021, Gebundene Ausgabe: 237 Seiten, Sprache: Deutsch, ISBN-13: 978-3351038588

Inhalt

Anfang der 2000er Jahre trifft Alexander Osang den in New York lebenden Kosmopoliten Uwe zum ersten Mal. Wie der Autor stammt auch Uwe ursprünglich aus Ostberlin und in der Folge treffen sie einander immer wieder. Als Alexander Osang 2019 für den SPIEGEL ein Porträt über Ostdeutsche schreiben soll, denkt er sofort an Uwe und dieser ist bereit, seine Geschichte zu veröffentlichen. Zusammen mit Uwes Mutter unternehmen sie eine Schiffsreise von Helsinki nach St. Petersburg. In den langen gemeinsamen Gesprächen verbinden sich Uwes lebhafte Geschichten mit Alexander Osangs eigenen Erinnerungen.

Thema und Genre

Dieses Buch handelt vom Aufwachsen in der DDR und der Situation der Ostdeutschen nach der Wende, Vergangenheit, Umbrüche, Aufbruch, Reisen und Leben zwischen Berlin, New York, Tel Aviv. Vor allem geht es um die Frage, wie sehr sich Dinge, die wir erlebt haben, in unseren Erinnerungen verändern und welche Geschichte wir dann tatsächlich als unsere Lebensgeschichte erzählen.

Charaktere

Uwe ist ein schillernder Weltenbürger und eine schwer zu fassende Figur. Seine Erlebnisse und die Menschen darin sind bunt, vielfältig und manchmal skurril, doch sind sie auch wahr? Der Journalist Alexander Osang, der als Ich-Erzähler von seinen Begegnungen und Gesprächen mit Uwe berichtet, begibt sich auf eine intensive Reise in die eigene Vergangenheit.

Handlung und Schreibstil

Der Hauptteil der Geschichte spielt zwischen Juli und September 2019. Er beginnt der Schiffsreise im Juli, mit der Fähre von Helsinki nach St. Petersburg, drei Tage in St. Petersburg. Darin eingeschlossen die Erinnerungen, zurück in die Familiengeschichte, die Zeit in der DDR, durch die dreißig Jahre zwischen dem Mauerfall und diesem Sommer 2019. Die Sprache erzählt poetisch, lebhaft, mit feinem Humor und viel Einfühlungsvermögen, beschreibt auch sehr gut die eigenen Zweifel, die Suche nach sich selbst.

Fazit

Einfühlsam umgesetzte, interessant zu lesende Einblicke in die Zeit nach dem Mauerfall und die gedankliche Teilung zwischen Ost- und Westdeutschland, die auch nach dreißig Jahren noch nicht abgeschlossen ist. Eine Reise in die Vergangenheit, das Leben, eingeschlossen in Erinnerungen. Großartig erzählt, bewegt sich die Geschichte zwischen poetischer Leichtigkeit und eindrücklicher Nachdenklichkeit. „Eine Erzählung dann eben, dachte ich, eine absurde, aber wahre Novelle.“ (Zitat im Epilog, Pos. 2482)

Kindheit – Tove Ditlevsen

AutorTove Ditlevsen
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 18. Januar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten112
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinUrsel Allenstein
SerieDie Kopenhagen-Trilogie, Band 1
ISBN-13978-3351038687

„Irgendwann möchte ich all die Wörter aufschreiben, die mich durchströmen. Irgendwann werden andere Menschen sie in einem Buch lesen und sich darüber wundern, dass ein Mädchen doch Dichter werden konnte.“ (Zitat Pos. 287)

Inhalt

In diesem ersten Teil der Kopenhagen-Trilogie schildert die Autorin Tove Ditlevsen ihre Kindheit in Vesterbro, einem Vorstadtviertel von Kopenhagen. Tove wächst in einer kleinen Wohnung in einem Hinterhaus in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Der Vater wird arbeitslos und verfällt in Schweigen, doch er vermittelt Tove schon früh die Liebe zu Büchern. Die Mutter zieht den älteren Bruder Edvin vor und hat kein Verständnis für Tove, die unbedingt Schriftstellerin werden will.

Thema und Genre

In ihren autobiografischen Erinnerungen schildert die dänischen Autorin ihre Kindheit, das Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie im Kopenhagen der 1920er Jahre, ihr Anders-sein, ihre Ängste, aber auch die unterschiedlichsten Bewohner in dem Umfeld der Istedgade.

Charaktere

Die nachdenkliche Tove ist eine Außenseiterin. Schon vor der Einschulung kann sie lesen, schreibt bald erste Gedichte und auch alltägliche Eindrücke formen sich in ihren Gedanken sofort zu einer Fülle von Wörtern. Ihre Freundin Ruth dagegen ist aufgeweckt, frech und zeigt Tove die Stadt der Erwachsenen. 

