Zwei Wochen am Meer – R. C. Sherriff

AutorR. C. Sherriff
VerlagUnionsverlag
Datum13. Juni 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
Übersetzung, NachwortKarl-Heinz Ott
ISBN-13978-3293006041

„Sie hätten nicht weiterhin Jahr für Jahr mühsam versuchen können, die verglimmenden Funken der Kindheit neu zu entfachen. Was ihnen aber bleiben würde, waren die Erinnerungen – auch daran, wie wundervoll alles zu Ende ging.“ (Zitat 288)

Inhalt

Mr und Mrs Stevens sind seit zwanzig Jahren verheiratet und ebenso lange, seit ihren Flitterwochen, verbringen sie ihre Ferien am Meer, in dem Ferienort Bognor, in der Pension Seaview. Wie jedes Jahr erstellt Mr Stevens schon lange im Voraus die Marschordnung und am Abend vor der Abreise erfährt jedes Familienmitglied die eigenen Aufgaben, die noch zu erledigen sind. Doch nicht nur die Reise selbst plant Mr Stevens genau, sondern auch die Aktivitäten während dieser zwei Wochen und er denkt schon jetzt daran, sie sehr die Familie, das sind Mr und Mrs Stevens und die Kinder Mary, zwanzig Jahre alt, der siebzehnjährige Dick und Ernie, zehn Jahre alt, diese unbeschwerten Ferien genießen wird, vom ersten Blick auf das Meer bis zum letzten Abend. Egal, was hinter einem lag, was vor einem, während dieser vierzehn Tage am Meer kümmert das niemanden. Es werden gemeinsame Familienerinnerungen gesammelt.

Thema und Genre

Dieser Roman schildert vierzehn besondere Tage im Leben einer englischen Durchschnittsfamilie in bescheidenen finanziellen Verhältnissen, der Vater ist Büroangestellter. Es geht um vierzehn Ferientage am Meer in den späten 1920er Jahren.

Charactere

Im Zentrum der Geschichte stehen fünf Figuren, Mr Stevens, seine Frau und seine drei Kinder. Eine Familie, die am liebsten unter sich bleibt, zu Hause im kleinen Haus mit Garten, und auch während der Ferien in dem Strandabschnitt vor der Badehütte, die sie gemietet haben. Jede der Figuren hat ihre Eigenheiten, Hoffnungen und Träume. Auch Objekte werden zu Protagonisten, der Zug, die Lokomotive, der kleine Koffer mit den immer gleichen Aufklebern der Pension Seaview, das Meer, der Badeort Bognor, der wie ein Mensch erwacht.

Erzählform und Sprache

Der auktoriale Erzähler lässt uns an den Gedanken und Gefühlen seiner Figuren teilhaben, er schildert uns das beschauliche, beinahe biedermeierliche Leben dieser Familie, der besonders durch den alles entscheidenden und genau vorausplanenden Vater und Ehemann gewisse Grenzen gesetzt werden. Dennoch nützen sie alle diese vierzehn unbeschwerten Ferientage auch, um in Ruhe und alleine über sich, ihre Erinnerungen und eine mögliche Zukunft nachzudenken. Es sind keine Geschichte von großen, aufregenden Ereignissen, sondern von den einfachen Ferienfreuden wie Baden im Meer, Spiele am Strand, gemeinsame Mahlzeiten und Abendspaziergänge auf der Promenade. Die Erzählsprache des Schriftstellers, der Theaterstücke und dann in Hollywood Drehbücher verfasst hat, lässt viele der geschilderten Szenen und Gedankenwelten seiner Figuren wie die Bilder eines Films ablaufen, was uns sofort an die englische See versetzt.

Fazit

Es ist ein Sommerroman über unbeschwerte Ferientage, Sonne, Sand und Meer, über die Glücksmomente abseits des Alltags und gleichzeitig ein authentisches Bild der englischen Seebäderkultur der damaligen Zeit.

Der Anfang vom Ende – Mark Aldanow

AutorMark Aldanow
VerlagRowohlt Verlag
Datum13. Juni 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten688
SpracheDeutsch
VorwortSergej Lebedew
NachwortAndreas Weihe
ÜbersetzungAndreas Weihe
ISBN-13978-3498003357

„Zu allen Zeiten haben die moralischen und politischen Bankrotteure verkündet, dass es nicht ihre Schuld war, wenn ihr Experiment schiefging, dass ihnen die Zukunft gehört, dass die Nachwelt ihnen recht geben, das die Geschichte ihr Urteil noch sprechen wird.“ (Zitat Seite 313)

