Die Enkelin – Bernhard Schlink

AutorBernhard Schlink
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 27. Oktober 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071818

„Ich will keines dieser nicht gelebten Leben. Aber ich kann sie nicht von mir abtun. Meine nicht gelebten Leben sind mein wie mein gelebtes.“ (Zitat Seite 58)

Inhalt

Am 17. Mai 1964 lernen sie einander in Ostberlin kennen, Birgit aus dem Osten und Kaspar aus dem Westen, der für dieses Sommersemester nach Berlin gezogen ist. Sie verlieben sich, Kaspar ist bereit, nach Ostberlin zu ziehen, doch Birgit will in den Westen. Am 16. Januar 1965 landet sie in Tempelhof. Nun, nach fünfzig Jahren Ehe, ist Birgit tot und in ihren Entwürfen für einen Roman über ihr Leben entdeckt Kaspar eine völlig andere Frau, als er gekannt hat. Bei ihrer Flucht hat sie ihre kleine Tochter zurückgelassen, wollte sie suchen, hat es immer wieder hinausgeschoben. Kaspar begibt sich auf diese Reise in die Vergangenheit und findet die vierzehnjährige Sigrun, Birgits Enkelin. Können eine Vierzehnjährige, die in einem Dorf nach der Ideologie einer völkischen Gemeinschaft aufgewachsen ist und der ruhige, introvertierte Buchhändler eine gemeinsame Basis finden, einander kennenzulernen?

Thema und Genre

In diesem Generationenroman, Coming-of-Age-Roman, Beziehungsroman, geht es um drei Frauen aus drei Generationen, prägende Entscheidungen, die das Leben eines Menschen beeinflussen, zeitgeschichtliche und politische Themen wie Ostdeutschland-Westdeutschland, nationalistische, völkische Lebensformen in Deutschland heute. Auch die unterschiedlichen Ideen, beinahe verlassene ländliche Gebiete und Dörfer wieder mit Leben und Zukunftsperspektiven zu füllen, ist ein Thema.

Charaktere

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen die Menschen. Birgit, die eine Entscheidung getroffen hat, ihr Leben mit immer präsenten Schuldgefühlen, ihr Schweigen darüber. Kaspar, der ruhige, intellektuelle Buchhändler, dessen ganzes Leben nach dem Tod seiner Frau Birgit durch ihre Aufzeichnungen plötzlich zu einem „Vielleicht“ wird. Auf der anderen Seite Birgits Tochter Svenja und deren Tochter Sigrun, die Kinder und Enkel der ehemaligen DDR-Bürger, ihre Träume, ihre Werte, manchmal ihr Scheitern.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in drei Teilen erzählt. Im ersten Teil wird die Beziehung zwischen Kaspar und Birgit kurz personal mit Kaspar als Mittelpunkt geschildert, daran anschließend wird Birgits Leben ausführlich erzählt, in Ich-Form, da es sich um ihre persönlichen Aufzeichnungen und Unterlagen zu ihrem geplanten Roman handelt. Der zweite Teil ist zugleich der Hauptteil. Kaspar begibt sich auf die Spurensuche, trifft unterschiedliche Personen aus Birgits früherem Leben und schließlich Sigrun, Birgits Enkelin, die auch für ihn zur Enkelin wird. Vorsichtig nähern sich die beiden so unterschiedlichen Personen und Generationen einander an. Der dritte, abschließende Teil spielt zwei Jahre später. Die Sprache erzählt leise und schildert eindrücklich.

Fazit

Ein facettenreicher Roman mit zeitlos aktuellen Themen. Die Konflikte und Suche nach Lösungen und Wendungen der einfühlsam geschilderten Figuren geben der Geschichte Intensität und Spannung und regen zum Nachdenken an.

So war’s eben – Gabriele Tergit

AutorGabriele Tergit
Verlag Schöffling & Co.
Erscheinungsdatum 24. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten624
NachwortNicole Henneberg
UmschlagbildLesser Ury
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895614743

„Der Bürger erlebte den Zusammenbruch seiner Ideale, Besitz und Bildung, und fand im Felde seinen Kameraden, den Arbeiter. Das Nationale löste sich aus seiner Verflechtung mit dem Kapitalismus, der Sozialismus entschied sich für die nationale Idee.“ (Zitat Seite 346)

Inhalt

Sie treffen einander zum Damentee, die Frauen der jüdischen Familien, die im Zentrum dieses Generationenromans stehen. Ende der 1890 Jahre sind dies die Gastgeberin Franziska Stern, geborene Kollmann, Roserl, die Frau von Amtsrichter Julius Mayer, Sabine Gutmann, die Schwester des Amtsrichters, Adelina Markus, die Frau des Fabrikanten Manfred Markus. Immer wieder treffen sie einander in diesen Jahren, später sind es ihre Kinder und Enkelkinder. Ihre Schicksale und Beziehungen verbinden sich mit weiteren Familien und Personen, mit der reichen Familie Jacoby und der Bankiersfamilie Beer, aber auch mit der Familie v. Rumke, die zur militärischen deutschen Oberschicht gehört, und mit überzeugten Kommunisten, Künstlern und Journalisten. Am 30. Januar 1933 treffen sie alle nochmals bei einer Wohnungseinweihungsfeier zusammen, dann trennen sich ihre Wege. Mehr als zwanzig Jahre später besucht Grete Jacoby, geborene Mayer, die nun in London lebt, die früheren Freunde und Bekannten in New York, nun ein sehr kleiner Kreis von Menschen, die überlebt haben. „ … und langsam würde dieser Kinderkreis von fünf Menschen aufhören.“ (Zitat Seite 558)

Thema und Genre

Dieser Generationenroman ist ein authentisches Zeitbild der Geschichte Deutschlands zwischen 1890 und den fünfziger Jahren, erzählt durch das Leben und Schicksal der Menschen, die damals gelebt haben.

Charaktere

Es sind die Personen mit ihren Eigenheiten, ihrer Zugehörigkeit, ihrer Erziehung, Tradition, Gefühlen, Träumen und Schicksalen, deren Geschichte erzählt wird, ihr Alltag in diesen für immer die Geschichte prägenden Jahren Deutschlands. Eine der wichtigsten Romanfiguren, Grete Jacoby, ist autobiografisch geprägt.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung ist in fünf Abschnitte eingeteilt, die der Chronologie der geschichtlichen Abläufe entsprechen: Kaiserreich, Krieg, Weimarer Republik, Drittes Reich, Nachkrieg. Die Ereignisse werden nicht erzählt, sondern in langen Gesprächen zwischen den vielen unterschiedlichen Personen der Handlung  geschildert. Ergänzt werden diese politischen, gesellschaftskritischen und tagesaktuellen Dialoge durch ausführliche Beschreibungen des Lebensumfeldes, des alltäglichen Lebens der verschiedenen Gesellschaftsschichten in einer Zeit der Kriege, politischen Umstürze, der Wohnungsnot, der Arbeitslosigkeit, des Hungers, der Verfolgung. Hilfreich ist die Aufstellung aller Personen als entnehmbare Liste in Form eines Lesezeichens, denn es sind insgesamt über siebzig Personen, die einander bei unterschiedlichen Ereignissen treffen bzw. familiär verbunden sind. Die Sprache der auktorialen Erzählform entspricht der Zeit, in der dieser Roman geschrieben wurde. Verlegt wurde nun die ursprüngliche, ungekürzte Fassung, wodurch der Text mit den langen Dialogen und sich wiederholenden Schilderungen der persönlichen Lebens- und Wohnumstände manchmal etwas langatmig wirkt. Andererseits ergibt sich gerade daraus ein lebendiges Bild dieser Zeit, lässt uns nachempfinden, wie es damals eben war.

Fazit

Dieses Buch ist ein umfassendes Zeitbild, geschrieben als Generationenroman, in dessen Mittelpunkt Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stehen und ihr Leben in Deutschland in den Jahren zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Der brennende See – John von Düffel

AutorJohn von Düffel
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 18. Februar 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832181222

 „Neu sind nicht die Erkenntnisse, sondern unser Wille zu handeln, das Ende der Geduld meiner Generation mit deiner und die des Planeten mit uns. Die letzte Chance, etwas zu verändern, ist jetzt.“ (Zitat Seite 241)

Inhalt

Hannah reist mit leichtem Gepäck, wie schon ihr Vater, ein bekannter Schriftsteller. Nach seinem Tod kehrt Hannah ein letztes Mal an den Ort ihrer Kindheit zurück, um seine Wohnung zu räumen. Neben dem Bett liegt sein zuletzt erschienenes Buch, darin ein Foto von einer jungen Frau. Hannah will wissen, wer diese Unbekannte ist und als der Anwalt ihres Vaters sie vorab informiert, dass ihr Vater kurz vor seinem Tod sein Testament geändert hat, beginnt sie nachzuforschen. Obwohl sie, die einzige Tochter, ohnedies erwogen hatte, das Erbe auszuschlagen, will sie nun den Grund für die Entscheidung ihres Vaters wissen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Generationenkonflikte, die Eltern-Kind-Problematik und aktuelle Umweltthemen.