Handlung und Schreibstil

Ehrlich und offen schreibt die Autorin über das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter, die den Bruder Edvin der verträumten, unsicheren Tove vorzieht, die ärmlichen Verhältnisse im Arbeitermilieu der 1920er Jahre. Tove ist eine genaue Beobachterin und versucht, die Welt der Erwachsenen zu verstehen. Daraus ergibt sich eine berührende Mischung zwischen den Ängsten und Konflikten des Heranwachsens und humorvollen Erlebnissen und Eindrücken. Ihre Liebe zu Büchern teilt sie mit ihrem Vater, doch ihre Träume, Schriftstellerin zu werden, behält sie für sich, nachdem auch ihr Vater ihr erklärt hat, dass ein Mädchen kein Dichter werden kann.

Fazit

In ihrer präzisen, klaren Sprache führt uns die Autorin in die Stadt Kopenhagen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und schildert beeindruckend das Leben von Frauen und Kindern der Arbeiterklasse.

Die Tochter des Zauberers: Erika Mann und ihre Flucht ins Leben – Heidi Rehn

AutorHeidi Rehn
Verlag Aufbau Taschenbuch
Erscheinungsdatum 18. August 2020
FormatTaschenbuch
Seiten448
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3746635811

„Wenn Amerika jetzt nicht aufwacht, um sich gegen Hitler zu stellen, werden wir uns eines Tages verwundert die Augen reiben, weil wir unsere Chance verpasst haben. Danke, Erika, dass Sie uns die Augen geöffnet haben.“ (Zitat Pos. 824)

Inhalt

Schon 1933 verlässt die Familie Mann Deutschland, um in der Schweiz zu leben. Doch Erika Mann ist das nicht weit genug weg von Nazideutschlad und sie wandert zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Klaus nach Amerika aus. Sie logieren im Hotel Bedford, wo sie auf bekannte deutsche Exilkünstler und Journalisten treffen und Erika knüpft rasch wichtige Verbindungen. Sie braucht jede Unterstützung, denn in wenigen Wochen trifft auch das Ensemble ihres Kabaretts „Die Pfeffermühle“ in New York ein, welches sie als „Peppermill“ weiterführen will. Ihr größtes Anliegen ist es, den Amerikanern die Augen über die Vorgänge in Deutschland zu öffnen und sie von den drohenden, realen Gefahren durch das NS-Regime zu überzeugen.

Thema und Genre

Dieser Frauenroman mit biografischem Hintergrund ist der Band 14 der Serie „Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe“. Im Mittelpunkt steht die Künstlerin Erika Mann, eine starke, eigenständige, engagierte Frau, die dennoch, ebenso wie ihr Bruder Klaus, ihr Leben lang im Schatten ihres berühmten Vaters Thomas stand. Themen sind die ersten Jahre der Naziherrschaft in Deutschland, Exilkunst, die großartige Kulturszene im New York der Vierzigerjahre und natürlich auch die Liebe in allen Facetten.

Charaktere

Der Wunsch nach einer künstlerischen Eigenständigkeit dominiert das Leben der Schauspielerin und Schriftstellerin Erika Mann, verbunden mit einen starken Drang nach persönlicher Freiheit und Ungebundenheit. Rastlos und engagiert eilt sie von Termin zu Termin und durch ihr Leben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in den prägenden ersten Monaten in New York, zwischen September 1936 und Dezember 1937, wo Erika Mann, erst etwas über dreißig Jahre alt, wichtige Entscheidungen für ihr späteres Leben trifft. Persönlich steht sie zwischen zwei Männern und einer Frau und die Schilderung ihrer Zweifel und Überlegungen geraten etwas langatmig und bringen ihr Handeln zweitweise in die Nähe von Berechnung, was nicht zu dieser eigenwilligen, selbstbestimmten Frau passt, der die eigene Unabhängigkeit viel zu wichtig ist.

Die Sprache ist angenehm und entspannt zu lesen. In den Schilderungen und Beschreibungen hätte ich gerne noch mehr über das Leben in der pulsierenden Weltstadt New York gelesen, über die lebhafte, bunte Künstlerszene dieser Zeit und weniger über Cocktails und Erikas unentschlossene Selbstzweifel, ihre Gefühle betreffend.

Fazit

Ein interessanter Frauenroman mit biografischem Hintergrund, in dessen Mittelpunkt eine oft nur als Tochter des Nobelpreisträgers Thomas Mann wahrgenommene, vielseitige und ausdrucksstarke  Künstlerin steht. Die Handlung, die nur etwas mehr als ein Jahr erfasst, regt an, sich als Vertiefung durch einige der in der Literaturauswahl am Buchende genannten Titel zu lesen.

