Sich lichtende Nebel – Christian Haller

AutorChristian Haller
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Datum15. Februar 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten128
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630877334

„Der junge Wissenschaftler spürte, dass diese konkrete und anschauliche Beobachtung in einer Verbindung zu den besprochenen theoretischen Problemen stand. Von welcher Art diese war, blieb ihm unklar, und er war auch zu müde, um weiter darüber nachzudenken.“ (Zitat Seite 8)

Inhalt

Im Frühjahr 1925 beobachtet der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg, Gastdozent am Kopenhagener Physik-Institut, zu später Stunde im Faelledparken interessiert eine schattenhafte Gestalt. Ein Mann, der im Lichtkreis der Straßenlaterne auftaucht, dann unsichtbar im Dunkel verschwindet und kurz darauf im nächsten Lichtkreis wieder auftaucht. Die Gedanken des Wissenschaftlers beginnen um die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens im nächsten Lichtkreis zu kreisen. Noch ahnt er nur vage, dass diese Beobachtung kurz darauf, während eines Aufenthaltes auf Helgoland, eine wichtige Rolle bei der Entwicklung seiner Quantentheorie spielen wird. Der einsame Spaziergänger dagegen ahnt nichts von seinem Beobachter. Helstedt ist ein emeritierter Professor für Geschichte, und sein Leben ist von Trauer, Einsamkeit und Erinnerungen geprägt.

Thema und Genre

In dieser Novelle geht es um die Fragen des Lebens, um Verlust, Trauer, Alter, Einsamkeit, um Quantenphysik, Philosophie. Ein Thema sind die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung, verbunden mit der Frage, ob wirklich nur existiert, was man auch mit Worten beschreiben kann.

Charactere

Die beiden Hauptfiguren, den jungen Wissenschaftler Heisenberg und den  Geschichtsprofessor im Ruhestand, verbinden zwei Dinge, eine kurze, zufällige Begegnung, die allerdings nur von Heisenberg wahrgenommen wird, und die persönliche Einsamkeit. Doch während sich diese bei Helstedt durch die Trauer über den Tod seiner Ehefrau nach dreißig gemeinsamen Ehejahren ergibt, sucht Heisenberg die Einsamkeit der Natur auf der Insel Helgoland, um in Ruhe über seine physikalischen Fragen im Zusammenhang mit dem Atommodell nachzudenken.

Erzählform und Sprache

Es sind zwei unterschiedliche Lebenswege und Schicksale, die in dieser Novelle abwechselnd erzählt werden und die Christian Haller durch eine kurze Momentaufnahme, eine zufällige und unbewusste Begegnung, verbindet. Doch dieser Moment hat Auswirkungen auf beide Männer, denn auch in Helstedts Leben bahnen sich Veränderungen an. Die klare, genau beobachtende Sprache vertieft die besondere Art dieser Geschichte.

Fazit

Eine dichte, komplexe Geschichte auf verhältnismäßig wenigen Seiten, die gerade deshalb fasziniert und viel Platz für einige Überlegungen lässt.

Der Kartograf des Vergessens – Mia Couto

AutorMia Couto
VerlagUnionsverlag
Datum11. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinKarin von Schweder-Schreiner
ISBN-13978-3293006119

„Wie gern würde ich vor den Erinnerungen fliehen, aber jetzt liegt die Vergangenheit vor mir ausgebreitet auf meinem Bett.“ (Zitat Seite 16)

Inhalt

Der Dichter und Literaturprofessor Diogo Santiago kehrt nach vielen Jahren in seine Geburtsstadt Beira zurück. Liana Campos moderiert die Veranstaltung, die zu seinen Ehren stattfindet. Später, als er schon wieder in seinem Hotelzimmer ist, erhält er einen Karton voller alter Dokumente, Fotografien und Notizblätter. Die Unterlagen sind von Liana Campos, ihr Großvater Óscar Campos war jener Inspektor der PIDE, der Diogos Vater, den Dichter Adriano Santiago, vor etwa vierzig Jahren verhaftet hatte. „Es ist ungerecht, eine Vergangenheit zu erben. Als würde uns die Zeit an den Füßen festgebunden.“ (Zitat Seite 17) Liana, bei Pflegeeltern aufgewachsen, ist auf der Suche nach ihrer Mutter, sie braucht Geschichten, um die Lücken in ihrer Vergangenheit zu füllen. Auch Diogo will sich seinen Erinnerungen stellen, hat gleichzeitig Angst davor. „Mich lähmt die Befürchtung, meine Vergangenheit nicht wiederzufinden, vor allem aber die Vorstellung, eine Stadt zu erleben, die ich letztlich nicht kenne.“ (Zitat Seite 21) Gemeinsam beginnen Diogo und Liana nach Antworten zu suchen, doch zunächst tauchen viele neue Fragen auf.

Thema und Genre

Dieser Roman spielt in Mosambik, in der Zeit der Befreiungskriege und aktuell im Jahr 2019. Themen sind die Geschichte Mosambiks als portugiesische Kolonie, vor allem jedoch die Schicksale der Menschen und Familiengeheimnisse. Es geht um das Erinnern und das Vergessen der Vergangenheit.

Charactere

Mia Couto unterstreicht seine Geschichte durch unterschiedliche, in ihren Konflikten, Gefühlen, Beweggründen und Handlungen authentische Figuren, welche die Handlung mit Leben füllen.

Erzählform und Sprache

Die aktuelle Handlung umfasst einen knappen Zeitraum zwischen dem sechsten und vierzehnten März 2019 und hier ist Diogo der Ich-Erzähler, dadurch erhalten wir auch Einblick in seine persönlichen Erinnerungen. Die aktuelle Handlung wird durch Erzählstränge in Form von Dokumenten, Aufzeichnungen und Schilderungen von wichtigen Eeignissen ergänzt, die bis ins Jahr 1951 zurückreichen, hauptsächlich jedoch im Jahr 1973 stattfanden. Die einander abwechselnden Kapitel fügen sich im Lauf der Geschichte zusammen, manchmal als Antworten auf Vermutungen, dann wieder mit überraschenden neuen Fragen und Möglichkeiten. Diese Art des Erzählens, die Varianten der Erzählform und Sprache ergeben eine eindrückliche, packende Geschichte.

Fazit

Ein Roman für interessante, spannende Lesestunden, der durch die Poesie der Sprache, die Vielfalt der Erzählformen und Figuren und die überaus gekonnt sich langsam aus vielen Einzelteilen verknüpfenden Geschichten überzeugt.

Nach der Flut das Feuer: The Fire Next Time – James Baldwin

AutorJames Baldwin
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum Januar 2019
FormatKindle Ausgabe
Seiten106 Seiten (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinMiriam Mandelkow
ASINB07KMC9K1B

„Du hast keine Veranlassung, so zu werden wie die Weißen, und es gibt nicht die geringste Grundlage für ihre unverfrorene Annahme, sie müssten Dich akzeptieren. Die schreckliche Wahrheit ist, mein Junge: Du musst sie akzeptieren.“ (Zitat Seite 38)

Thema und Inhalt

Diese Essaysammlung des US-amerikanischen Schriftstellers ist im Jahr 1962 unter dem englischen Titel „The Fire Next Time“ erschienen, der Tite der ersten Ausgabe in deutscher Sprache trug den Titel „Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung“, was eine der Kernaussagen von Baldwins Texten auf den Punkt brachte. Die vorliegende Neuauflage hält sich dagegen an den Originaltitel, ein Zitat aus dem Alten Testament. Dieses Buch umfasst zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt trägt die Überschrift Mein Kerker bebte und enthält einen Brief an seinen Neffen zum hundertsten Jahrestag der Sklavenbefreiung. Der zweite Abschnitt trägt den Titel Vor dem Kreuz, Brief aus einer Landschaft meines Geistes und verbindet seine Erinnerungen, seine persönliche Erfahrungen mit seiner Einschätzung der amerikanischen Gesellschaft.