Charaktere

Hannah ist stolz darauf, unabhängig und mit kleinem Gepäck zu reisen, wie schon ihr Vater. In ihrem Verhalten jedoch dient dies eher der Möglichkeit, rasch aus einer unangenehmen Situation fliehen zu können, sie ist labil und versucht wiederholt, trotz aller guten Vorsätze, auftretende Probleme mit Alkohol zu lösen, insgesamt keine besonders sympathische Hauptfigur.

Die junge Umwelt-Aktivistin Julia ist typisch für die Fridays-for-Future-Generation. Engagiert und überzeugt davon, dass die Elterngeneration an allem schuld sei, ist sie doch froh, dass immer, wenn sie erwischt wird, der Familienanwalt ihr zu Hilfe eilt, wenn ihre auf Grund ihrer Jugend ohnedies nur bedingte Strafmündigkeit sie nicht ausreichend schützt.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb von wenigen Tagen zwischen dem 21. und 24. April. Jedes Kapitel berichtet als Einleitung über das aktuelle Wetter in diesen extrem warmen, sehr trockenen Vorsommertage. Im Mittelpunkt der personalen Erzählform steht Hannah, im Mittelpunkt der Ereignisse steht ein Baggersee.

Der Roman überzeugt durch seine eindringliche, leise Erzählsprache, nicht jedoch durch die Handlung und das Verhalten der einzelnen Figuren, denn viele Szenen sind weder logisch noch nachvollziehbar.

Fazit

Ein Roman über die Kernthemen unserer Zeit: Generationenkonflikt, Gesellschaftsstrukturen und Umwelt. Leider sind sowohl die Handlung, als auch das eigenartige Verhalten der einzelnen Figuren teilweise nicht stimmig und unglaubwürdig. Dies ist schade, denn der Autor ist ein genauer Beobachter und erzählt in einer eindrücklichen, klaren Sprache, die sehr angenehm zu lesen ist.

Das Jahrhundert der Martha Jacoby – Maria Charlotte Wulff

AutorMaria Charlotte Wulff
Verlag Mövenort Verlag
Erscheinungsdatum 1. Mai 2021
FormatTaschenbuch
Seiten306
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3981895551

„Das Haus wurde Mittelpunkt einer in der Welt verzweigten Familie, in der sich alles um sie drehte. Keiner hat länger hier gelacht und geweint und geprägt.“ (Zitat Seite 296)

Inhalt

Am 1. April 2020 feiert Martha Jacoby Geburtstag, geboren am 1. April 1920 ist sie jetzt hundert Jahre alt. Damals, als ihr Urgroßvater 1825 ein einfaches Fachwerkhaus erreichtet hatte, nicht weit vom Lankower See entfernt, lag dieses noch außerhalb von Schwerin, inzwischen ist das zuletzt von ihrem Vater weiter ausgebaute „Haus Jacoby“ ein Stadthaus in Schwerin. Martha hat ihr ganzes Leben in diesem Haus verbracht und beide, Martha und das Haus, haben wechselvolle Jahre, den zweiten Weltkrieg, Besatzung, die DDR und den Neubeginn nach dem Mauerfall überdauert. Längst ist Martha Urgroßmutter und im Dezember 2020 ist sie der Meinung, dass es mit hundert Jahren auch einmal genug ist.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um die Geschichte und Schicksale einer inzwischen weit verzweigten Familie, gleichzeitig ist es ein interessanter geschichtlicher Streifzug durch einhundert Jahre Zeitgeschehen in Deutschland. Ein wichtiges Thema ist das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben bis zum letzten Tag.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Martha Jacoby, eine optisch zierliche, aber geistig umso stärkere, kluge Frau. Den unterschiedlichen politischen Strömungen unterwirft sie sich nicht, agiert aber überlegt und im Sinne ihrer Familie. Rückschläge bleiben in so einem langen Menschenleben nicht aus, aber Martha behält ihre positive Lebenseinstellung und Freude am Leben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte von Martha Jacoby wird in mehreren Erzählsträngen geschildert, die einander abwechseln. Wir erleben Martha und ihre Tochter Annegret in diesem Dezember 2020, parallel dazu erfahren wir die Geschichte der Familie, beginnend mit Marthas Geburt und mit Rückblicken auf das Leben ihrer Eltern, ergänzt durch Ereignisse im Leben von Marthas Geschwistern, ihrer Tochter, Enkel, Urenkel. Im Laufe der Handlung erweitert sich die Handlung um neue Erzählstränge, in deren Mittelpunkt neue und vorerst unbekannte Personen stehen, die sich dann mit einzelnen Mitgliedern der Familie zu verbinden. Damit ergibt sich ein lebhaftes und vielschichtiges Bild der Familie Jacoby, gleich einem sich immer weiter verzweigenden Baum, dessen einzelne Zweige auch Länder und Meere überqueren. Die Autorin ist eine großartige Erzählerin mit Erfahrung, Wissen, Empathie und einem feinen Humor, es ist, als ob man neben Martha säße und ihr zuhört wie einer seit Jahren lieben Freundin.

Fazit

Ein einfühlsam erzählter, facettenreicher Generationenroman, der zugleich auch ein Ausflug in die deutsche Vergangenheit der letzten hundert Jahre ist. Die auch mit hundert Jahren noch verschmitzte, zierliche aber charmant-willensstarke Hauptfigur Martha schließt man sofort ins Herz und verfolgt mit großem Vergnügen die Geschichte ihres Lebens.

Viktor – Judith Fanto

AutorJudith Fanto
Verlag Verlag Urachhaus
Erscheinungsdatum 18. Mai 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten415
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinEva Schweikart
ISBN-13978-3825152574

„Tief in mir keimte die Hoffnung, dass ich durch ein Missverständnis – auf welche Weise auch immer – im falschen Leben gelandet war und dass mein eigentliches, mein echtes Leben irgendwo unberührt geduldig auf mich wartete.“ (Zitat Seite 73)

Inhalt

Geertje van den Berg studiert 1994 in Nimwegen Jura. Obwohl ihre Mutter Pauline aus einer wohlhabenden wienerisch-jüdischen Familie stammt, werden in der Familie keine jüdischen Traditionen mehr gepflegt. Für Geertje bedeutet dieses bewusste Verheimlichen des Judentums einen Konflikt, denn sie fühlt sich nicht als Geertje. Andererseits kennt sie auch ihre Wurzeln nicht, die Vergangenheit ihrer Familie, in der es einige sehr gut gehütete Geheimnisse gibt, über die nie gesprochen wird. Geertje ändert bewusst ihren Vornamen in Judith und begibt sich auf die Suche, die sie zurückführt in die Stadt Wien nach dem ersten Weltkrieg, wo ihr Großvater aufgewachsen ist, und besonders zu seinem geheimnisvollen, unkonventionellen Bruder Viktor.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um die Nachkommen einer wohlhabenden jüdischen Wiener Familie, um die Schuldgefühle jener jüdischen Menschen, die überlebt haben, ihr Schweigen und die sich aus diesem Schweigen ergebenden Identitätsprobleme der heutigen Generation. Ein sehr interessantes Thema, das in dieser Form selten so eindrücklich geschildert wird.

Charaktere

Die einzelnen Personen der Handlung, die Mitglieder der Familie Rosenbaum und ihre Nachkommen, sind mit Humor und großem Einfühlungsvermögen für ihre Eigenheiten und ihre Verhaltensweisen beschrieben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte der Familie wird in zwei Handlungssträngen erzählt, die einander abwechseln. Geertje-Judith schildert als Ich-Erzählerin ihr Leben im Jahr 1994, ihre Familie, ihr Studium in Nimhagen und ihre Recherchen. Parallel dazu erfahren wir die Geschichte ihrer Vorfahren in Wien, beginnend im Jahr 1914, bis zur Flucht von Geertje-Judiths Großeltern Felix und Trude im Jahr 1939 nach Belgien. Notizen über spätere Ereignisse schließen diesen historischen Teil ab, in dessen personalem Mittelpunkt Viktor steht, der Bruder von Felix. Die Sprache erzählt packend und die Handlung und Personen haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Besonders beeindruckt mich die Mischung aus Ernst, Tiefgang und gleichzeitig lebhafter Leichtigkeit, mit der diese Geschichte geschrieben ist.