Kein Ort ist fern genug – Santiago Amigorena

AutorSantiago Amigorena
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 21. Juli 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten184
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3351038311

„Mit am schlimmsten am Antisemitismus ist die Tatsache, dass die Juden sich zwangsläufig als Juden zu fühlen haben, dass man sie auf eine Identität jenseits ihres Willens festlegt und kurzerhand für sie beschließt, wer sie wirklich sind.“ (Zitat Pos. 572)

Inhalt

1928 verlässt der junge Pole Vicente Rosenberg Europa und wandert nach Argentinien aus. Fünf Jahre später begegnet er Rosita Szapire, die er heiratet. 1940 haben die beiden drei Kinder und Vicente hat gerade sein Möbelhaus eröffnet. Als er im Oktober 1941 einen Brief von seiner Mutter erhält, in dem sie ihm das Leben im Warschauer Ghetto schildert, fühlt er sich schuldig, weil er sie und seinen Bruder nicht schon längst zu sich nach Argentinien geholt hat. Um die Stimme des eigenen Gewissens nicht mehr hören zu müssen, spricht auch er nicht mehr, er zieht sich völlig in sein Schweigen zurück.

Thema und Genre

Das Hauptthema dieses biografischen Romans ist eine andere Perspektive des Völkermordes an den Juden im WKII, es geht um die Schuldgefühle jener, die überlebt haben, ihre Fassungslosigkeit, Scham und Ohnmacht, nichts tun zu können. Weitere Themen sind die Frage nach den eigenen Wurzeln und Identität, und die Familie.

Charaktere

Vicente Rosenberg war der Großvater des Autors, der sich als Pole, später als Argentinier, aber nie als Jude fühlte. Die Ungewissheit über das Schicksal seiner Mutter und seines Bruders stürzen ihn in tiefe Schuldgefühle, gefolgt von Depressionen und Spielsucht. Er hüllt sich buchstäblich in ein umfassendes Schweigen.

Handlung und Schreibstil

Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Jahre 1940 bis 1945, ergänzt durch Rückblenden und sachliche Berichte über geschichtliche Tatsachen. Die bewegende Geschichte beginnt voll Hoffnung, Vicente ist dabei, sich ein erfolgreiches Leben aufzubauen, ist ein romantischer Ehemann und liebevoller Vater. Dies alles ändert sich schlagartig, als die ersten kurzen Meldungen über die Situation der Juden in Europa nach Argentinien gelangen. Nun stehen Vicente und seine Befindlichkeiten und Schuldgefühle  im Mittelpunkt der weiteren Geschichte und die bisherige Intensität der Handlung und die eindrückliche Sprache verlieren etwas von der ursprünglichen Aussagekraft.

Fazit

Eine ergreifende Geschichte, beklemmend in ihrer Hoffnungslosigkeit. Irgendwann jedoch mündest sie in eine ständige Wiederholung der Metaphern und Schilderungen der Befindlichkeit des Hauptprotagonisten, als ob auch dem Autor weitere Worte fehlten. Ich vermute, dass dies Absicht ist, mich konnte es jedoch nicht vollkommen überzeugen.    

Margherita – Jana Revedin

AutorProf. Dr. Jana Revedin
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 21. Juli 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3351038304

„Wir feiern dich, ma belle, ausschließlich dich! Nicht die Mittel, nicht den Rahmen, nicht die Statisten.“ (Zitat Pos. 1153)

Inhalt

Margherita wird 1920 fünfundzwanzig Jahre alt, der Conte Antonio „Nino“ Revedin ist sechsunddreißig, als er Margherita in Treviso kennenlernt und ihr bald darauf einen Antrag macht. Vor der Hochzeit verbringt sie ein halbes Jahr in Paris, besucht Kunstgalerien und lernt aufstrebende, junge Künstler kennen, die auch zur Hochzeit kommen, Coco Chanel, Alberto Giacometti, Elsa Schiaparelli, Jean Patou, Eugenia Errázuriz. Diese Freundschaften prägen sie und regen ihre Ideen an, als sie gemeinsam mit ihrem visionären Ehemann Nino erste Schritte für einen neuen Kultur- und Naturtourismus plant und sie beginnen, Venedig und den Lido zu einem weltoffenen, modernen kulturellen Zentrum zu machen. So lernt sie auch Peggy Guggenheim kennen. Dann kommt das Jahr 1936 und dieses Jahr verändert alles, nicht nur in politischer Sicht. Doch Margherita ist stark, kreativ und sie gibt nie auf – das hat sie mit der Stadt Venedig gemeinsam.