Umsetzung

James Baldwin schildert seine Jugend, seinen Weg in die Religion, von der er sich jedoch früh wieder abwendet, weil er die Verzweiflung und den Hass, den er dort vorfindet, nicht mit seinen Ansichten vereinbaren kann, dass es eine friedliche Lösung geben müsse, ein Annähern und gegenseitiges Verständnis, auch wenn er klar formuliert, dass dies ein sehr langer, mühevoller Weg für Amerika sein werde. Aus diesem Grund schließt er sich auch nicht der Black-Muslim-Bewegung an, fragt, ob Liebe nicht wichtiger sei, als die Hautfarbe und sieht die Zukunft Amerikas in einem Miteinander von Schwarz und Weiß. „Kurz gesagt brauchen wir, Schwarz und Weiß, einander dringend, wenn wir wirklich eine Nation werden wollen – um mit anderen Worten wirklich eine Identität zu erlangen, unsere Reife als Männer und Frauen.“ (Zitat Seite 117, 118) Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Jana Pareigis und endet mit einer Nachbemerkung der Übersetzerin in Bezug auf die moderne Wortwahl einiger Begriffe.

Fazit

Baldwins eindrückliche Beobachtungen und Überlegungen waren nicht nur einhundert Jahre nach der formellen Abschaffung der Sklaverei in Amerika aktuell und zutreffend, sondern haben auch heute, einhundertfünfzig Jahre später, nichts von ihrer Brisanz verloren und dies nicht nur in Amerika, sondern analog auch in Europa.

Sehr blaue Augen – Toni Morrison

AutorToni Morrison
VerlagRowohlt Buchverlag
Datum12. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinTanja Handels
NachwortAlice Hasters
ISBN-13978-3498003678

„Wie geht das denn? Also, wie krieg ich jemanden dazu, mich zu lieben?“ (Zitat Seite 31)

Inhalt

Pecola Breedlove, etwa elf Jahre alt, wünscht sich blaue Augen, so wie Shirley Temple sie hat und auch das kleine Mädchen, für deren Eltern Pecolas Mutter den Haushalt führt. Hätte sie blaue Augen, davon ist Pecola überzeugt, würden die Menschen sie lieben. Im Herbst wartet nicht nur Pecola auf ein Wunder, auch die Schwestern Claudia und Frieda, Pecolas Mitschülerinnen, hoffen auf ein glückliches Zeichen, wenn die Ringelblumen, die sie angesät haben, blühen, dann würde alles gut werden. Doch in diesem Herbst 1941 blühen keine Ringelblumen und Pecolas Leben nimmt eine katastrophale Wendung.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Rassismus, gesellschaftliche Ächtung, Klassendenken, Schönheitsideale, Ausgrenzung und patriarchale Gewalt. Es geht um Aufwachsen in einer Kindheit ohne Zuwendung und Liebe, in einer zerrütteten Familie, und die Auswirkungen dieser Erfahrungen.

Charactere

Pecola Breedlove ist nicht nur Schwarz, sondern wird sogar von den ebenso Schwarzen Menschen in der Nachbarschaft als hässlich empfunden und abgelehnt. Blaue Augen sind für Pecola der Inbegriff von Schönheit und sie ist überzeugt davon, von allen geliebt zu werden, hätte sie blaue Augen. Die einzelnen Figuren dieser Geschichte definieren die Situation der Mädchen und Frauen in den 1940er Jahren.

Erzählform und Sprache

Dieser Roman ist in vier Abschnitte gegliedert: Herbst, Winter, Frühling, Sommer. Die Handlung setzt sich aus Geschichten aus unterschiedlichen Zeiten zusammen. So lesen wir nicht nur über Ereignisse aus dem Leben von Claudia, Frieda und Pecola, in diesen Teilen mit Claudia als Ich-Erzählerin, sondern erfahren auch die Vorgeschichten, das bisherige Leben der Eltern. Die Sprache erzählt und schildert einfühlsam, sehr präzise, und überrascht durch ungewöhnliche Vergleiche und Formulierungen. Die Geschichte beginnt mit einem Textauszug aus einem bekannten und beliebten Kinderbuchklassiker über eine glückliche, weiße Familie, Vater, Mutter, Dick und Jane, und Zitate daraus finden sich wiederholt als Überschrift zu einem Abschnitt mit einem ähnlichen Thema. Dadurch wird der große Unterschied zwischen diesen Kinderbüchern und Pecolas Realität unterstrichen. Ein Vorwort von Toni Morrison und ein Nachwort von Alice Hasters ergänzen den eigentlichen Roman.

Fazit

Obwohl die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison betont, ihren Roman geschrieben zu haben, um die Auswirkungen des Rassismus aufzuzeigen und die Tatsache, was es mit Menschen macht, wenn sie, wie die Schwarzen, seit Generationen als minderwertig bezeichnet werden, ist es für mich in erster Linie eine Geschichte einer Kindheit in Armut und Verwahrlosung, mit Gewalt statt Elternliebe, mit Diskriminierung und Ausgrenzung. Eine eindrückliche Geschichte, wie sie in dieser Zeit ebenso in den New Yorker Slums der Einwanderer stattfanden, und in den europäischen Armenvierteln.

Unschärfen der Liebe – Angelika Overath

AutorAngelika Overath
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Datum12. April 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630876344

„Als Baran Anatol Chronas an einem Herbstmorgen in Chur einen Zweitklassewagen der Schweizerischen Bundesbahnen bestieg, wußte er, daß ihm keine gute Ankunft bevorstand. Und doch sollte er sich täuschen über das Ausmaß dessen, was ihn erwartete.“ (Zitat Pos. 43)

Inhalt

Seit etwa drei Jahren leben Baran und sein Schweizer Lebensgefährte Cla in Istanbul zusammen. Diesen Sommer hatten sie in der Schweiz verbracht, bei Clas früherer Partnerin Alva und der gemeinsamen kleine Tochter Florinda. Für einen dringenden Auftrag muss Cla zurück nach Istanbul fliegen, während Baran seine Rückreise erst sieben Tage später antritt, denn er reist lieber mit der Bahn. In dieser Woche lernt er Alva besser kennen. Die Fahrt von Chur nach Istanbul dauert etwa dreißig Stunden und Baran freut sich darauf, über Gleissystemene durch verschiedene Länder zu reisen und Zeit für seine eigenen Gedanken zu haben, über Entscheidungen nachzudenken und diese doch für eine kurze Zeit noch aufschieben zu können. „Unterwegs war er noch nirgendwo und mußte niemand sein.“ (Zitat Pos. 54)

Thema und Genre

Dieser Roman erzählt die Geschichte von drei Menschen, deren Leben miteinander verbunden ist, anhand einer Bahnfahrt von Chur nach Istanbul. Reisebeschreibungen, die Beobachtungen der Menschen auf den Bahnhöfen und in den Zügen, die Baran von der Schweiz aus durch Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Bulgarien bis in die Türkei bringen, vermischen sich mit seinen Erinnerungen und Gedanken. Themen sind Geschichte, Balkanpolitik, Religion, Familie, Beziehungen, Liebe.

Charactere

„Dieser Sommer hatte ihn unsicher gemacht. Etwas in ihm bekam Sprünge.“ (Zitat Pos. 1580). Barans Vater ist Grieche, seine Mutter Türkin, aufgewachsen ist er teilweise in Deutschland, die Erfahrungen der unterschiedlichen Kulturen haben ihn geprägt. Cla und er hatten nie über Treue gesprochen, für Baran war es selbstverständlich, während Cla wiederholt kurze Affären hatte und in den langen Stunden seiner Reise beginnt Baran über die Zukunft ihrer Beziehung nachzudenken.

Erzählform und Sprache

Dieser Roman spielt in dem kurzen Zeitrahmen einer Bahnreise durch Europa. Die einzelnen Kapitel tragen als Überschrift jeweils zwei Städte und die Handlung schildert die Ereignissen auf dem jeweiligen Streckenabschnitt, wobei der Ablauf chronologisch und entsprechend der Route erfolgt. Doch es sind nicht die vorrangigen Ereignisse, die diese Geschichte prägen, und auch nicht die genauen Schilderungen der Landschaften, Dörfer, Städte, durch welche wir der Hauptfigur Baran folgen, sondern jedes Detail wird durch seine Erinnerungen, Überlegungen, Gedanken ergänzt. Er beobachtet Mitreisende, spricht mit ihnen, wobei es oft um die Geschichte der jeweiligen Gegend geht, aber auch um aktuelle Fragen. Doch die langen Reisestunden geben ihm auch Zeit, über seine Liebe zu Cla und über diese letzten Tage mit Alva nachzudenken und sich zu fragen, wie sein Leben weitergehen soll. Es ist eine leise, poetische und gleichzeitig sehr präzise Sprache und eine ungewöhnliche, spezielle Form, eine Geschichte zu erzählen.