Fazit

Ein großartiger Familienroman mit einer interessanten Problematik, klug, eindrücklich und humorvoll. 

Drei Sommer – Margarita Liberaki

AutorMargarita Liberaki
Verlag Arche Literatur Verlag AG
Erscheinungsdatum 18.März 2021
Format Gebundene Ausgabe
Seiten388
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMichaela Prinzinger
ISBN-13978-3716027981

„Abends vorm Einschlafen denke ich über dich und Infanta, über Mutter und Vater und sogar über Tante Tereza nach. Ich frage mich, wie unser Leben später mal aussehen wird, was wir erreichen werden. Wir müssen doch etwas erreichen, Maria, oder?“ (Zitat Seite 80)

Inhalt

Maria, Infanta und Katerina gehören zu einer angesehenen, begüterten Familie und leben mit ihrer geschiedenen Mutter Anna und Tante Tereza auf dem großen Landgut des Großvaters, in Kilissi, der noblen Wohngegend außerhalb Athens. Dieser erste von drei aufeinander folgenden Sommern in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg ist für Katerina etwas Besonderes. Denn in diesem Sommer lassen ihre beiden älteren Schwestern, Maria ist zwanzig Jahre alt, Infanta achtzehn, die sechzehnjährige Katerina erstmals an ihren Gesprächen teilhaben, teilen ihre Geheimnisse mit ihr, während sie versuchen, die Welt um sich herum und sich selbst zu verstehen. Aus den früheren Freunden der Kindheit sind junge Männer geworden und mit diesen Veränderungen kommt auch die erste Liebe. Im zweiten Sommer verliebt sich Katerina, doch gleichzeitig träumt sie von einem Leben als Schriftstellerin, ungebunden und frei.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine Frauen-, Familien- und Coming-of-Age-Geschichte. Es geht um das enge, traditionelle Frauenbild im Griechenland der 1930er Jahre. In Griechenland zählt dieser 1946 erschienene Roman heute zu den modernen Klassikern.

Charaktere

Katerina ist ein eigenwilliges Mädchen, neugierig, aber auch verträumt. Sie überlegt, ob sie wirklich ein Leben als Ehefrau und Mutter führen will, träumt von fernen Ländern und Freiheit. Sie beobachtet und beschreibt die unterschiedlichen Menschen aus mehreren Generationen in ihrem Umfeld, Frauen, Männer, Familie, Freunde, versucht, ihre Geheimnisse zu ergründen, ihr Leben und ihr Verhalten zu verstehen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung umfasst hauptsächlich die Sommermonate in drei aufeinanderfolgenden Jahren, wird ergänzt durch dazwischenliegende Ereignisse, Kindheitserinnerungen von Katerina und Episoden aus dem Leben der Großeltern- und Elterngeneration. Die gesamte Geschichte wird nachträglich aus der Erinnerung erzählt, mit Katerina als Ich-Erzählerin, jedoch unterbrochen und ergänzt durch weitere Erzählstimmen, zwischen denen die Autorin wechselt. So erfahren wir beim Lesen auch Geschichten, die Katerina nicht wissen kann. Inhalt der Handlung sind die alltäglichen kleinen Erlebnisse und Erfahrungen dieser Zeit, der häusliche, weibliche Tagesablauf in vielen kleinen Momenten, die einzigartige Üppigkeit der griechischen Frühlings- und Sommermonate, eine Zeit voll von Wärme, Düften und Gefühlen. Die Sprache der Übersetzung liest sich angenehm und fließend.

Fazit

Ein Klassiker der modernen griechischen Literatur, es sind die Schilderungen der kleinen alltäglichen Momente im Leben der Frauen in den 1930er Jahren in Griechenland, die den Roman interessant und lesenswert machen.

Nächstes Jahr in Berlin – Astrid Seeberger

AutorAstrid Seeberger
Verlag Urachhaus
Erscheinungsdatum 10. Februar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten252
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinGisela Kosubek
ISBN-13978-3825152611

„Großvater wusste, was ich wollte, er wusste es, bevor ich es selber wusste. Schreiben war mein Leben.“ (Zitat Pos. 2471)

Inhalt

Nach dem Erscheinen ihres Buches „Goodbye Bukarest“ in Deutschland, meldet sich der Priester Alois, ein alter, enger Freund ihres Vaters, über den Verlag bei der Ich-Erzählerin, um ihr etwas über ihre Mutter zu erzählen. Fünf Jahre sind seit dem Tod ihrer Mutter vergangen und nun schreibt die Tochter die Geschichten über die Familie nieder, die ihre Mutter ihr erzählt hatte. Gleichzeitig denkt sie über die Zeit kurz vor und nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 2007 nach, über ihre eigenen Erinnerungen an die Eltern und die Großeltern und verbindet diese mit ihrem aktuellen Leben, die Zeit des Schreibens zwischen Dezember 2012 und Dezember 2013.

Thema und Genre

Dieser autobiografische Roman ist eher ein Erzählband, mit einer Familiengeschichte durch bewegte Jahre einer glücklichen Zeit in Ostpreußen, Vertreibung, Flucht, Krieg, das geteilte Deutschland und einer problematischen Mutter-Tochter-Beziehung als Verbindung  der einzelnen Fragmente aus Geschichten und Erinnerungen.

Charaktere

Durch den dichten, autobiografischen Hintergrund dieses Romans sind die handelnden Personen sehr realistisch und präzise beschrieben, ihr Verhalten im Rahmen der Ereignisse verständlich und nachvollziehbar. Andererseits bleiben sie gerade wegen dieser Realität auf Distanz zum Leser.

Handlung und Schreibstil

Es ist ein Roman in Fragmenten. Im ersten, sehr beklemmenden Teil wechseln die Erinnerungen an die Tage vor und nach dem Tod der Mutter im Jahr 2007 mit dem aktuellen Jahr zwischen Dezember 2012 und Dezember 2013, in welchem die Tochter als Ich-Erzählerin in ihrem Haus auf einer Insel in einem See in Schweden an dem Buch über ihre Mutter schreibt. Den zweiten Teil bilden viele einzelne Erzählungen, nicht immer chronologisch, die in vier großen Kapiteln mit je einem übergeordneten Thema zusammengefasst sind. Es sind die Familiengeschichten, die ihre Mutter ihr erzählt hat, beginnend mit der Kindheit und Jugend der Mutter in Ostpreußen. Daran schließen die eigenen Kindheitserinnerungen der Tochter an. Das letzte dieser vier Kapitel hat jene der Ich-Erzählerin bisher unbekannte Geschichte über ein Ereignis aus dem Leben der Mutter zum Inhalt, die ihr der alte Freund ihres Vaters erzählt, und die den Übergang bildet zum nachfolgenden Roman „Goodbye Bukarest“, der aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen in deutscher Übersetzung jedoch als erstes Buch erschienen ist.

Fazit

Ein stark autobiografischer Roman, der sich aus vielen unterschiedlichen Geschichten aus dem Leben von insgesamt drei Generationen der Familie der Ich-Erzählerin zusammensetzt. Es sind beklemmende Ereignisse, aber auch glückliche Kindheitserinnerungen, insgesamt eine sehr persönliche Aufarbeitung der schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung, geschrieben in einer poetischen, dichten Sprache. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt, mich aber etwas ratlos zurücklässt. „Ich weiß es nicht. Er ist so schwer, alles in Einklang zu bringen.“ Dies schreibt die Ich-Erzählerin (Zitat Pos. 3164) und so geht es auch mir mit diesem Buch.

Das Flüstern der Bienen – Sofia Segovia

AutorSofia Segovia
Verlag List Hardcover
Erscheinungsdatum 1. März 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten480
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3471360354

„Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihnen von der Musik erzählt, die ihm die Bienen in sein lauschendes Ohr sangen: über die Blumen in den Bergen, Begegnungen in der Ferne und Freundinnen, die den weiten Weg nach Hause nicht geschafft hatten, über die Sonne, die heute vom Himmel strahlte, aber morgen hinter Gewitterwolken verschwinden würde.“ (Zitat Pos. 775)

Inhalt

Im Oktober 1910 findet die alte Nana Reja ein Baby. Ausgesetzt, um zu sterben, doch eingehüllt in einen Bienenschwarm, hat der kleine Simonopio überlebt. Die vermögenden Plantagenbesitzer Francisco und Beatriz Morales nehmen ihn als Patensohn an und er wächst auf ihrer Hazienda La Amistand auf, zusammen mit seinen Bienen, von denen er den Kreislauf der Natur lernt. Als im April 1923 Beatriz, schon neununddreißig Jahre alt, nochmals Mutter wird, kümmert sich Simonopio wie ein Bruder um den kleinen Francisco. Alle halten Simonopio auf Grund eines Geburtsfehlers, eine Oberlippenspalte, für beinahe stumm, doch Francisco lernt seine Sprache und er liebt die vielen Geschichten, die ihm Simonopio erzählt – nur eine nicht, die vom Kojoten, denn er spürt, dass diese Geschichte auch Simonopio Angst macht.