Thema und Genre

Dieser Roman verbindet Fiktion und Realität, indem er die Geschichte der adeligen Familie Revedin, und damit auch des modernen Venedig, mit fiktiven Ereignissen verbindet. Ein Thema ist das bewegte Leben von Margherita Revedin, doch vor allem geht es um das lebendige Künstlerleben zwischen Paris und Venedig, beginnend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um die Entstehung der Filmfestspiele und der Architektur-Biennale.

Charaktere

Margherita stammt aus einfachen Verhältnissen und wird Zeit ihres Lebens vom alteingesessenen venezianischen Adel geschnitten. Doch dies stört sie nicht, denn sie sucht nicht die alten Traditionen, sondern sie blickt in die Zukunft und erkennt auch das Potential der neuen Zeit. Die bekannten Künstler*innen des Kreises um Margherita sind in ihren Eigenheiten beeindruckend real und stimmig geschildert.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin erzählt das Leben von Margherita Revedin, der Großmutter ihres Ehemannes und damit verbunden auch die Geschichte des modernen Venedig ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Jahre zwischen wichtigen Ereignissen fasst sie zusammen, indem sie am Beginn eines neuen Kapitels kurz beschreibt, wie viele Jahre inzwischen vergangen sind. Damit vermeidet sie mögliche Längen und man verfolgt die Geschichte mit Spannung, die nicht nachlässt, sondern ihren steten Sog behält. Die letzten Kapitel, die sie mit „Ausklang“ tituliert, spielen 1987 und es schließt sich der Kreis.

Fazit

Ein biografischer Generationenroman über die europäische Kunst- und Kulturszene im 20. Jahrhundert, verbunden mit der jüngeren Geschichte der Stadt Venedig. Die Autorin nimmt uns mit in die prächtigen Palazzi am Canal Grande und das elegante Ambiente des Lido. Es ist ein Vergnügen, dieses interessante, einfühlsam und lebendig geschriebene Buch zu lesen, nicht nur für begeisterte Venedig-Kenner.

Der Freund – Sigrid Nunez

AutorSigrid Nunez
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 21. Januar 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten235
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3351034863

„Es gab eine Zeit, in der mir klarer gewesen wäre, ob es von einer geistigen Störung zeugt, wenn man einem Hund Rilkes Briefe an einen jungen Dichter laut vorliest.“ (Zitat Pos. 1782)

Inhalt

Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin und Dozentin für Creative Writing, ist mit einem Schriftsteller in einer lebenslangen, tiefen Freundschaft verbunden, an der auch die drei Ehen des Schriftstellers nichts ändern. Als dieser Selbstmord begeht, versinkt sie in Erinnerungen, Fragen und führt in ihren Gedanken ihre lebhaften, kritischen Diskussionen mit ihm weiter, in denen es um Literatur, Schriftsteller und das Leben insgesamt geht. Doch die Realität verlangt von ihr Entscheidungen, denn ihr Freund hat ihr seinen alten Hund vermacht, eine große Dogge namens Apollo. Auch der Hund trauert, aber gerade daraus ergibt sich eine besondere Bindung zwischen der Schriftstellerin und der Dogge, die viel lieber Rilke vorgelesen bekommt, als Mozart zu hören.

Thema und Genre

Dieser vielschichtige Roman erzählt in Form der Gedanken und Gefühle einer Hauptfigur eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Literatur früher und heute, vom Schreiben und den Schriftstellern, vom Altern und von dem tiefen, wortlosen Verständnis zwischen Mensch und Hund.

Charaktere

Nur die Dogge hat einen Namen, alle anderen Figuren bleiben namenlos, werden aber durch die Schilderungen der Gedanken, Gefühle und erzählten Erinnerungen sofort fassbar und sind intensiv und detailliert beschrieben.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin ist eine wunderbare Erzählerin, sie gibt ihrer Ich-Protagonistin eine Stimme, die mit großem Einfühlungsvermögen Trauer, das Leben als Schriftsteller und die immer präsenten Zweifel schildert, dazu sehr kritische Betrachtungen zum modernen Literaturbetrieb, aber auch den Alltag in New York. Gekonnt spielt sie mit Handlungsebenen und überraschenden Wendungen. Die sprachliche Palette bewegt sich ausdrucksstark zwischen poetisch, philosophisch, kritsch, humorvoll und immer präzise auf den Punkt gebracht.

Fazit

Wer den üblichen unterhaltsamen Mensch-Hund-Wohlfühlroman erwartet, sollte nicht gerade zu diesem Roman greifen.

Wer eine auch sprachlich intensive Geschichte über Trauer, Freundschaft, den Literaturbetrieb und das Schreiben, über Liebe und die überaus gutmütige, kluge Dogge Apollo sucht, wird dieses Buch genießen, auch den damit verbundenen gedanklichen Ausflug in die Literatur. Ein Roman, der die Gedanken noch lange nach der letzten Seite beschäftigt und den man wohl auch ein zweites Mal lesen wird.