Fazit

Ein Zug, der durch Europa und damit auch durch die Geschichte der Balkanländer fährt und ein Reisender, der aus dem Fenster schaut, beobachtet, und über seine Beobachtungen nachdenkt. gleichzeitig aber auch eine Reise durch sein bisheriges Leben, seine Erinnerungen und die Frage, ob er auf der bisherigen Strecke bleiben soll, oder ob seine Gedanken gerade die Weichen für eine Abzweigung in eine neue Richtung stellen.

Der große Wunsch – Sherko Fatah

AutorSherko Fatah
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Datum30. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630877372

„Ich bin hier, um meine Tochter zu finden, die von Deutschland aus herkam, um einen verrückten Traum zu realisieren, sagte er sich und wusste, schon dieser Anlass für die Reise hätte seinen Vater den Kopf schütteln lasen.“ (Zitat Pos. 46)

Inhalt

Murad lebt in Berlin. Seit der Scheidung von seiner Frau Dorothee hat er den Kontakt zu der gemeinsamen Tochter Naima verloren, doch er war überzeugt, seine Tochter, inzwischen zwanzig Jahre alt und eine moderne junge Frau, gut zu kennen. Bis Naima vor zehn Monaten verschwunden ist. Sie ist einem jungen Glaubenskrieger ins Kalifat Syrien gefolgt und ist nun verheiratet. Murad lässt nach seiner Tochter suchen, sein bester Freund Aziz, verfügt als Kriegsreporter über viele Kontakte. Dann beschließt Murad, sich selbst mit Hilfe von Schleppern in das kurdische Grenzgebiet durchzuschlagen, vor Ort auf neue Informationen zu warten und seine Tochter nach Hause zurückzuholen. In einem kleinen Dorf wartet er auf den Boten, der mit einer syrischen Organisation in Verbindung steht, die Aussteigern, die zurück nach Hause wollen, bei der Flucht aus dem Kalifat zu helfen. Ist die junge Frau, die in einem Audiotagebuch von ihrem Leben berichtet, seine verschollene Tochter Naima? Wie kann er wissen, ob die tief verschleierte Frau auf den Fotos seine Tochter ist? Wenn ja, will sie überhaupt gerettet werden?

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein Vater mit kurdischen Wurzeln, der in Deutschland aufgewachsen ist und der Heimat seiner Eltern längst entfremdet, auf der Suche nach seiner Tochter, die sich genau diesen Wurzeln zugewendet hat und schon in der Pubertät den Kontakt zum Vater weitgehend abgebrochen hat. Themen sind Familiengefüge zwischen den Kulturen und Religionen, Freundschaft, Vertrauen, die unterschiedlichen Welten und  Denkweisen in Ost und West, die Einflussnahme der westlichen Politik auf die Konflikte in diesem gefährlichen Krisengebiet.

Charactere

Seine Frau denkt über Murad „immer zu spät und dann in der falschen Richtung unterwegs.“ (Zitat Pos. 868) Sie drängt, will genaue Berichte und Ergebnisse über die Suche nach ihrer Tochter und versteht nicht, dass es in dieser sensiblen, gefährlichen Situation wichtig ist, Geduld zu haben, zu vertrauen und zu warten. Murad und die Menschen, die er trifft, vertiefen in ihren Ansichten und in ihrem Verhalten die Authentizität dieser Geschichte.

Erzählform und Sprache

Es ist eine Geschichte auf vielen Ebenen, in einer personalen Erzählform in deren Mittelpunkt die Hauptfigur Murad steht. Murad reist in ein Dorf im türkisch-syrischen Grenzgebiet, unternimmt mit seinem Fahrer Streifzüge, trifft sich mit seinen Mittelsmännern. Als sein Zimmervermieter ihm ein abgeschiedenes kleinen Haus in Miete überlässt, hat Murad einen Rückzugsort. In den nun folgenden einsamen Stunden und Tagen des Wartens entwickelt sich eine zweite Geschichte, die der Bewusstseinsströme seiner Erinnerungen, Überlegungen und Gedanken. Er denkt über sein Verhältnis zu seiner verschwundenen Tochter nach, fragt sich, was er als Vater hätte besser machen können. Hätte er mehr mit ihr über die kulturellen Wurzeln der Familie gesprochen, hätte sie das vielleicht daran gehindert, selbst in einer ihr völlig fremden Welt danach zu suchen. Kritisch hinterfragt Murad in seinen Gedanken die Eingriffe der westlichen Politik in diese Krisenregion und die kulturellen Unterschiede, die schon in der Familienstruktur beginnen. Im Hintergrund verläuft jedoch, für Murad und damit auch uns Leser zunächst unbemerkt, eine dritte, reale Geschichte, die sich mit kleinen Hinweisen erst zum Ende erschließt. Die Sprache erzählt einfühlsam von der realen und philosophischen Suche eines Vaters nach seiner verschwundenen Tochter, nimmt sich aber auch Zeit für bildintensive Schilderungen der wilden, kargen Landschaft, des Dorflebens, der Menschen und der Natur.

Fazit

Ein beeindruckender, auch sprachlich überzeugender Roman, eine vielseitige Geschichte und eine besondere Art des Erzählens mit wichtigen, aktuellen Themen, der wir mit Interesse und gebannt folgen und die zum weiteren Nachdenken anregt.

Rachefrühling – Andreas Gruber

AutorAndreas Gruber
VerlagGoldmann Verlag
Datum13. September 2023
AusgabeTaschenbuch
Seiten608
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442491087

„Dann sähe ich Sie wieder einmal in Aktion – außerdem denke ich, dass das mindestens genauso spannend ist, wie wenn Sie mir die Ringstraße, den Zentralfriedhof und den Stephansdom zeigen.“ (Zitat Seite 44)

Inhalt

Walter Pulaski ist zum ersten Mal in Wien und Evelyn Meyers freut sich darauf, ihm die Stadt zu zeigen. Daher lehnt die erfolgreiche Anwältin sofort ab, als ein internationaler Geschäftsmann sie beauftragen will, den bekannten True Crime-Podcaster Martin Kilian zu vertreten, der des Mordes an der Wiener Chirurgin Aleyna Al-Raschid verdächtigt wird. Doch Pulaski und Evelyns Mitarbeiter Florian überzeugen sie, das Mandat anzunehmen, denn die Tat und die damit verbundenen Nachforschungen, auch wenn er diese als Urlauber inkognito anstellen muss, interessieren Pulaski wesentlich mehr, als die Sehenswürdigkeiten der schönen Stadt Wien. Je länger sie nach Zusammenhängen suchen und den Spuren und möglichen Motiven folgen, desto größer werden ihre Zweifel, denn manche Details fügen sich allzu offensichtlich.

Thema und Genre

Dieser Thriller ist Band 4 der Jahreszeiten-Serie um den Dresdner Kommissar Walter Pulaski und die Wiener Anwältin Evelyn Meyers. Themen sind Recherchen, Mordanklage, polizeiliche Ermittlungsarbeit und die damit verbunden spannenden Rätsel. Wie der Titel schon andeutet, geht es auch um Rache. Ort der Handlung ist diesmal Wien.

Charactere

Mit Evelyn Meyers, Florian Zock und Walter Pulaski treffen wir ein sympathisches, hartnäckiges Ermittlerteam wieder, das wir bereits aus den Jahreszeiten Sommer, Herbst und Winter kennen, oder aber, wenn man die Serie erst mit diesem Band Frühling zu lesen beginnt, mit Vergnügen kennenlernen wird. Was alle Figuren in diesem Thriller auszeichnet, ist die Nachvollziehbarkeit ihres Verhaltens, ihre Glaubwürdigkeit und ihr Facettenreichtum.

Erzählform und Sprache

Zu einem Thriller gehört eine rasante, packende Handlung, die hier schon durch den knappen Zeitrahmen von neun Tagen im Mai vorgegeben ist. Innerhalb dieser Zeit wechselt der chronologische Ablauf, geht mal einige Tage zurück, dann wieder vorwärts, was die Spannung erhöht, langsam immer mehr Details einfließen lässt und auch das eigene Miträtseln interessant macht. Durch genaue Datumsangaben als Überschrift der Kapitel ergibt sich die einfache Zuordnung innerhalb des Geschehens. Überraschende Wendungen mit völlig neuen Aspekten erhöhen die kriminalistische Unterhaltung beim Lesen, ohne konstruiert oder unglaubwürdig zu wirken. Das Verbrechen selbst mit den komplexen, rätselhaften Hintergründen verzichtet auf seitenlange, bluttriefende Schilderungen, was ich persönlich sehr schätze. Es ist ein sehr gekonnt und clever aufgebauter Plot mit vielen vernetzten Zusammenhängen, sie sich jedoch erst langsam ergeben und die Ermittler und auch uns Leser manchmal zu falschen Schlüssen verleiten. Die Sprache passt zum Genre und ergänzt mit humorvoll-charmanten Dialogen und Szenen. 