Inhalt

Drei Herren im fortgeschrittenen Alter reisen gemeinsam in einem internationalen Botschaftswaggon mit der Bahn von Moskau nach Paris. Allerdings liegen unterschiedliche Aufgaben vor ihnen. Der Ökonom und Diplomat Kangarow-Moskowski blickt auf eine Parteikarriere in diversen politischen Konstellationen zurück. Nun wurde er endlich in den  diplomatischen Dienst berufen und tritt in einer kleinen Monarchie den Posten als bevollmächtigter Gesandter an. Der ebenfalls mit einem Diplomatenpass mitreisende Agent, Spion, Revolutionär Wislicenus kann den Botschafter nicht ausstehen, doch in den kommenden Jahren treffen sie bei gesellschaftlichen Gelegenheiten immer wieder aufeinander. Was die beiden Herren mit dem dritten Mitreisenden gemeinsam haben, dem erfahrenen Militärexperten Konstantin Alexandrowitsch Tamarin, der dienstlich nach Paris reist, ist das Wissen, dass ein neuer Krieg knapp bevorsteht, dazu die innere Sorge, dass die stalinistischen Säuberungen in der Heimat auch sie treffen könnten und eine heimliche oder weniger heimliche Schwärmerei für die junge Botschaftssekretärin Nadeschda Iwanowna. Der bekannte, früher sehr erfolgreiche französische Schriftsteller Louis Etienne Vermandois steht ideologisch dem Kommunismus nahe, brilliert bei den Abendgesellschaften als literarisch gebildeter, sprachgewandter Redner und hält seine Zuhörer generell für dumm und ungebildet. Er schreibt gerade an einem geplanten Roman über das antike Griechenland, während sein Sekretär Alvera heimlich eine Waffe kauft und den perfekt nach Dostojewski inszenierten Mord plant. Sie alle drehen sich in diesen prägenden Jahren wie ein Karussell im Kreis. Sich ihren persönlichen Zweifeln an früheren Überzeugungen und ihrem Platz in der aktuellen politischen Lage stellend, klammern sie sich fest, hoffend, nicht zu stürzen.

Thema und Genre

Dieser Roman ist ein eindrückliches, vielschichtiges Zeitbild der späten 1930er Jahre, ein sozialkritischer, politischer Gesellschaftsroman mit überlegt und gekonnt gewählten Figuren, die nachvollziehbar für die jeweilige Meinung und das entsprechende Verhalten stehen und die Darstellung einer Vielfalt von essentiellen Themen ermöglichen. Es geht besonders um die Darstellung der unsicheren politischen Situation dieser Jahre, Russland unter Stalins Diktatur, Deutschland unter dem Führer Adolf Hitler und seinen Nationalsozialisten, Spanien im Bürgerkrieg. Auch die Literatur ist ein wichtiges Thema.

Charactere

Es sind Figuren zwischen Hoffnung und Resignation, in ihren Ansichten und Bewertung des eigenen Verhaltens im großen weltpolitischen Zusammenhang rückblickend zerrissen und zweifelnd. „Wieder überkamen ihn die alten, inzwischen fast schon vertrauten schwermütigen Gedanken, dass alles umsonst gewesen war, dass das ganze Leben ein Irrtum war, dass von den früheren Überzeugungen fast nichts mehr übrig war, bei niemandem.“ (Zitat Seite 312)

Erzählform und Sprache

Ort der Handlung ist überwiegend die Stadt Paris in den späten 1930er Jahren. Die Handlung als Ganzes wird fortlaufend geschildert, wobei auch Zeiträume ereignislos übersprungen werden, dies aber für den gesamten Figurenkreis. Doch obwohl die Ereignisse im Leben der einzelnen Protagonisten chronologisch erzählt werden, besteht dieser Roman aus aneinander gereihten Episoden, Teilchen, die sich nicht unbedingt zusammenzufügen, sondern die Zerrissenheit dieser Jahre zeigen. Sie bleiben es Bruchstücke, die dennoch einem gemeinsamen Spannungsbogen folgen. Die Geschichte um Alvera, dem jungen Sekretär des Schriftstellers Vermandois, und den von ihm geplanten, perfekten, skrupellosen Mord nach literarischem Vorbild, wechselt zeitlich mit den andren Handlungssträngen ab, ist jedoch eine eigenständige, in sich abgeschlossene Erzählung.