Thema und Genre

Dieser Familien- und Generationenroman spielt in Mexiko, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Den Hintergrund bildet die wechselvolle Geschichte Mexikos in dieser Zeit, Krieg, Revolutionen, politische Umstürze und die Spanische Grippe, doch im Vordergrund stehen die Menschen, die auf der Hazienda La Amistand nahe der Stadt Linares leben.

Charaktere

Simonopio ist ein besonderer Junge, er hat eine enge, magische Bindung zu seinen Bienen, scheint in Gedanken mit ihnen zu reden. Ungebunden lebt er den Jahreslauf mit der Natur und mit seinen Bienen. Sein Wissen setzt er zum Wohle der Hazienda ein, denn früh erkennt man seine besondere Gabe und hört auf ihn. Der kleine Francisco ist ein ungestümer Wildfang, doch seinem Bruder Simonopio hört er zu und bei ihm kommt er zur Ruhe. Beatriz Cortés de Morales ist, obwohl ihrer Erziehung und den gesellschaftlichen Konventionen der mexikanischen Oberschicht verpflichtet, eine starke, selbstbewusste Frau, bereit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird von Francisco erzählt, der inzwischen längst ein alter Mann ist. Dies erfolgt, mit einigen Vorgriffen und Rückblicken, chronologisch. Dort, wo es Francisco selbst betrifft, in der Ich-Form, die anderen Teile als personaler Erzähler. Seit vielen Jahren lebt er schon in Monterrey, doch ein Mal will er noch zurück nach Linares, das Haus seiner Kindheit sehen und während der Fahrt schildert er dem Taxifahrer die Geschichte seiner Familie und die damaligen Ereignisse. Geschrieben in einer eindrücklichen, poetischen Sprache, geht die Autorin einfühlsam mit ihren Figuren um, gibt ihnen Freiraum, sich zu entwickeln und vertieft die Handlung mit einer Art positiver Magie. Damit gewinnt sie von den ersten Seiten an die Aufmerksamkeit der Lesenden und die vielen Hinweise und Andeutungen auf kommende Ereignisse, die in der Mitte des Buches auf beinahe jeder Seite auftauchen und wohl den Spannungsbogen steigern sollen, sind in meinen Augen unnötig. Es sind die eindrücklichen Hauptfiguren, welche die Geschichte tragen und denen man auch ohne diese Stilmittel gespannt und neugierig folgt.

Fazit

Eine faszinierende Geschichte, poetisch, einfühlsam und mit einem Hauch Magie erzählt.

Wo wir Kinder waren – Kati Naumann

AutorKati Naumann
Verlag HarperCollins
Erscheinungsdatum 26. Januar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten496
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3749900008

„Ich frage mich: Wie weit darf man gehen, um eine Tradition aufrechtzuerhalten?“ (Zitat Seite 317)

Inhalt

Eva, gelernte Spielzeuggestalterin, hat schon als Kind begeistert Spielzeug getestet, als sie zwischen fünf und dreizehn Jahre alt war. Dies war in Sonneberg, damals DDR. Heute ist Eva zweiundfünfzig Jahre alt und lebt immer noch in Sonneberg. Gemeinsam mit ihrem Cousin Jan und ihrer Cousine Iris gehört sie zur Erbengemeinschaft der ehemaligen Spielzeugfabrik Langbein, gegründet von ihrem Urgroßvater Albert Langbein. Als Jan das alte Haus der Familie räumen muss, da es vermietet werden soll, wollen Eva und Iris helfen. Sie tauchen tief in ihre gemeinsamen Kindheitserinnerungen an dieses Haus und besonders an ihre Großmutter Flora ein, entdecken die abwechslungsreiche Geschichte der Familie und einige alte Familiengeheimnisse, gleichzeitig wächst das gegenseitige Verständnis und langsam formt sich eine Idee.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um die wechselvolle, reale Geschichte der Spielwarenerzeugung in der Spielwarenstadt Sonneberg von 1910 bis nach der Wende, am Beispiel eines fiktiven Familienunternehmens.

Charaktere

In der Buchinnenseite findet sich ein Stammbaum der fiktiven Familie Langbein. Alle Charaktere sind sehr lebensnah, stimmig und authentisch geschildert, ihre Handlungen und Entscheidungen sind nachvollziehbar. Es ist ein bunter Reigen an Figuren, die uns in dieser Geschichte begegnen und alle haben eines gemeinsam: sie sorgen sich um die Familie und das Familienunternehmen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung wird in zwei Zeitebenen erzählt und der Aufbau ist sehr kreativ und originell, auch sprachlich macht es richtig Freude, diese Geschichte zu lesen und die Spannung kommt nicht zu kurz. Die drei Cousins finden im alten Familienhaus einen besonderen Gegenstand, oder sie entdecken Unterlagen, bisher unbekannte Dokumente, und im nachfolgenden Kapitel wir genau jenes Ereignis in der Vergangenheit geschildert, in dem jeweils dieses gerade entdeckte Objekt eine Rolle spielt. Dadurch erfahren wir beim Lesen auch alle Hintergründe, welche die Erben nicht wissen können. So entsteht langsam ein großartiger Familienroman, ergänzt durch sehr lebendige, interessante Schilderungen des Handwerks der Spielzeugherstellung, besonders von Puppen und Plüschtieren, im Wandel der Zeit, von der Handarbeit zur Industrialisierung. Auch der Alltag und die täglichen Probleme der Menschen in jener Zeitspanne, in der Sonneberg zur DDR gehörte, sind sehr eindrücklich geschildert.

Fazit

Ein großartiger Familien- und Generationenroman, ein lebhaftes, vielschichtiges Zeitbild. Reale Vorbilder und eine intensive Recherche ergänzen die packende Geschichte mit interessanten Informationen und ergeben in Summe ein überzeugendes Leseerlebnis.

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid – Alena Schröder

AutorAlena Schröder
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 20. Januar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423282734

„Evelyn fixierte Hannah für einen kurzen Moment, prüfend, abwägend, müde. Sie hätte ihn einfach wegwerfen sollen, diesen Brief, nun war es zu spät.“ (Zitat Seite 13)

Inhalt

1942 fertigt Senta für ihren Schwiegervater Itzig Goldmann eine Inventurliste aller Kunstgegenstände an, die er den Nationalsozialisten übergeben muss. Seither sind die Liste und auch die Kunstwerke verschwunden. In der Jetztzeit erhält Dr. Evelyn Borowski, vierundneunzig Jahre alt, die einzige Tochter von Senta Goldmann, einen Brief von einem israelischen Anwaltsbüro, die auf diesen Tatbestand gestoßen sind und weiter Recherchen anbieten. Hannah, Germanistin, schreibt an ihrer Doktorarbeit und besucht ihre Großmutter Evelyn jede Woche. Da entdeckt sie durch Zufall diesen Brief. Warum hat man ihr nie etwas von diesem Teil ihrer Familiengeschichte erzählt und warum schweigt ihre Großmutter auch weiterhin? Hannah beginnt mit eigenen Nachforschungen.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um die Vergangenheit und Raubkunst, vor allem jedoch um Mütter und ihre Töchter, um die Probleme von Frauen, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein eigenständiges, beruflich erfolgreiches Leben führen wollten, was nur schwer mit ihrer Mutterrolle vereinbar war.

Charaktere

Evelyn hat mit ihrem langen Leben schon abgeschlossen, vor allem jedoch mit der Vergangenheit. Hannah ist für ihre siebenundzwanzig Jahre erstaunlich orientierungslos, weiß nicht, was sie will. Doch während sie sich nur sehr halbherzig ihrer Dissertation widmet, lässt sie bei ihrer Suche nach der Vergangenheit ihrer Familie nicht locker. Senta, Evelyn, Silvia, Hannah, vier Generationen, vier im Grunde nicht so unterschiedliche Frauen, die versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen.