Fazit

Eine spannende, vielschichtige Geschichte, gekonnt aufgebaut und sehr gut recherchiert, dazu interessante Themen – ein Lesevergnügen, das unterhält und Freude macht.

Das Fundament des Eisbergs: Eine arktische Sehnsucht – Stefan Moster

AutorStefan Moster
Verlag mareverlag
Erscheinungsdatum 20. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3866486805

„Wenn ich in mich gehe und suche, was den Reiz der Arktis für mich verkörpert, stoße ich nicht auf ein mathematisches Resultat, sondern auf das Bild einer weißbauen Eisformation bei Windstille und gutem Wetter. Ich sehe kaltglattes Meer, auf dem Eis in unterschiedlicher Gestalt treibt, illuminiert von einer Sonne, deren Strahlen von keinem Feinstorbkorn gebrochen werden.“ (Zitat Seite 66)

Thema und Inhalt

Dieses Buch behandelt die vielfältigen Aspekte der geheimnisvollen Anziehung, welche die eisigen Landschaften rund um die beiden Pole seit Jahrhunderten auf die Menschen haben, wobei es hier, wie schon der Titel sagt, um die Arktis geht. Von den authentischen Berichten der berühmten Entdecker über Reiseberichte und literarische Annäherungen  bis zu den Daten der Arktis-Expedition des Forschungsschiffs Polarstern 2019/2020 reicht der Bogen, den Stefan Moster als Erzähler zwischen seiner eigenen Sehnsucht und seinen Erfahrungen und fundiertem Wissen und Fakten spannt.

Umsetzung

In sieben großen Abschnitten lesen wir Ausschnitte aus den Berichten der Polarforscher über die Suche nach dem Nordpol, das oft mehrjährige Driften, monatelang umgeben von Dunkelheit und undurchdringbarem Eis. Dazu erzählt der Autor von seinen eigenen Annährungen an die Arktis, von der Weite, dem einzigartigen Licht und den Farben. Wir blicken mit Amundsen aus der Luft auf den Pol, lernen die Vielfalt der Vogelwelt und die eindrückliche Tierwelt kennen, das Leben der frühen Jäger und Walfänger in diesem Gebiet, verfolgen die Entwicklung des Arktistourismus von den Anfängen bis zu den heutigen Kreuzfahrten, Spitzbergen mit seinen einst einsamen Bergarbeiter-Siedlungen wurde zum neuen, vielbesuchten Sehnsuchtsziel. Doch auch mit den Fakten und den zahlreichen Auswirkungen der Klimaveränderungen, nicht nur auf die Eisbären, sondern auf das gesamte ökologische Gefüge der Erde, beschäftigt sich dieses Buch. Interessant, packend und eindrücklich stellt Stefan Moster dabei die Berichte der früheren Polarforscher und Entdecker den Berichten und Erfahrungen der Polarstern-Expedition gegenüber, denn deutlicher lassen sich diese Veränderungen nicht beschreiben. „Naturschutz ist für den Planeten unverzichtbar. Im Hinblick auf die Arktis kann man es auf die Formel bringen: Naturschutz ist das Fundament des Eisbergs.“ (Zitat Seite 304)

Fazit

Stefan Moster hat schon in seinen Romanen gezeigt, dass er ein wunderbarer, poetischer Erzähler ist und genau das spiegelt sich auch in diesem Buch wider. Wer bereits im hohen Norden unterwegs war, taucht sofort ein in Erinnerungen und die alte Sehnsucht erwacht. Eine Sehnsucht, die beim Lesen, Eintauchen in die eindrücklichen Beschreibungen und persönlichen Gedanken des Autors, in Verbindung mit dem interessanten Wissen, sicher auch in Lesern erwacht, die noch nicht dort waren und nun ihre Gedanken auf die Reise schicken, lesend einen Blick auf die Schönheit der Arktis und unseres Planeten zu werfen.

Südstern – Tim Staffel

AutorTim Staffel
VerlagKanon Verlag Berlin
Datum30. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten287
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3985680948

„Wir packen all das Unausgesprochene und Übergangene ein, nehmen es mit, warten auf eine nächste Gelegenheit, jeder für sich.“ (Zitat Pos. 1639)

Inhalt

Eines Tages hat die Pharmakologin Vanessa Paschke eine Geschäftsidee, die sie auch umsetzt. Denn sie hat beides, das erforderliche Fachwissen und die notwendigen Verbindungen. Als Kurierdienst ist sie mit ihrem mobilen Apothekenwagen unterwegs und liefert an ihre Kunden alles aus, was diese brauchen, um den Anforderungen ihres täglichen Lebens nicht nur standzuhalten, sondern diese auch erfolgreich zu meistern. Der Berliner Streifenpolizist Deniz Aziz fährt Streife in einem turbulenten Berliner Alltag abseits der Touristenströme, bedingt durch den Personalmangel in mehreren Schichten, immer bemüht, Konflikte zu lösen, und kümmert sich gleichzeitig auch um seinen kranken, alten Vater. Als sie einander treffen, prallen zwei gegenteilige Welten aufeinander, was Vanessa erst ahnt, als sie Deniz plötzlich in seiner Polizeiuniform sieht.

Thema und Genre

Dieser Roman spricht alle brisanten Themen unserer Zeit an, von den fehlenden Arbeitskräften in allen wichtigen Bereichen, vom Großstadtleben auf den Straßen und in den Lokalen und Bars, die Außenseitern eine zweite Heimat sind, von den Krankheiten im Alter, bis zu den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Freundschaft und verständnislosem Schweigen.

Charactere

„Ich heiße Vanessa und bin ein Engel.“ (Zitat Pos. 48) Mit diesem ersten Satz beginnt der Roman. So sehen sie ihre Kunden, so sieht auch sie selbst ihre Tätigkeit, als Botin, die ihre Kunden mit Substanzen für Glücksgefühle und Leistungssteigerung versorgt. Deniz, sein deutscher Vater Markus, seine Streifenkollegin Jovanna Coric, Vanessas Freund Olli, ein Politiker, ihr Bruder Felix, ihr väterlicher Freund Andreas „Bär“, sie alle stehen für eines der Konfliktthemen dieses Romans und in diesem Kontext kennen wir sie, ihr Alltagsleben, ihre Probleme, ihr Schicksal, ihr Verhalten. Weitere Figuren tauchen auf, sobald ein weiteres Thema angeschnitten wird, verschwinden wieder.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird abwechselnd von Vanessa und Deniz erzählt, jeweils in der ersten Person, sodass wir in diesen Abschnitten mehr über die beiden Figuren erfahren, was treibt sie an, ihre Wünsche, Gedanken, ihr Verhalten und Handeln. Ihre Beobachtungen schließen die anderen Figuren mit ein, sodass wir auch über diese mehr erfahren. Der Schwerpunkt dieses Autors liegt im Erzählen von Ereignissen, Situationen, und seine Sprache ist ebenso rasant, kurz, präzise. Für Beschreibungen und Schilderungen nimmt er sich keine Zeit. Dafür taucht plötzlich ein surreal-metaphorisches Kapitel auf. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass der Autor zu jenen Schriftstellern gehört, die nicht zuvor die gesamte Handlung und ihre Figuren plotten, sondern dass er seine Figuren einfach losgeschickt hat und dann jeweils neue Ideen hatte, welche brisanten Konflikte unserer Zeit, die ihm ein Anliegen sind, er noch in die Handlung einbauen könnte. Ein Roman aus aneinandergereihten Episoden, welche durch die Hauptfiguren verbunden sind.

Fazit

Eine Sprache, direkt und frontal, ohne Atemholen und Innehalten. Ein Roman wie ein Polizeibericht auf einer der Substanzen, die Vanessa mit ihrem speziellen Kurierdienst ausliefert. Dennoch, oder gerade deshalb, eine sehr interessante Leseerfahrung.