Fazit

Es sind die langen inneren Monologe der einzelnen Figuren, ihre unterschiedlichen Bewertungen der politischen Situation, aber auch die intensive Hinterfragung des eigenen Lebens, sowie die literarischen und philosophischen Aussagen, die diesen Roman so interessant, spannend und lesenswert machen. Denn hier handelt es sich um ein Zeit- und Gesellschaftsbild direkt aus den 1930er Jahren, mit authentischen Beobachtungen und Aussagen, und nicht um den Bericht von heutigen Historikern oder Politwissenschaftlern. Was Mark Aldanow damals nicht ahnen konnte ist, wie sehr sich alles gerade jetzt, etwa neunzig Jahre später, wiederholt.

Das Haus bei den fünf Weiden – Liz Balfour

AutorLiz Balfour
VerlagHeyne Verlag
Datum11. Januar 2016
AusgabeKindle
Seiten304 (Taschenbuch)
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3453471269

„Er sagte mal: ‚Diese ganzen alten Geschichten, ich weiß nicht, ob sie erzählt oder vergessen gehören. Sollen das die Menschen entscheiden, die nach mir kommen.‘“ (Zitat Seite 12)

Inhalt

Hanna, fünfunddreißig Jahre alt, ist eine erfolgreiche Wirtschaftsanwältin in London, doch im Moment beurlaubt. Auch ihre Beziehung ist gerade gescheitert, also sagt sie zu, für ihre Mutter den Nachlass des kürzlich verstorbenen Dr. Thomas Oliver zu sichten und zu bewerten. Im Gegensatz zum gepflegt-verwilderten Garten sind die Zimmer in dem alten Landsitz im County Cork in einem extrem ordentlichen Zustand, allerdings reihen sich an allen Wänden Regale mit Büchern, alten Zeitungen, Magazinen, Notizheften, alles genau archiviert. Als Hanna die persönlichen Aufzeichnungen des Verstorbenen entdeckt, taucht sie tief in die wechselvolle Geschichte Irlands ein und erkennt Zusammenhänge, die bis in die Gegenwart reichen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht um die Geschichte Irlands von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an bis heute, um Familie, Politik, Gesellschaft und natürlich auch um die Liebe.

Charactere

Die Charaktere handeln nachvollziehbar, sind gut beschrieben, auch wenn Hanna im persönlichen Bereich teilweise etwas naiv agiert, gemessen an ihren Alter und ihren Erfahrungen.

Erzählform und Sprache

Die Handlung findet auf zwei unterschiedlichen Zeitebenen statt und wird in zwei Erzählsträngen geschildert.  Beide Handlungsstränge verlaufen in sich chronologisch und wechseln einander ab. Die aktuelle Handlung stellt Hanna in den Mittelpunkt der personalen Erzählform, die Geschichte in der Vergangenheit ist in der Ich-Form geschrieben, da es sich um die Aufzeichnungen von Dr. Thomas Oliver handelt. Dies macht das Lesen abwechslungsreich und interessant. Die Sprache entspricht dem Genre Unterhaltungsliteratur.

Fazit

Angenehm und unterhaltsam zu lesen, die perfekte Wochenend- und Ferienlektüre zum Entspannen und Abschalten.

A Thousand Days in Venice: An Unexpected Romance – Marlena De Blasi

AutorMarlena De Blasi
VerlagAlgonquin Books
Datum11. Juni 2013
AusgabeTaschenbuch
Seiten256
SpracheEnglisch
ISBN-13978-1616202811

„It was as though Venice was more than a place. It was as though Venice was a person, someone familiar but not familiar at all, someone who caught me off guard.” (Zitat Seite 79)

Inhalt

Auch wenn Venedig sofort eine besondere Faszination auf Marlena ausübt, ist die amerikanische Chefköchin und Food-Journalistin nur eine von vielen Touristinnen. Das denkt sie zumindest an diesem 6. November 1993. Doch weniger als ein Jahr später hat die geschiedene Mutter von zwei erwachsenen Kindern ihr Haus in den USA verkauft, ihre gesicherte Existenz aufgegeben, und ist mit dem Venezianer Fernando verheiratet, lebt mit ihm in seiner Wohnung auf dem Lido di Venezia. Gleichzeitig mit dem Erkunden einer ihr, abgesehen von Lebensmittel-affinen Ausdrücken, fremden Sprache, macht sie sich daran, ihren Ehemann Fernando, den Lido, und dann auch Venedig zu erkunden, immer begleitet von ihrer Begeisterung für frische Lebensmittel vom Markt und genussvolles Kochen in einer Küche fernab von den Standards, die ihr in Amerika zur Verfügung standen.

Thema und Genre

Dieser biografische Roman erzählt von einer romantischen Liebe am Beginn der zweiten Lebenshälfte und einem spontanen, sehr mutigen Neubeginn. Natürlich geht es auch um den besonderen Zauber und Charme der Stadt Venedig, um die Menschen, die dort seit Generationen leben, und immer wieder um genussvolles Essen.