Handlung und Schreibstil

Die aktuelle Handlung spielt in der Gegenwart, im Mittelpunkt steht Hannah, ihr Leben und ihre Suche nach den Bildern und nach ihrer Familiengeschichte. Diese wird parallel in einem zweiten Handlungsstrang erzählt, der 1922 beginnt und 1950 endet und der das Leben von Senta und Evelyn zum Inhalt hat. Eine weitere Rückblende führt in das Jahr 2007, zu Evelyn und Silvia. Die Geschichte, in deren Mittelpunkt weniger die Ereignisse, als die Entscheidungen, Konflikte, Probleme und Beziehungen der vier Frauen stehen, ist dicht und stimmig entwickelt, beginnt intensiv und spannend, flacht jedoch im letzten Viertel etwas ab.

Fazit

Eine interessante, angenehm zu lesende Familien- und Generationengeschichte.

Scherbentanz – Chris Kraus

AutorChris Kraus
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 20. Oktober 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071351

„Seit Jahren leben wir in dieser geflügelten Bitterkeit, die im Rhythmus der Zugvögel verlässlich entkommt, in südlichen Gestaden überwinternd, und wenn sie fast vergessen ist, verdüstert sich der Himmel, sie kehrt zurück und baut sich in unseren Herzen Nester.“ (Zitat Seite 59)

Inhalt

Jesko Solm, ein eigenwilliger Modedesigner, ist das schwarze Schaf einer ohnedies sehr dunklen Familie voller Geheimnisse, die vehement unter dem schönen, öffentlichen Schein der erfolgreichen Unternehmerfamilie verborgen gehalten werden. Nun wird Jesko dringend in die protzige Familienvilla gerufen, ohne den wahren Grund zu kennen. Er leidet unter Leukämie. Die letzte Hoffnung als mögliche Knochenmarksspenderin ist die leibliche, psychisch kranke Mutter. Eine Frau, die  Jesko und sein Bruder Ansgar seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben und mit der sie nie wieder etwas zu tun haben wollten. Diese wurde nun vom Vater aufgefunden und heimlich ebenfalls in den Sitz der Familie gebracht. Sieben lange Tage bis zum operativen Eingriff zur medizinischen Abklärung liegen vor Jesko, und seine Krankheit ist das bei weitem geringste Problem.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um tiefe Schatten der Vergangenheit, Familiengeheimnisse, über die niemals gesprochen wird und die dadurch auch die Gegenwart belasten, zusammen mit traumatischen Kindheitserfahrungen. Themen sind Krankheit, Konflikte und die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen.  

Charaktere

Jesko ist Modedesigner, er fühlt sich in Röcken am wohlsten und bevor ihn seine Krankheit aus der Bahn werfen kann, hat dies längst seine Familie getan. Auch Seneca hilft da nicht immer. Beinahe abgeklärt beobachtet und kommentiert er spöttisch-ironisch-böse und immer punktgenau die Menschen in und außerhalb der Familienvilla, die er Festung nennt. Eine Figur, die man von der ersten Zeile an ins Leser*innenherz schließt.

Handlung und Schreibstil

Jesko berichtet als Ich-Erzähler über die Ereignisse dieser Tage, gibt manchen Personen im familiären Kreis eigene Namen, die er aus den für ihn sichtbaren Eigenschaften ableitet. Rückblicke in Form eigener Erinnerungen und aus den Erzählungen anderer ergänzen und füllen die zunächst diffuse, mit offenen Fragen gefüllte Gegenwart mit Erklärungen. Zusätzliche Spannung ergibt sich aus der Frage, wer diese Renate und ihr Sohn sind, von denen die stark verwirrte Mutter immer wieder faselt. Der Klappentext lässt eine nachdenkliche, traurige Geschichte erwarten, doch die Sprache des Autors, seine einmalige Art, seine Figuren auszuwählen und dann zu erzählen, auf einem schmalen Grat zwischen sarkastisch, sehr böse und sehr liebevoll, machen diesen Roman definitiv zu einem Leseerlebnis.

Fazit

Eine zerrüttete Familie, konsequent dirigiert vom starken Willen des Vaters. Das hohe öffentliche Ansehen der erfolgreichen Unternehmerdynastie muss um jeden Preis gewahrt werden. Wie passt der todkranke zweitälteste Sohn, der sich längst aus allen Zwängen befreit hat, in dieses Bild? Der Autor lässt uns an einer bitterbösen und dennoch überaus positiven, mit feinem Humor erzählten Geschichte teilhaben, einem einfühlsam und facettenreich gemalten Bild unserer Zeit.

Das Glück der kalten Jahre – Martyna Bunda

AutorMartyna Bunda
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 29. September 2019
FormatGebundene Ausgabe
Seiten317
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBernhard Hartmann
ISBN-13978-3518428870

„Drei Schwestern, aber ohne die Blautöne, ohne den See, den Himmel und die mal aus dem Wasser, mal aus den Wolken springenden Fische, ohne die seltsam fahlen Blumensträuße und den Namen Astrida. Ohne all die frappanten und schönen Details. Mithin kein bisschen so wie im Leben.“ (Zitat Seite 317)

Inhalt

Es ist ein solides Haus, das erste gemauerte Haus in Dziewcza Góra, einem Dorf im polnischen Teil von Pommern, das Rozela 1932 für sich und ihre drei Töchter baut. Es wird zum Zentrum der Familie, Heimat für diese vier Frauen, Rozela, Gerta, Truda und Ilda. Auch wenn das Leben sie teilweise an andere Orte führt, so kehren die drei Schwestern immer wieder in dieses Haus zurück, um schwierige Situationen und Schicksalsschläge im Gleichschritt, Arm in Arm, und mit dem Blick nach vorne zu bewältigen.

Thema und Genre

Ein Familien- und Generationenroman, in dessen Mittelpunkt die Frauen stehen. Es geht um das alltägliche Leben auf dem Land in einem sich ständig wiederholenden Wechsel der Jahreszeiten, durch Kriegs-, Nachkriegsjahre und die nachfolgenden Jahrzehnte. Das Kernthema ist jedoch der Zusammenhalt innerhalb dieser Familie.

Charaktere

Es sind keine starken Frauenfiguren, aber sie sind unbeugsam und hartnäckig. Die Schwestern sind oft unterschiedlicher Meinung, doch wenn es darauf ankommt, halten sie zusammen. So lange sie lebt, hat die Mutter Rozela das letzte Wort im Haus. „In ihrem ganzen Leben war es so wie an diesem Herbsttag. Drei Töchter hatte sie, die liebte sie alle gleich, aber sie konnte sie nicht alle gleich behandeln.“ (Zitat Seite 260)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte dieser Frauen wird abwechselnd erzählt, entweder aus Sicht der Mutter, oder es steht eine der drei Töchter im Mittelpunkt. Manche Ereignisse werden daher aus unterschiedlichen Blickwinkeln geschildert. Die Handlung verläuft großteils chronologisch, greift jedoch auch manchmal vor oder ergänzt mit Rückblenden, und folgt den unterschiedlichen Lebenswegen der Töchter durch Beziehungen, Mutterschaft, Schicksalsschläge und immer wieder auch das kleine Glück guter Zeiten. Wir erleben skurril-humorvolle Episoden, als Ilda im Zorn von ihrem Lebensgefährten, dem Bildhauer, wegläuft, sich auf ihr geliebtes Motorrad schwingt und, ohne es geplant zu haben, ein Motorradrennen gewinnt. Auch Schweine spielen eine Rolle in diesem Roman, wegen der besonderen Kreuzung, die ebenfalls zufällig passiert ist, verboten, dann viele Jahre später als besondere Rasse entdeckt. Die Sprache schildert unaufgeregt, auch die für mich persönlich entbehrlichen Schilderungen des Schlachtens von diversen Tieren erfolgen in einem beinahe zärtlichen Stil.

Fazit

Es ist die Geschichte über den Werdegang von Frauen im einfachen, ländlichen Umfeld im wechselvollen 20. Jahrhundert, ihr Leben zwischen Tradition und dem Wunsch nach mehr Freiheit. Ein interessantes Beispiel polnischer Gegenwartsliteratur.