Die Erfindung des Lächelns – Tom Hillenbrand

AutorTom Hillenbrand
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum7. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462003284

„Wenn es nicht auf die Farben, die Materialien ankommt, dann wäre nur die Legende wichtig, die durch das Bald geschaffen wird, nicht, ob das Bild selbst weiter existiert.“ (Zitat Pos. 6440)

Inhalt

Der Maler Louis Béroud arbeitet an einem Bild „Mona Lisa im Louvre“. Als er am 22. August 1911 in jenen Salon des Pariser Musée du Louvre kommt, wo Leonardo Da Vincis Mona Lisa, „La Gioconda“, mit vielen weiteren Gemälden ausgestellt ist, ist der Platz an der Wand leer. Das Bild ist verschwunden. Durch diesen dreisten Diebstahl wird „La Joconde“, wie sie in Frankreich genannt wird, wirklich berühmt. Trotz intensiver Suche bleibt das Gemälde verschwunden und irgendwann ruhen die Ermittlungen, denn die brutalen Überfälle der  Bonot-Bande, eine Gruppe von Anarchisten, halten Paris und die Polizei in Atem. Nur einer gibt nicht auf und sucht weiter nach dem verschwundenen Bild: Commissaire Juhel Lenoir.

Thema und Genre

Dieser historische Kriminalroman spielt in der Weltstadt Paris während der Belle Époque, jener berühmten Zeitspanne zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Menschen genießen das rege gesellschaftliche Leben auf den Boulevards, in den Salons, Cafés und Cabarets, in den Ateliers und Galerien der aufstrebenden Künstler und Künstlerinnen entwickeln sich neue, moderne Kunstrichtungen.

Charactere

Wer könnte ein Gemälde stehlen, das unverkäuflich ist, und aus welchem Grund. Bekannte Persönlichkeiten der damaligen Zeit geraten in Verdacht, so auch der Dichter Guillaume Apollinaire, der Maler Pablo Picasso und die exzentrische Tänzerin Isadora Duncan.

Erzählform und Sprache

Die Handlung wird chronologisch geschildert, jedoch  in einer weiten, lebhaften Vielfalt an unterschiedlichen Geschichten mit ebenfalls unterschiedlichen Personenkreisen. Manche der Ereignisse überschneiden einander irgendwann im Lauf der Handlung, aber vor allem gibt uns diese Erzählart ein abwechslungsreiches, authentisches Bild der berühmten Weltstadt Paris, des pulsierenden Lebens in dem gesellschaftlichen und künstlerischen Zentrum dieser Epoche. Gleichzeitig lesen wir einen Kriminalroman mit unterschiedlichen Kriminalfällen und der detektivischen Ermittlungsarbeit am Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht der legendäre Diebstahl der Mona Lisa, wobei der Autor die bekannten, von ihm sehr ausführlich recherchierten, Fakten gekonnt mit Fiktion mischt, denn auch heute noch sind einige Fragen über mögliche Zusammenhänge offen. Dieser Roman spielt mit spannenden, unterhaltsamen Möglichkeiten und Varianten der Geschichte. „Manchmal wollen die Menschen ein klein wenig angeflunkert werden. Daran ist nichts Schlimmes, wenn es seiner guten Sache dient.“ (Zitat Pos. 6887)

Fazit

Ein lebhaftes, buntes, historisches Zeitbild und eine abwechslungsreiche Kriminalgeschichte, in der wir in Paris berühmte Persönlichkeiten der Belle Époque treffen.

100 Autorinnen in Porträts: Von Atwood bis Sappho, von Adichie bis Zeh

AutorinnenVerena Auffermann
Julia Encke, Ursula März
Elke Schmitter, Gunhild Kübler
Verlag Piper Taschenbuch
Erscheinungsdatum 31. August 2023
FormatTaschenbuch
Seiten592
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492319485

„Also sagt Rachel Cusk es noch einmal anders, aber genauso unbequem. Schriftsteller sind dazu da, zu irritieren und zu spalten, und nicht, um Dinge zu sagen, die andere gerne hören wollen.“ (Zitat Seite 62, Rachel Cusk von Verena Auffermann)

Thema und Inhalt

Fünf bekannte Journalistinnen und Literaturkritikerinnen stellen in informativen, spannenden Essays einhundert Schriftstellerinnen aus mehr als zweitausendfünfhundert Jahren vor.

Umsetzung

Die Anordnung der einzelnen Artikel in diesem Buch richtet sich nach dem Geburtsjahr der jeweiligen Schriftstellerin und beginnt im Heute mit Leila Slimani, geboren 1981, um mit Sappho, geboren um 617 v.Chr. zu enden. Schon dieser ungewöhnliche Aufbau macht dieses Buch zu einer besonderen Lektüre, da es die Entwicklung der schreibenden Frauen rückwirkend und nachvollziehbar aufzeigt. Auch die internationale Vielfalt der verfügbaren Literatur wird durch diese ausgewählten Porträts sichtbar, wobei der Schwerpunkt auf dem zwanzigsten Jahrhundert liegt. Jeder Beitrag umfasst mehrere Seiten und ist per se ein Essay, da wir neben den Biografien vor allem die besonderen Eigenheiten, den Werdegang, die Konflikte und Erfolge im künstlerischen Wirken jeder der vorgestellten Frauen erfahren, und vor allem die Themen, die sie antreiben bzw. zu ihrer Zeit besonders beschäftigt haben. Durch die fünf unterschiedlichen Verfasserinnen der einzelnen Porträts entsteht auch hier eine lebhafte, ausdrucksstarke sprachliche Vielfalt.

Fazit

Ein breit gefächerter, interessanter Streifzug durch die weibliche Kultur- und Literaturgeschichte. Doch dieses Sachbuch ist wesentlich mehr, diese Auswahl von bekannten und weniger bekannten Schriftstellerinnen bietet eine Fülle von Wissen, sodass wohl auch jede versierte Leserin und jeder versierte Leser noch Neues über Schriftstellerinnen finden wird, von denen man bereits alles zu wissen glaubte. Ein packendes Lesebuch, das man mit Vergnügen von der ersten bis zur letzten Seite liest und das auch die persönliche Wunsch-Leseliste um einige weitere Titel ergänzt.

Österreichischer Buchpreis 2023, Longlist Shortlist Debüt

HerausgeberHauptverband des Österreichischen Buchhandels Wien
Erscheinungs-datum 5. September 2023
FormatBroschüre, e-book
SpracheDeutsch

„Er verfolgt das Ziel, die Qualität und die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur zu würdigen und ihr im deutschsprachigen Raum erhöhte Aufmerksamkeit zu verschaffen.“ (Zitat Pos. 1209)

Thema und Inhalt

Dieser wichtige Preis wurde in Österreich 2016 gestiftet und zum ersten Mal vergeben. 2023 haben 59 Verlage insgesamt 137 Bücher eingereicht. Jedes Jahr wählt eine Expertenjury in einem zweistufigen Wettbewerbsverfahren zunächst zehn Titel für die Longlist. In einem zweiten Durchgang werden aus dieser Liste die Titel für die Shortlist ausgewählt. Gleichzeitig mit der Longlist wird die Shortlist Debütpreis veröffentlicht, welche drei Titel umfasst.

Gestaltung

Die zehn nominierten Titel der Longlist werden in alphabetischer Reihenfolge der Namen der Autoren und Autorinnen mit einer ausführlichen Leseprobe vorgestellt. Die jeweilige Überschrift trägt den Autorennamen, den Titel und die Kategorie. Am Ende der Leseprobe werden diese Angaben wiederholt und mit dem Namen des Verlages, sowie dem Erscheinungsjahr ergänzt. Es folgen die Leseproben der drei Titel der Shortlist Debütpreis. Anschließend an die Leseproben finden sich Informationen über die Autoren und Autorinnen mit Foto, kurzem Werdegang, Veröffentlichungen und Preisen, ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge, gefolgt von den Porträts der Jurymitglieder. Den Abschluss der Broschüre bilden die Daten der Bücher selbst, Coverfoto, Verlag, Anzahl der Seiten und Preis. Auch hier wird die alphabetische Reihenfolge nach Autoren- und Autorinnenname beibehalten, wobei die Werke auch hier nach Longlist 2023 und Shortlist Debüt 2023 getrennt sind.