Charactere

Marlena ist eine selbstständige Frau, als alleinerziehende Mutter daran gewöhnt, ihre Probleme selbst zu regeln. Fernando lebte bisher ein wenig aufregendes Single-Leben als Bankangestellter, doch als typischer Italiener sieht er es als seine Aufgabe, nun alles für seine Frau zu regeln, manchmal auch gegen ihre Wünsche. “The stranger“, so nennt Marlena ihren Fernando, denn sie wissen kaum mehr voneinander, als dass sie die Liebe ihres Lebens gefunden haben.

Erzählform und Sprache

Marlena de Blasi ist die Ich-Erzählerin dieser Geschichte, die ihre persönlichen Erinnerungen, Erlebnisse und Eindrücke mit uns teilt. Es handelt sich um einen biografischen Unterhaltungsroman, charmant, humorvoll und locker erzählt. Dennoch ist es kein romantisch-verklärtes Liebesmärchen, offen schreibt sie über ihre Probleme, mit denen sie besonders in den ersten Monaten, aber auch danach immer wieder konfrontiert ist. Am Ende der Geschichte finden wir einige ihrer Lieblingsrezepte und Tipps für Venedig-Besuche, acht Punkte „How to Fall in Love in Venice“, und die Adressen ihrer Lieblingsrestaurants, Bars und Geschäfte.

Fazit

Hier schreibt jemand, der Venedig inzwischen wirklich kennt, über den großen Obst-, Gemüse-, Fisch-Markt bei der Rialto-Brücke, versteckte Ecken, kleine Lokale, und über Menschen, die, zunächst verschlossen gegenüber dieser etwas exzentrischen Fremden, bald zu Freunden werden. Eine unterhaltsame Romanbiografie, die ich in der englischen Originalfassung mit Vergnügen gelesen habe.

Mann vom Meer: Thomas Mann und die Liebe seines Lebens – Volker Weidermann

AutorVolker Weidermann
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 7. Juni 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462002317

„Die Größe, die Bedeutung und die lang währende Kraft und Wirkungsmacht von Thomas Manns Werk besteht darin, dass er einerseits schonungslos und radikal immer wieder sich  selbst preisgab. Und – noch wichtiger – dass dieses Selbst auf, ja, magische Weise mit seiner Zeit, mit den Menschen seiner Zeit, der Politik, der Gesellschaft, den Ängsten, den Hoffnungen der Gegenwart verbunden war.“ (Zitat Seite 141)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist eine ungewöhnliche, sehr gut gelungene Mischung. Ein narratives, kreatives Sachbuch, welches die Geschichte des Lebens von Thomas Mann neu erzählt, ausgehend von seiner engen, sehnsuchtsvollen Bindung und Liebe zum Meer, welche sich durch sein Leben und seine Werke zieht.

Umsetzung

Ihre frühen Kindheitsjahre verbrachte die Mutter von Thomas Mann in Brasilien, in einem Haus direkt am Meer. Für Thomas Mann, der in Lübeck aufwächst, wird das Meer zum Sehnsuchtsort, einerseits Begriff von endloser Weite  und Freiheit, andererseits Sinnbild für einen geheimnisvollen Sog in die ebenfalls endlose Tiefe.

In vielen Textbeispielen aus Thomas Manns Werken folgt Volker Weidermann dem Menschen Thomas Mann, der die Vorbilder für seine Romanfiguren vor allem in sich selbst findet, aber auch in den Menschen in seinem Umfeld, beginnend mit dem großen Roman seiner Familie, den Buddenbrooks. „Er war ein Seelenkenner, nicht nur seiner selbst. Sondern auch ein Seelenkenner der Welt, die ihn umgab.“ (Zitat Seite 141)

„Mann vom Meer“ ist keine verklärte oder verklärende Biografie des berühmten deutschen Schriftstellers und Nobelpreisträgers, sondern es zeigt einen lebenslang mit seinen Gefühlen ringenden Menschen, der sich selbst und sein Leben in seinen Romanen schonungslos offenlegt, den Ehemann und Familienvater, an dessen Seite es niemand leicht hat, der seine Frau Katia liebt, sich aber auch immer wieder in junge Männer verliebt. Volker Weidermann schildert offen, aber nicht wertend, die sich mit den Jahren und Erfahrungen stark verändernden politischen Überzeugungen von Thomas Mann, vom patriotischen Optimisten zum überzeugten Demokraten. Im Nachwort geht es um Thomas Manns Tochter Elisabeth Mann Borgese, eine beeindruckende, selbstbewusste Frau, eine Wissenschaftlerin mit Ansichten, Ideen und Anliegen, die ihrer Zeit weit voraus waren und bis heute zeitlos aktuell sind. Mit einer ausführlichen Bibliographie schließt das Buch.