Zorn und Stille – Sandra Gugić

AutorSandra Gugić
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 5. August 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455009767

„Wenn du mittendrin in einer Geschichte steckst, ist es noch keine Geschichte, mehr ein Getöse, ein Rauschen. Es beginnt erst eine Geschichte zu werden, wenn du sie jemandem erzählst. (Zitat Pos. 49)

Inhalt

Biljana Banadinović, Künstlername Billy Bana, ist vierzig Jahre alt und eine bekannte Fotografin. Im Grunde hasst sie das Reisen, hält es jedoch nie lange an einem Ort aus. Als Kind einer Gastarbeiterfamilie wächst sie in Wien auf. Schon seit sie siebzehn Jahre alt ist, führt sie ihr eigenes Leben und hat wenig Kontakt zu ihrer Familie. Nun ist der Vater verstorben und seine Anordnungen sind klar: er will in seinem alten Heimat in Serbien begraben werden. Die Reise nach Belgrad wird für Billy eine Erinnerungsreise in die Vergangenheit, denn ihr jüngerer Bruder Jonas Neven ist 2003 während einer Reise durch die neuen Länder Jugoslawiens spurlos verschwunden.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um Heimat, Herkunft, Identität, Kindheitserinnerungen, um die Problematik, in mehreren Ländern zu Hause und gerade deshalb nicht wirklich zu Hause zu sein, um Verlust, Trauer, um Familie und Beziehungen und um die Suche nach dem eigenen Platz in diesem Gefüge. Themen sind auch die Situation der frühen Gastarbeiterfamilien und der Zerfall des ehemaligen Staates Jugoslawien.

Charaktere

Als der Vater Billy seine Leica schenkt, weiß sie, dass sie Fotografin werden will. Sie sieht Momente und Situationen immer in Bildern, nicht alle fotografiert sie, sondern speichert sie in ihren Erinnerungen. In einer lockeren Beziehung mit der Galeristin Ira Goldfarb, ist Billy eine rastlos Reisende, die nie sesshaft wurde und von sich selbst vermutet, immer gerade dort glücklich zu sein, wo sie nicht ist. Eine gerade wegen ihrer Ecken und Kanten sehr sympathische Hauptfigur.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in vier großen Abschnitten erzählt, wobei Billy in Teil I und IV die Ich-Erzählerin ist, während in Teil II ihre Mutter Azra im Mittelpunkt steht und in Teil III ihr Vater Sima. Die jeweils aktuellen Handlungsstränge umfassen unterschiedliche Zeitpunkte, Billy 2016 und 2018, Azra 2008 und Sima 1999 und werden nochmals von Erinnerungen unterbrochen und durch Rückblicke ergänzt. Der Prolog am Anfang des Buches schließt den Kreis in die Jetztzeit. Durch diese Schreibweise ergibt sich eine interessante, abwechslungsreiche und vielschichtige Familiengeschichte, die man gespannt miterlebt. Die in diesen Jahren wichtigen Ereignisse und die politischen Hintergründe ergänzen die Handlung. Die Sprache beschreibt lebhaft, schildert einfühlsam, die Bilder vor Billys Augen haben auch wir beim Lesen sofort vor Augen.

Fazit

Ein intensiver, großartig erzählter Roman einer Familie, der die wichtigen Fragen der heutigen Zeit aufgreift, die Träume jeder Generation und die Suche nach dem eigenen Platz im Leben. Ein beeindruckendes Leseerlebnis, das mich begeistert hat.

Die Unschärfe der Welt – Iris Wolff

AutorIris Wolff
Verlag Klett-Cotta
Erscheinungsdatum 22. August 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten216
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608983265

„Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr als ein einzelner Augenblick.“ (Zitat Pos. 390)

Inhalt

Der junge Pfarrer Hannes erhält seine erste eigene Pfarrstelle und so zieht er mit Florentine, seiner Frau, in ein Dorf im Banat, wo auch ihr Sohn Samuel geboren wird. Das Leben der deutschsprachigen Bevölkerung im kommunistisch regierten Rumänien ist schwierig. Misstrauisch wird beobachtet, wer die Gastfreundschaft des Pfarrhofes für Übernachtungen in Anspruch nimmt, besonders, wenn es Reisende aus der DDR sind. Samuel beginnt spät zu sprechen und ist wie seine Mutter nachdenklich und schweigsam, ein Außenseiter. Nika, die sehr jung gestorben ist, war die beste Freundin von Florentine und Nikas Sohn Oswald „Oz“ ist jetzt der beste Freund von Samuel. Nach den Erfahrungen im Militärdienst will Oz Rumänien verlassen, doch er bekommt keine Ausreisegenehmigung. Was bedeuten seine Visionen von Drachen, die ihn immer wieder heimsuchen? Samuel erklärt es ihm, denn er hat die Lösung – Drachen fliegen…

Thema und Genre

In diesem zeitgeschichtlichen Generationenroman geht es um eine Familie und ihre Freunde und Bekannten, um das Leben und Schicksal von vier Generationen in einer politisch unsicheren Zeit, die geprägt ist von der Diktatur und Unterdrückung unter Nicolae Ceaușescu, und von den nachfolgenden Veränderungen. Es geht um Entscheidungen, Zufälle, und um die Liebe, vor allem aber um den  uneingeschränkten Zusammenhalt einer Familie.

Charaktere

Im Mittelpunkt stehen die Mitglieder der Familie um Hannes und Florentine, das sind Karline und Johann, die Eltern von Hannes, sowie Samuel, der Sohn von Hannes und Florentine. Sie alle versuchen auf unterschiedliche Art, das Leben mit allen Höhen und Tiefen zu meistern.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung spielt in Rumänien und Deutschland, in den Jahren vor und nach dem Fall der Berliner Mauer und der Grenzöffnung. Die Ereignisse im Leben der Familienmitglieder werden episodenhaft erzählt. Neue Begegnungen erweitern den Personenkreis, manche bleiben als Freunde, andere entfernen sich wieder, bis sich mit den Jahren und den Erinnerungen langsam der Kreis schließt. Teilweise fühlte die Handlung sich für mich zu bruchstückhaft an, wie Momentaufnahmen, die rasch vorbeiziehen. Was mich jedoch beeindruckte und immer wieder in die Geschichte zurückholte, war die auf eine leise Art sehr intensive, eindringliche Erzählsprache.

Fazit

Ein Roman von der Suche nach dem Platz im Leben, vom Aufbruch und von Menschen, die zwischen Heimat, Freiheit und Fremde entscheiden müssen, bevor die Grenzen fallen und sich der Kreis der Generationen wieder schließt. Ein Zeitbild, eindrücklich erzählt.

Kein Ort ist fern genug – Santiago Amigorena

AutorSantiago Amigorena
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 21. Juli 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten184
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3351038311

„Mit am schlimmsten am Antisemitismus ist die Tatsache, dass die Juden sich zwangsläufig als Juden zu fühlen haben, dass man sie auf eine Identität jenseits ihres Willens festlegt und kurzerhand für sie beschließt, wer sie wirklich sind.“ (Zitat Pos. 572)

Inhalt

1928 verlässt der junge Pole Vicente Rosenberg Europa und wandert nach Argentinien aus. Fünf Jahre später begegnet er Rosita Szapire, die er heiratet. 1940 haben die beiden drei Kinder und Vicente hat gerade sein Möbelhaus eröffnet. Als er im Oktober 1941 einen Brief von seiner Mutter erhält, in dem sie ihm das Leben im Warschauer Ghetto schildert, fühlt er sich schuldig, weil er sie und seinen Bruder nicht schon längst zu sich nach Argentinien geholt hat. Um die Stimme des eigenen Gewissens nicht mehr hören zu müssen, spricht auch er nicht mehr, er zieht sich völlig in sein Schweigen zurück.

Thema und Genre

Das Hauptthema dieses biografischen Romans ist eine andere Perspektive des Völkermordes an den Juden im WKII, es geht um die Schuldgefühle jener, die überlebt haben, ihre Fassungslosigkeit, Scham und Ohnmacht, nichts tun zu können. Weitere Themen sind die Frage nach den eigenen Wurzeln und Identität, und die Familie.

Charaktere

Vicente Rosenberg war der Großvater des Autors, der sich als Pole, später als Argentinier, aber nie als Jude fühlte. Die Ungewissheit über das Schicksal seiner Mutter und seines Bruders stürzen ihn in tiefe Schuldgefühle, gefolgt von Depressionen und Spielsucht. Er hüllt sich buchstäblich in ein umfassendes Schweigen.

Handlung und Schreibstil

Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Jahre 1940 bis 1945, ergänzt durch Rückblenden und sachliche Berichte über geschichtliche Tatsachen. Die bewegende Geschichte beginnt voll Hoffnung, Vicente ist dabei, sich ein erfolgreiches Leben aufzubauen, ist ein romantischer Ehemann und liebevoller Vater. Dies alles ändert sich schlagartig, als die ersten kurzen Meldungen über die Situation der Juden in Europa nach Argentinien gelangen. Nun stehen Vicente und seine Befindlichkeiten und Schuldgefühle  im Mittelpunkt der weiteren Geschichte und die bisherige Intensität der Handlung und die eindrückliche Sprache verlieren etwas von der ursprünglichen Aussagekraft.