Fazit

In österreichischen Buchhandlungen liegt die Broschüre in gedruckter Form auf. Ich lebe in Deutschland und bin daher dankbar, dass sie von NetGalley Deutschland in elektronischer Form kostenlos zur Verfügung gestellt wird. In dieser Form habe ich sie gelesen. Es ist ein informativer Überblick über die nominierten Werke, mit ausführlichen Leseproben. Manche der Bücher sind bekannt, finden sich schon auf der deutschen Longlist. Interessant ist der Debütpreis, der in Österreich gleichzeitig mit dem Buchpreis verliehen wird.

Vatermal – Necati Öziri

AutorNecati Öziri
Verlagclaassen Verlag
Datum27. Juli 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3546100618

„Ich dokumentiere mein Verschwinden, und wenn ich mir abends die bunten Graphen anschaue, weil ich vor Angst nicht schlafen kann, bilde ich mir ein, zu verstehen, worauf es hinausläuft.“ (Zitat Pos. 175)

Inhalt

Arda Kaya studiert in Berlin. Doch dann, nach einem Zusammenbruch, die Diagnose lautet Organversagen. Er fährt noch nach Hause, in seine Heimatstadt irgendwo im Ruhrgebiet, damit ihn seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin im Krankenhaus besuchen können. Sein Vater Metin hat die Familie verlassen, bevor er geboren wurde. In den langen Stunden im Krankenzimmer schreibt Arda die Geschichte seines bisherigen Leben auf, als Brief an seinen unbekannten Vater. „Ich werde diese Geschichte aufschreiben, dir und meinen beiden Halbbrüdern. Damit sie wissen, dass sie noch einen Bruder und eine Schwester hatten, damit sie erfahren, wem ihr Vater wie ein Vater war, damit sie schätzen lernen, wie viel Zeit und Liebe sie von dir bekommen.“ (Zitat Pos. 208)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Geschichte einer deutsch-türkischen Familie, die Mutter Ümran ist als kleines Kind nach Deutschland gekommen, ihre Kinder Arda und seine ältere Schwester Aylin sind in Deutschland geboren. Es geht um Söhne, die aus unterschiedlichen Gründen ohne Väter als Vorbild aufwachsen und die als Heranwachsende versuchen, die Rolle der abwesenden Väter einzunehmen, weil es von ihnen erwartet wird. Doch auch die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern ist ein Thema. Weitere Themen sind Freundschaft, Identität, die Suche nach Zugehörigkeit und den Platz im eigenen Leben.

Charactere

Wie Arda aussieht, wissen wir aus seiner eigenen Beschreibung, sein Leben, seine Gedanken, Erfahrungen und Zweifel erfahren wir, als er seine Geschichte niederschreibt. Doch er erzählt nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch die seiner Mutter Ümran, die nie wirklich gefragt worden war, was sie selbst wollte, die dennoch versucht, ihr Leben irgendwie zu meistern und die Geschichte seiner Schwester Aylin, die sich immer um den kleinen Bruder kümmert, bis sie ihren eigenen Weg gehen muss.

Erzählform und Sprache

Arda ist der Ich-Erzähler seiner Geschichte. Chronologisch, jedoch mit Zeitsprüngen, schildert er sein Leben und das seiner Schwester Aylin. Dort, wo Ümran und später auch Aylin ihm jene Ereignisse und Erlebnisse erzählen, die er nicht wissen kann, wird die Erzählform personal. Diese Abwechslung macht die Erzählform interessant, packend und lebhaft. Sie zieht uns als Leser mitten in die Ereignisse, in eine Welt am Rande einer Stadt im Ruhegebiet, deren ehrliche Schilderung durch ihre zornige, manchmal humorvolle Direktheit überzeugt. Auch die Sprache passt sich in den entsprechenden Episoden der Welt der Heranwachsenden an.

Fazit

„Erzählen ist wie Wasser, Metin, einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.“ (Zitat Pos. 784) Dieser eindrückliche Roman mit dem ganzen Spektrum menschlicher Gefühle, Hoffnungen und Schicksale hat den Weg zu uns Lesern gefunden.

Nichts als Himmel – Peter Henisch

AutorPeter Henisch
VerlagResidenz Verlag
Datum14. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten232
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3701717767

„Als ich hier angekommen bin, auf dem Parkplatz vor der Stadtmauer, hat die Luft über dem Asphalt gezittert. Jetzt fallen schon die Blätter von den Platanen.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Paul Spielmann hat nach seiner Scheidung, fünfundfünfzig Jahre alt, auch seine feste Stelle als Lehrer für Mathematik und Musik gekündigt. Schon mehrmals haben ihm seine Therapeutin Julia und deren Ehemann Marco angeboten, in ihrer italienischen Ferienwohnung in San Vito eine Auszeit zu nehmen. Als Pauls Comeback als Liedermacher scheitert, nimmt er das Angebot an. Obwohl er rasch bemerkt, dass es nicht mehr das verträumte San Vito ist, von dem Julia und Marco schwärmen, sondern ein von italienischen Touristen überlaufenes Städtchen, findet er auf der Terrasse über den Dächern Ruhe, beobachtet die Vögel, besonders ein Taubenpaar, und die Wolken. Bis eines Tages Abdallah vom Dach auf die Terrasse springt, auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine Lebenskrise, Stillstand, eine Auszeit, um die Suche nach einer möglichen persönlichen Zukunft. Themen sind der italienische Sommer nach der Pandemie, Freundschaft, der politische Rechtsruck in Italien und das Leben der Flüchtlinge, die über das Meer nach Italien kommen.

Charactere

„Wer bist / DU?, wiederholen sie, wer bist / DU? Wer bist / DU? Ich bin Paul, sage ich, aber sie scheinen mir nicht zu glauben.“ (Zitat Seite 22) Nicht nur die Tauben fragen Paul, wer er ist, auch er selbst stellt sich diese Frage während der Wochen, die er auf dieser Terrasse mit dem Blick über die Dächer in die Weite der Landschaft verbringt.

Erzählform und Sprache

Paul selbst schildert diese Zeit in San Vito als Ich-Erzähler in der Gegenwart, etwa Sommerende, und beginnt chronologisch mit seiner Ankunft Ende Mai. Er lässt uns an seinen Begegnungen mit besonderen Menschen teilhaben, die er in San Vito trifft, und vor allem an seinen genauen Beobachtungen der Natur, die ihn mit immer neuen Facetten erstaunt und fasziniert. Durch seine Gedanken, Sorgen, sein Verhalten und seine Entscheidungen erfahren auch wir immer neue Details über ihn. Die Sprache erzählt leise, einfühlsam, in den Beschreibungen lebhaft und anregend.

Fazit

Eine aktuelle Geschichte über einen Stillstand im Lebenslauf, nachvollziehbar und wohl vielen von uns bekannt, dazu italienisches Lebensgefühl und brisante politische Themen.

Südfall – Florian Knöppler

AutorFlorian Knöppler
VerlagPendragon Verlag
Datum16. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten248
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3865328519

„Er hob den Blick, schaute ein paar Seeschwalben hinterher und versuchte an die Zukunft zu denken, daran, wie es jetzt weiterging. Langsam schälten sich ein paar Überlegungen heraus.“ (Zitat Pos. 121)

Inhalt

Der Engländer Dave Milton ist Tierarzt, doch in diesem Sommer 1944 ist er als Soldat der Air Force im Einsatz. Sein Flugzeug wird über dem norddeutschen Wattenmeer abgeschossen, er kann mit dem Fallschirm abspringen und überlebt. Eine alte Frau, alle nennen sie die Halliggräfin, findet ihn, und er könnte auf ihrem Anwesen auf der abgelegenen Hallig Südfall das absehbare Ende des Krieges abwarten. Doch er will zurück nach Hause zu seiner Frau Claire, zuerst entlang der Küste immer in Richtung Norden bis nach Dänemark, und von dort aus nach England. Die Halliggräfin kennt jemanden nahe der deutsch-dänischen Grenze, der ihm mit seinem Boot helfen könnte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen die Menschen, ihr persönliches Schicksal und ihre Entscheidungen, die sie im Zusammenhang mit Dave, Engländer und somit Feind, treffen müssen, helfen oder melden. Es geht um Mut, Vertrauen, Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen in allen Facetten.

Charactere

Dave könnte sich auf Südfall verstecken, dort in Sicherheit das Kriegsende abwarten. Doch er kann nicht untätig abwarten, er hat keine Geduld, er muss handeln und es zumindest versuchen. Es sind die unterschiedlichen Figuren, die den besonderen Sog dieses Romans ausmachen, ihre persönliche Situation, ihre Probleme und Konflikte, und genau daraus ergeben sich auch die unterschiedlichen Gründe, warum sie Dave auf seiner Flucht helfen.