Fazit

Eine ergreifende Geschichte, beklemmend in ihrer Hoffnungslosigkeit. Irgendwann jedoch mündest sie in eine ständige Wiederholung der Metaphern und Schilderungen der Befindlichkeit des Hauptprotagonisten, als ob auch dem Autor weitere Worte fehlten. Ich vermute, dass dies Absicht ist, mich konnte es jedoch nicht vollkommen überzeugen.    

Belmonte: Eine deutsch-italienische Familiensaga – Antonia Riepp

AutorAntonia Riepp
Verlag Piper Paperback
Erscheinungsdatum 2. Juni 2020
FormatBroschiert
Seiten496
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492062015

„Ihren ersten Kaffee trank sie auf der Steinbank neben dem Kücheneingang im Schatten des Moro und beobachtete eine Eidechse, die sich auf dem Mäuerchen der Terrasse sonnte.“ (Zitat Pos. 952)

Inhalt

Simona, demnächst dreißig Jahre alt, hat Landschaftsgärtnerei studiert und ist in Kempten im Allgäu freiberuflich tätig. An dem Tag, an dem sie ihren Job verliert, stirbt auch ihre Großmutter, Nonna Franca, bei der sie aufgewachsen ist. Simona wusste nicht, dass Franca ein Haus in der Region Marche in Mittelitalien besaß. Dieses Haus in Belmonte ist das renovierte Elternhaus von Franca, mit einem wunderbaren Obst- und Gemüsegarten, das Simona nun erbt. Da sie ohnedies auch Abstand von ihrem Lebensgefährten Sebastian braucht, fährt sie nach Italien. Als sie mehrere Kuverts ohne Absender erhält, auf denen ihre Großmutter ihr Leben erzählt, beginnt sie nachzuforschen.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses deutsch-italienischen Familienromans stehen die Frauen. Themen sind Familie und ihr Zusammenhalt, die eigenen Wurzeln, Heimat und Auswanderer, eine noch ursprüngliche italienische Gegend und die Liebe. Es geht auch um schwierige Mutter-Tochter-Beziehungen, die sich durch vier Generationen ziehen.

Charaktere

Teresa und ihre Freundin Marta, Franca und ihre Freundin Irma, Marina und ihre Tochter Simona: unterschiedliche Frauen, deren Leben durch vergangene Ereignisse geprägt ist. Es sind einprägsame Figuren und die sympathisch gestalteten Charaktere stehen im Mittelpunkt dieser Geschichte.

Handlung und Schreibstil

Die Familiengeschichte wird in zwei Handlungssträngen erzählt, Simona in der Jetztzeit, unterbrochen immer wieder durch Teresas und Francas Geschichte in der Vergangenheit. Franca erzählt ihr Leben in der Ich-Form. Jedes Kapitel ist mit Zeit- und Namensangabe versehen, das macht die Handlung übersichtlich. Italienisches Flair erhält der Roman vor allem durch die Charaktere und die Schilderungen des Alltags in Belmonte. Denn obwohl auch Landschaft und Natur beschrieben werden, fehlte mir beim Lesen etwas von diesem lebendigen, typischen Italien der Marche, wie ich es kenne. Überraschende Wendungen sorgen für Spannung, allerdings trifft Simona im Laufe der Handlung eine Entscheidung, die für mich im Zusammenhang mit dem Charakter dieser Figur und Details der Ausgangssituation nicht stimmig und nicht nachvollziehbar ist.

Fazit

Ein Generationenroman mit starken Frauen, der von Ereignissen und Schicksalen erzählt, die ein Leben völlig verändern können. Ernste, traurige Erfahrungen wechseln mit humorvollen Episoden ab und Mut, Hoffnung und Liebe machen dieses Buch zu einer angenehmen Lektüre für entspannte Lesestunden.

Margos Töchter – Cora Stephan

AutorCora Stephan
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 7. Mai 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462052275

„Jeder Mensch hat eine Mutter. Jana Seliger hatte zwei. Eine war ihr nah, obwohl sie fern war, von der anderen wusste sie nur, dass sie von zweifelhaftem Charakter sein musste.“ (Zitat Pos. 32)

Inhalt

Jana Seliger ist erst dreizehn Jahre alt, als ihre Ziehmutter Leonore bei einem Autounfall stirbt. Leonore war erst zweiundvierzig Jahre alt und an den angeblichen Selbstmord kann Jana nicht glauben, bis heute nicht. Inzwischen ist Jana erwachsen und selbst Mutter von Zwillingen. Sie weiß inzwischen, dass sie zwei Mütter hat, Leonore und ihre leibliche Mutter, die sie als Kleinkind bei Leonores Eltern Margo und Henri zurückgelassen hat. Im Herbst 2011 wird ihr Antrag auf Einsicht in die Unterlagen des MfS nach neun Jahren überraschend bewilligt. Obwohl Max, ihr Ehemann, ihr rät, die Vergangenheit ruhen zu lassen, will sie endlich wissen, wer ihre wahren Eltern waren und warum ihre Mutter sie damals im Stich gelassen hat, auch wenn Leonore für sie immer die echte Mutter bleiben wird.

Thema und Genre

Dieser zeitgeschichtliche Familien- und Generationenroman beginnt mit Leonores Jugend in der Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre und führt den Leser durch die Zeit des geteilten Deutschland und endet im Jahr 2012. Es geht um Republikflucht und um politische Überzeugungen auf beiden Seiten der Mauer, die auch nach dem Mauerfall fortbestehen. Es geht um Opfer, Familiengeheimnisse und um die Liebe.

Charaktere

Die Frauen der Familie Seliger, Margo, Leonore und Jana sind starke Frauen, doch die unangepasste Leonore, rebellisch und neugierig, prägt die Geschichte der Familie besonders. Auf einem Jugendlager in der DDR trifft sie die selbstbewusste Clara, von der sie sich verstanden fühlt. Längst erwachsen, stehen die beiden Frauen einander wieder gegenüber und Leonore trifft eine Entscheidung, die ihr Leben völlig verändert. Alle Romanfiguren bleiben stimmig und ihre Beweggründe sind nachvollziehbar.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin beschreibt die Zeit eindrücklich, in lebendigen Farben, und macht so das Buch zu einer auch zeitgeschichtlich interessanten, spannenden Lektüre, sei es, weil man diese Zeit selbst erlebt hat, aber sicher auch für jüngere Lesergruppen, die hier in Romanform einen vielschichtigen Einblick in das Leben einzelner Menschen in diesen prägenden Jahren erhalten.

Die Handlung wird in mehreren Erzählsträngen abwechselnd erzählt. In Teil I stehen abwechselnd Jana in der Jetztzeit im Mittelpunkt und Leonore in den Jahren 1964 bis 1991, in Teil II wird Claras Geschichte erzählt und Teil III verbindet alle Schicksale. Rückblenden ergänzen die Geschehnisse und bieten auch einige Überraschungen. Ein Personenverzeichnis am Ende des Buches erleichtert den Überblick. Die Sprache schildert einfühlsam und intensiv.

Fazit

Ein zeitgeschichtlicher Generationenroman, ein fesselndes, lebendiges Bild der prägenden Jahre des Aufbruchs, aber auch des Spannungsfeldes zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland. Die vielschichtige, spannende Familiengeschichte mit starken, beeindruckenden Charakteren garantiert Lesevergnügen, das nachhallt.

Die Seebadvilla – Kathleen Freitag

AutorKathleen Freitag
Verlag HarperCollins
Erscheinungsdatum 24. März 2020
FormatBroschiert
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3959673921

„Tatsächlich glich ihre Familiengeschichte einem Puzzle, bei dem sie nur die Randstücke zusammensetzen konnte.“ (Zitat Pos. 186)

Inhalt

1992 führt Henriette (Henni) Faber seit über fünfunddreißig Jahren ein erfolgreiches Modeatelier in München. Ihre Tochter Caroline hilft ihr beim bevorstehenden Umzug in ein günstigeres Geschäftslokal. Dabei entdeckt sie eine alte Fotografie und das Schreiben eines Anwaltsbüros aus Greifswald, in dem es um die mögliche Rückübertragung einer Villa auf der Insel Usedom geht. Doch ihre Mutter will damit nichts zu tun haben, will nicht einmal darüber reden. Caroline aber will die Wahrheit wissen und besucht zuerst ihre Großmutter Grete in Berlin, anschließend fährt sie auf die Insel Usedom. Zu viele offene Fragen warten auf Antworten.