Erzählform und Sprache

Die Handlung spielt innerhalb eines knappen Zeitraums von wenigen Tagen. Im personalen Mittelpunkt des ersten und des letzten Abschnitts steht Dave. In den vier Abschnitten dazwischen lernen wir jeweils eine eigene, andere Hauptfigur kennen, ihre Gedanken und Verhalten. Auch die zeitliche Abfolge verläuft nicht immer chronologisch, was jedoch in der Kapitelüberschrift zu lesen ist. Die Spannung ergibt sich aus der abenteuerlichen Flucht selbst und der immer neuen Frage, ob und bei wem Dave Hilfe findet. Diese Erzählform ist interessant und ungewöhnlich, dieses gekonnte Verknüpfen und Verändern der Blickwinkel innerhalb einer dennoch klar strukturierten Handlung. Die Sprache überzeugt durch einfühlsame Schilderungen und lebhafte Beschreibungen der Landschaft.

Fazit

Ein faszinierender Roman über eine abenteuerliche Flucht entlang der norddeutschen Küste, in dessen Mittelpunkt jedoch die Begegnungen zwischen sehr unterschiedlichen Menschen stehen, was die Geschichte zu einem beeindruckenden Leseerlebnis macht.

Tasmanien – Paolo Giordano

AutorPaolo Giordano
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum21, August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten335
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinBarbara Kleiner
ISBN-13978-3518431320

„In einem Augenblick kehrte ich allem den Rücken und machte mich mit leichtem Gepäck auf in eine unvorhersehbare Zukunft. Was würde ich dort draußen vorfinden?“ (Zitat Seite 183)

Inhalt

Paolo ist mit Giulio seit der gemeinsamen Zeit ihres Physikstudiums befreundet.  Giulio arbeitet als Physiker an einem Forschungsauftrag in Paris, Paolo wurde Schriftsteller, Journalist, unterrichtet Wissenschaftsjournalismus und lebt in Rom. Im November 2015 ist er Anfang vierzig und nimmt an der Klimakonferenz in Paris teil, wohnt dort bei seinem Freund Giulio, lernt den Klima- und Wolkenforscher Dr. Novelli kennen. Für Paolo ist dies der Beginn einer Rastlosigkeit, eine Zeit vieler Reisen, er beobachtet die Beziehungen in seinem Umfeld, doch entzieht sich seiner eigenen seit jenem Tag im November 2015, wo ihm nach drei Jahren intensiver, aber erfolgloser Versuche klar wird, dass sein Wunsch nach einem gemeinsamen Kind mit seiner Frau Lorenza unerfüllt bleiben wird. Der Klimawandel, die Veränderung der Ökosysteme, der internationale Terrorismus, es sind die großen Zukunftsthemen, die Paolo beschäftigen, doch für ihn endet in dieser Zeit alles bei der Frage, wie seine persönliche Zukunft in dieser Welt aussehen soll.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft brisanten Themen unserer Tage, aber auch um Beziehungen und deren Scheitern, Elternschaft, Glaube, Liebe, Freundschaft.

Charactere

Paolo ist mit seinen Konflikten und Problemen die Hauptfigur, durch seine Freundschaften, in deren Leben und Probleme er Einblick erhält, erweitert sich auch der Kreis der Kernfiguren.

Erzählform und Sprache

Paolo schildert als Ich-Erzähler sein Leben in den Jahren zwischen 2015 und 2022, seine Freundschaften, seine Reisen. Er ist ein genauer Beobachter der Paare in seinem Umfeld und ihrer Beziehungen und ihres Lebens, er verbindet diese Erfahrungen mit seinen weiter zurückliegenden Erinnerungen, seinen Gedanken über die aktuellen Tagesthemen, über die Wissenschaft, aber auch über philosophische Themen wie Glaube, Leben und Tod, Freundschaft. Seine persönliche Suche und Fragestellung nach seinen eigenem Platz im Leben, sein Tasmanien als metaphorisches Symbol für einen möglichst weit von allen Katastrophen entfernten Sehnsuchts- und Rückzugsort zieht sich durch den gesamten Roman. Die Handlung fügt sich aus vielen einzelnen Episoden zusammen.

Fazit

Dieser Roman über die unterschiedlichen Aspekte der Lebenssituation einer Erwachsenengeneration in der Mitte ihres Lebens ist eine komplexe, facettenreiche Suche mit vielen Fragen, eine Bestandsaufnahme mit einer Auswahl an möglichen Antworten, die jedoch vage bleiben.

Deutscher Buchpreis 2023: Die Nominierten

HerausgeberFachmagazin Börsenblatt
Buchpreiswww.deutscher-buchpreis.de
Erscheinungsdatum 24. August 2023
FormatTaschenbuch, e-book
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3-7657-3441-0

„Die nominierten Romane spiegeln das Weltgeschehen wider und laden dazu ein, die eigene Blase zu verlassen – eine Fähigkeit, die vor allem in Krisenzeiten überaus wertvoll ist und uns immer mehr abhandenzukommen droht.“ (Zitat Pos. 24, Vorwort von Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels)

Thema und Inhalt

Das Taschenbuch „Deutscher Buchpreis 2023. Die Nominierten“ stellt die zwanzig Titel vor, welche in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert sind und die Longlist bilden, aus welcher in der Folge die Titel der Shortlist ausgewählt werden, die am 19. September 2023 veröffentlicht wird. Der aus dieser Shortlist ausgewählte Siegertitel wird am 16. Oktober 2023 am Beginn der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Insgesamt waren 196 Romane von 111 Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eingereicht worden.

Umsetzung

Die zwanzig Autoren und Autorinnen werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt, beginnend jeweils mit einem Foto, gefolgt von einem kurzen Lebenslauf und dem künstlerischen Werdegang. Daran schließt eine Beschreibung des Themas des jeweiligen Romans an, gefolgt von einer ausführlichen Leseprobe. Ein Bild der Titelseite mit den Angaben über Verlag, Erscheinungsdatum, Seitenzahl und Preis schließt die jeweilige Präsentation ab.

Fazit

In Buchhandlungen liegt die Broschüre in gedruckter Form auf, doch sie ist nicht in allen Buchhandlungen erhältlich und rasch vergriffen. NetGalley Deutschland stellt die Broschüre in elektronische Form, herausgegeben vom „Börsenblatt“, kostenlos zum Download bereit, in dieser Form habe ich sie gelesen. Es ist ein interessanter, sehr informativer Überblick über die nominierten Romane. Natürlich sind es mehrheitlich Titel, die man aus der Werbung und diversen Besprechungen in den Medien kennt. Auch in diesem Jahr wählte die Jury wieder eine Reihe von Romanen mit autofiktionalen Inhalten aus, ein nunmehr jahrelanger Trend, der mich nicht besonders anspricht. Dennoch konnten mich einige der Leseproben überzeugen und drei der Bücher kamen auf meine Wunschliste.

Der Hund, der nur Englisch sprach – Linus Reichlin

AutorLinus Reichlin
VerlagGaliani Berlin
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ISBN-13‏978-3869712857

„Klar, der Hund war dabei, aber jetzt ist er erstens weg. Und selbst wenn er hier wäre, würde er eisern schweigen. Ja, wenn Hunde sich etwas in den Kopf setzen, die können stur sein, denkt Felix.“ (Zitat Pos. 74)

Inhalt

Es ist eine von diesen heißen Tropennächten in Deutschland, genau genommen die erste im Jahr 2022, als alles damit beginnt, dass der vierundsechzig Jahre alte Felix Sell aus Nostalgiegründen zwei vierundvierzig Jahre alte LSD-Pillen ausprobiert. Damit startet ein Abenteuer, das rasch zu einer Reihe von unvorhersehbaren Ereignissen führt, die Felix völlig überfordern und zu überrollen drohen, wäre da nicht der Hund, der ihm mit Rat und Tat, vor allem mit den Ideen dazu, zur Seite steht. Hobo, ein kleiner Jack-Russell Rüde, der nur eines will, dass Felix ihn vor seinen Entführern in Sicherheit und so rasch als möglich zurück in seine Heimat, nach Naples, Florida, bringt.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine moderne Abenteuergeschichte, philosophisch, menschlich, sehr komisch und manchmal sehr surreal, oder doch real?

Charactere

Felix Sell ist ein geschiedener Landschaftsarchitekt in Pension, und lebt allein ein pragmatisches, ruhiges Leben. Anschaffungen berechnet er auf Grund seines Alters mit einem Preis-Leistung-Lebenserwartungsverhältnis. Er mag Katzen, doch diesen Hundeaugen kann er sich auf die Dauer nicht entziehen. Hobo liebt Leckerli und jagt begeistert Stöckchen nach, er ist ein ganz normaler Hund, mit einer Ausnahme: er spricht Englisch, genau genommen amerikanisches Englisch, und dies wesentlich besser als Felix.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, an den ein Handlungsablauf anschließt, der innerhalb eines knappen Zeitrahmens von wenigen Wochen stattfindet und zu der Situation im Prolog führt. Im personalen Mittelpunkt der Geschichte, deren Erzähler manchmal ins Auktoriale wechselt, steht Felix, da neben den Action-Elementen der Handlung auch seine Gedanken und inneren Monologe eine wichtige Rolle spielen. Denn natürlich beschäftigen Felix die Zweifel, ist der Hund nun real, ist eine andere logische Erklärung möglich, als die, dass es sich um eine Halluzination als Folge der beiden Pillen handelt, im letzteren Fall ein Zustand, der bald vorbeigehen sollte. Doch bis er Klarheit hat, versteckt er sich mit Hobo vor dessen Entführern, nur um sicherzugehen. Die Sprache erhöht das Lesevergnügen, unterhält zusätzlich mit den kleinen Missverständnissen durch den amerikanischen Slang des frechen, temperamentvollen Jack Russell Terriers, der wohl nicht nur für mich die eigentliche Hauptfigur in dieser Geschichte ist.  

Fazit

Der knappe Zeitrahmen, Flucht vor Verfolgern, Konflikte mit der Polizei, sorgen für Spannung, die Geschichte selbst mit vielen skurrilen Szenen für lautes Lachen, der kleine, freche Hund für den Wohlfühlfaktor. Es ist ein schmaler Grad zwischen möglicher, logisch argumentierbarer Realität und phantasievoller Einbildung und dem Autor ist genau dieser geniale Mittelweg gelungen.

Mama Odessa- Maxim Biller

AutorMaxim Biller
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004861

„Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ (Zitat Pos. 55)

Inhalt

1971 durfte die jüdische Familie Grinbaum aus der Sowjetunion ausreisen, doch statt in Tel Aviv, wie sein Vater Gena es sich gewünscht und geplant hatte, landen sie in der Bieberstraße 7 im Hamburger Grindelviertel. Hätte Aljona Grinbaum Jahre später ihren Mann auf einer seiner Reisen nach Israel begleitet, hätte dieser vielleicht die junge Deutsche nicht kennengelernt, wegen der er nun seine Frau verlässt. Mischa Grinbaum, der Sohn, ist noch ein Kind, als sie Odessa verlassen, inzwischen ist er längst erwachsen und Schriftsteller. Die großen Lücken in der Geschichte seiner Familie füllen sich erst langsam, verbinden sich mit seinen plötzlich wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen, als er nach dem Tod seiner Mutter neben den alten Unterlagen und Fotoalben auch das Manuskript für ihr zweites, nicht mehr veröffentlichtes, Buch findet, und ein Bündel Briefe, die sie im Laufe vieler Jahre an ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Generationen- und Familienromans einer russisch-jüdischen Familie steht der Schriftsteller Mischa Grinbaum und natürlich sind Literatur und das Schreiben Themen, doch vor allem geht es um die Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen, um Familiengeheimnisse und der Geschichte der Juden in Russland.

Charactere

Im gedanklichen Hintergrund der Familie immer präsent ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, Aljonas Vater, Mischas Großvater, der in Odessa geblieben ist. Mischa beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller schon in jungen Jahren, während seine Mutter zwar ihr ganzes Leben lang ihre eigenen Erfahrungen als Erzählungen niederschreibt, doch als ihr erstes Buch herauskommt, ist sie weit über sechzig Jahre alt. Sie lieben einander, aber besonders Mischa braucht viel Abstand. Den Zugang zu seiner Mutter findet er, indem er über sie schreibt.

Erzählform und Sprache

Mischa schreibt die Geschichte seiner Familie in der ersten Person, in Kapiteln, doch es gibt keine chronologische, fortlaufende Handlung. Es sind, wie in der persönlichen Erinnerung, Episoden, die je nach Situation und Ereignis auftauchen, und daher auch lebhaft wiederholt zwischen den Zeiten wechseln, von der Gegenwart in unterschiedliche Jahre in der Vergangenheit, und wieder zurück. Erzählungen aus dem Buch der Mutter, jeweils ein eigenes Kapitel, vertiefen mit weiteren Details, die der Ich-Erzähler nicht wissen kann. Dennoch, und hier zeigt sich auch in diesem Roman das besondere Können des Autors, entsteht nie eine Unruhe in den Abläufen, es bleiben am Ende keine offenen Erzählstränge, sondern die Einzelteile füllen die Lücken eines im Hintergrund immer präsenten Gesamtbildes einer Familiengeschichte mit allen Höhen, Tiefen, Konflikten und Geheimnissen. Die Sprache ist einfühlsam, in den Beschreibungen präzise, bunt und lebhaft und man liest dieses Buch mit Vergnügen.

Fazit

Eine beeindruckende, vielseitige Familiengeschichte über den Verlust der Heimat, und die Suche nach dem Platz und Sinn im eigenen Leben, in deren Mittelpunkt eine von Konflikten und dennoch tiefer Zärtlichkeit füreinander geprägte Mutter-Sohn-Beziehung steht.

Jenny Erpenbeck über Christine Lavant – Jenny Erpenbeck

AutorJenny Erpenbeck
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Herausgegeben vonVolker Weidermann
Erscheinungsdatum 17. August 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004687

„Das eigene Leben bewahren, ohne den eigenen Willen aufzugeben, Kompromisse eingehen, die einen nicht die Seele kosten – wie das gelingen kann, und auch, wie manche ihrer Figuren tragisch daran scheitern, hat Christine Lavant in ihren Texten beschrieben.“ (Zitat Pos. 817)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der fünfte Band der Serie „Bücher des Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Es geht um Bücher, welche die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck besonders beeindruckt und geprägt haben. Erpenbeck ist dreißig Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant liest. „Dreißig Jahre alt musste ich werden, bevor ich zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant gelesen habe. Bevor sich mir diese fremde Welt aufgetan hat, die ich nicht kannte und dich im ersten Moment wiedererkannt habe.“ (Zitat Pos. 284) Seither folgt sie den Spuren und dem Leben dieser ungewöhnlichen Frau, der einfachen Strickerin und Schriftstellerin und vertieft die biografischen Geschichten mit den Themen Bücher, Lyrik, das Leben als Schriftstellerin.

Umsetzung

Nach einem kurzen Vorwort von Volker Weidermann beginnt Jenny Erpenbeck ihr Essay mit der Frage, wann der richtige Moment sei, um ein Gedicht zu lesen, gibt sich selbst in Gedanken verschiedene Antworten, die ebenfalls Fragen bleiben. Im zweiten Kapitel schreibt sie, was Christine Lavant in ihren biografischen Notizen über das Lesen von Gedichten geschrieben hat und tritt so mit dieser österreichischen Lyrikerin aus Kärnten in einen inneren Dialog. Diesen führt sie in allen weiteren Kapiteln abwechselnd fort, Jenny Erpenbeck berichtet über ihre Erlebnisse während der fünf Jahre, die sie in Graz gelebt hat und beginnt danach mit der Kindheit von Christine Lavant, mit bürgerlichem Namen Christine Habernig, geb. Thonhauser. Erpenbeck folgt einerseits dem von Selbstzweifeln geprägten Leben von Christine Lavant, sucht in den vielen vorhandenen Aufzeichnungen, besonders Briefen, in den Archiven und Museen nach dem Menschen und der Künstlerin. Besondere Aussagen ergänzt Erpenbeck mit entsprechenden Gedichten von Christine Lavant.

Im Anhang finden sich die Lebensdaten von Christine Lavant und die Erklärungen zu den durchnummerierten Fußnoten.

Fazit

Dieses Buch berichtet über das Leben der österreichischen Schriftstellerin Christine Lavant, deren literarisches Werk in der breiten Öffentlichkeit nicht allzu bekannt ist, und in deren Würdigung seit 2016 ein eigener Literaturpreis, der Christine Lavant Preis, verliehen wird.

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