Thema und Genre

Dieser Familien- und Generationenroman spielt in den Nachkriegsjahren und nach der Wende. Es geht um die DDR, um die Aktion Rose, um Schweigen, um zu vergessen. Ein Thema sind auch die Liebe, Hoffnung und Mut zum Neubeginn.

Charaktere

Grete, Henni und Caroline, drei unterschiedliche Generationen einer Familie, aber jede ist auf ihre Art eine starke, mutige Frau. Sie alle sind durch Geheimnisse und Verschweigen wichtiger Familienereignisse geprägt. Generell sind die Charaktere dieses Romans klar in „gut“ und „böse“ eingeteilt, es fehlen die menschlichen Graubereiche, die den Figuren mehr Tiefe gegeben hätten.

Handlung und Schreibstil

Die Familiengeschichte wird in zwei Zeitsträngen erzählt, ein Teil der Ereignisse spielt in den Jahren 1952 und 1953, der aktuelle Teil spielt im Jahr 1992. Die einzelnen Hauptprotagonistinnen Grete, ihre beiden Töchter Henni (Henriette)  und Lisbeth, und Henriettes Tochter Caroline stehen abwechselnd im Mittelpunkt eines Kapitels, die Zuordnung erfolgt durch die Jahresangabe und den Namen. Die Handlung ist nachvollziehbar, gut geschildert und ergänzende Beschreibungen des Lebens in Ahlbeck auf der Insel Usedom und der Natur bieten einerseits zeitgeschichtliche Informationen, lassen andererseits Inselfeeling aufkommen. Die Sprache entspricht dem Genre Unterhaltungsroman.

Fazit

Ein Familien- und Generationenroman mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, der auf der Insel Usedom spielt. Eine spannende, interessante Handlung, leicht und unterhaltsam zu lesen, passend für den Strandkorb, Liegestuhl oder das Sofa.

Preiselbeertage – Stina Lund

AutorStina Lund
Verlag Rowohlt Taschenbuch
Erscheinungsdatum 22. September 2017
FormatBroschiert
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3499291449

„In Schweden fühle ich mich als Deutsche und in Deutschland fühle ich mich als Schwedin. Ich möchte endlich wissen, wohin ich gehöre.“ (Zitat Seite 143)

Inhalt

Als Jörg Bentheim, anerkannt für seine Reportagen und Fotografien, überraschend stirbt, vererbt er seinen beiden Töchtern Ariane und Jolante ein Manuskript mit dem letzten Wunsch, sie sollen es veröffentlichen. Laut Verleger handelt es sich um autobiografische Aufzeichnungen über die DDR von 1986 bis 1989. Doch diese sind nirgendwo zu finden und ihre Mutter Ina wiederholt immer wieder: „es gibt kein Manuskript“.

Während Arianes Eltern und Jolante seit der Wende in Småland leben, lebt die dreißigjährige Journalistin Ariane seit elf Jahren in Leipzig, wo auch ihre Großeltern wohnen. Doch nun zieht sie zurück nach Schweden, um herauszufinden, worum es bei diesem Manuskript geht. Warum schweigt ihre Mutter so verbissen auf alle ihre Fragen?

Thema und Genre

In diesem Familienroman geht es um die problematische politische Situation in der DDR als Auslöser für Handlungen und Geheimnisse, die das Leben aller Beteiligten verändern. Ein wichtiges Thema ist die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern und natürlich geht es auch um die Liebe.

Charaktere

Ariane würde das Verhältnis zu ihrer Mutter Ina als sehr gut, aber etwas distanziert bezeichnen, denn Ina neigt dazu, in entscheidenden Momenten zu schweigen und das Thema zu wechseln. Auch Ariane vermeidet Auseinandersetzungen, geht ihnen aus dem Weg und schweigt lieber. Sie selbst fühlt sich mit ihren dreißig immer noch als Suchende, weiß nicht genau, was sie vom Leben will, bevor sie sich entscheidet, in Schweden einen Neubeginn zu wagen. Im Gegensatz zu ihr ist Jolante offen, fröhlich und unkompliziert.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung wird in zwei Zeitsträngen erzählt, die einander abwechseln. Die personale Erzählform stellt in der Jetztzeit Ariane in den Mittelpunkt, in der Vergangenheit Ina. Zeitangaben über den Kapiteln erleichtern die Zuordnung. So erfährt der Leser langsam, was wirklich geschehen ist, wobei es einige Überraschungen gibt. Dies macht die Geschichte spannend. Lebhafte Schilderungen der Landschaft und des Lebens in Småland ergänzen die Handlung.

Fazit

Ein spannender, unterhaltsamer Frauenroman, in dessen Mittelpunkt alte Familiengeheimnisse und Konflikte stehen.

Dieser weite Weg – Isabel Allende

AutorIsabel Allende
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 27. Juli 2019
FormatGebundene Ausgabe
Seiten381
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518428801

„Aber es war nicht nur ein Scherz gewesen, es war auch die Angst vor der gespaltenen Liebe, vor der Trennung, davor, fern von ihren Lieben zu leben und zu sterben.“ (Zitat Seite 279)

Inhalt

Guillem und Victor Dalmau sind Brüder. Beide stehen im spanischen Bürgerkrieg ab 1936 auf der Seite der Miliztruppen der demokratisch gewählten Regierung, Guillem als Soldat und Victor als angehender Arzt. Ihre Gegner sind die rechtsgerichteten Nationalisten um General Franco. Guillem ist mit der begabten Pianistin Roser Bruguera verlobt und als er im Kampf stirbt, ist Roser bereits schwanger. Victor flieht mit Roser aus dem belagerten Barcelona nach Frankreich, wo er sie heiratet, damit er sie und ihren Sohn Marcel als Angehörige mit nach Chile nehmen kann. Pablo Neruda macht dies mit seinem Flüchtlingsschiff Winnipeg möglich, das am 4. August 1939 für mehr als 2000 spanische Flüchtlinge zum Schiff der Hoffnung wird. Chile ist ein ideales Land für einen Neubeginn, denn es bietet Chancen für alle. Doch dann ändert sich die politische Landschaft in Chile …

Thema und Genre

In diesem epischen Generationenroman geht es um politische Diktaturen, Krieg, Unterdrückung und Flucht. Die Geschichte handelt aber auch von Idealismus, Mut, Treue, Freundschaft, Hoffnung  und Chancen auf Neubeginn, die das Leben immer wieder bietet. Wichtige Themen sind Heimat und Zugehörigkeit, ihre Charaktere vergessen die spanischen Wurzeln nicht. Dieses Buch ein Roman, doch die zeitgeschichtlichen Fakten und bekannten Personen sind real.

Charaktere

Victor ist Arzt aus Überzeugung, die Erlebnisse als junger Arzt im Studium während des Bürgerkrieges prägen sein weiteres Leben. In Chile gehören Roser und er als Einwanderer nicht zur Oberschicht, doch dort sieht sich der sozialistisch-demokratische Victor ohnedies nicht, er sieht die Armut in Chile und schaut nicht weg, sondern hilft. Roser und Victor verbindet eine tiefe Freundschaft und Vertrautheit. Auch der bekannte Dichter und Politiker Pablo Neruda spielt im Leben von Victor und Roser eine wichtige Rolle.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin ist eine wunderbare Erzählerin, die ihre Geschichten so in das Zeitgeschehen einbindet, dass sich ein stimmiges, interessantes Ganzes ergibt. Die wechselhafte Zeit der Umstürze, in welcher dieser Roman spielt, ist an sich schon spannend zu verfolgen, sodass die Handlung ein packendes Leseabenteuer ergibt. Man merkt, dass die Autorin auch ihre fiktiven Charaktere ins Herz geschlossen hat, detailliert und stimmig nimmt sie sich Zeit für jede einzelne Protagonistin, für jeden einzelnen Protagonisten, ihre Handlungen, Entscheidungen und Gefühle. Sprachlich beeindruckend, hat mich dieses Buch sofort in seinen Bann gezogen und nicht mehr losgelassen, bis ich die letzten Seite gelesen hatte. Es sind ernste Themen und Konflikte, dennoch ist eine positive Geschichte, in der immer auch Hoffnung und Liebe mitklingen.  

Fazit

Ein epischer Generationenroman, facettenreich, interessant und spannend. Ein sehr genau recherchiertes Zeitbild des spanischen Bürgerkrieges und der Machtübernahme von General Franco, sowie später der Umstürze in Chile. Sprachlich großartig erzählt, ist dieser Roman Garant für intensive Lesestunden, von denen man jede Minute genießt.

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