Fazit

Diese Geschichte vom Mann vom Meer birgt eine Fülle an neuem oder ergänzendem Wissen, nicht nur für interessierte Lesende, die  Thomas Mann bisher vielleicht von der Schullektüre her kennen, sondern auch für Menschen, die sich schon lange und intensiv mit Thomas Mann und seinem Werk beschäftigt haben. Die Sprache sorgt für Lesevergnügen und das Buch selbst schlägt auch nach der Lektüre Wellen, die einen langen, stetigen Sog entwickeln und dazu anregen, die Romane von Thomas Mann nun wieder, oder aber auch zum ersten Mal, zu lesen.

Ulrich Greiners Leseverführer – Ulrich Greiner

AutorUlrich Greiner
Verlag C. H. Beck
Erscheinungsdatum 18. Oktober 2005
FormatGebundene Ausgabe
Seiten215
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3406536441

„Um Romane soll es im Folgenden hauptsächlich gehen, um erzählende Literatur und um die besten Wege dorthin. Den einen und einzigen Weg gibt es nicht, denn letztlich geht jeder Leser einen anderen.“ (Zitat Seite 10)

Thema und Inhalt

„Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur“ nennt Ulrich Greiner sein unterhaltsames Buch, in dem er seine persönlichen Leseerfahrungen mit uns teilt. Es sind Fragen, die sich Lesende manchmal stellen, die keine Literaturprofis wie Germanisten oder Bibliothekare sind.

Umsetzung

In neun Kapiteln schreibt Ulrich Greiner über Themen wie die Frage, warum wir lesen, wie viel man gelesen haben muss, über Fiktion und möglichen Realitätsbezug, über literarische Helden, über Erzählperspektiven, über Anfänge und ungewöhnliche Romane, die ihren eigenen Regeln folgen. An das Ende der einzelnen Kapitel, mit Ausnahme des zehnten Kapitels, setzt der Autor einen eigenen Abschnitt, den der Pause nennt, in welcher er das jeweilige Thema aus einer anderen Sicht, jeweils beginnend mit einer Frage, beleuchtet. Viele erklärende Beispiele, kurze Ausschnitte aus Werken, zeitlich gesehen, von Wolfram von Eschenbach bis Juli Zeh, aus deutschsprachiger und fremdsprachiger Literatur, ergänzen die jeweiligen Themen. Dem zehnten Kapitel, in welchem einige der besprochenen Bücher zusammenfassend unterschiedlichen Kategorien und zusätzlich drei Schwierigkeitsgraden zugeordnet werden, folgt ein Anhang mit Internet-Adressen zum Thema und einer alphabetisch nach dem Namen der Autoren geordneten Liste der Autoren und Werke.

Fazit

Ein unterhaltsam geschriebener Streifzug durch die Welt der erzählenden Literatur und des Lesens derselben.

Kamnik – Felix Kucher

AutorFelix Kucher
VerlagPicus Verlag
Datum26. Februar 2018
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3711720580

„Er hat Deutsch gesprochen. Ich habe versucht, Spanisch mit ihm zu reden, aber ich habe dann gemerkt, dass er mich nicht verstanden hat.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Anton Lipic wächst Anfang des 20. Jahrhunderts als jüngerer Sohn einer armen Bauernfamilie in Podgora auf, ein Dorf im slowenischsprachigen Südkärnten. Als er am 30. Oktober 1925 die Baustelle in Tirol verlässt, wo er als Bauarbeiter gearbeitet hat, weiß er, dass er im folgenden Frühjahr nicht zurückkehren wird. Ende Februar 1926 ist es so weit, er tritt als Auswanderer seine Reise nach Buenos Aires an. Er hatte es sich einfacher vorgestellt, in Argentinien Arbeit zu finden, doch er arbeitet hart und geht seinen Weg. August Kamnik, ebenfalls aus Kärnten, allerdings aus dem deutschsprachigen Teil, kommt erst 1945 nach Argentinien. Als Techniker hat er keine Probleme, in Buenos Aires Arbeit zu finden. Zwei sehr unterschiedliche Lebensläufe, und doch gibt es eine Verbindung.

Thema und Genre

Dieser Roman beginnt mit der Situation der Kärntner Slowenen, die Volksabstimmung 1920 und weiterhin hoffnungslose Armut der einfachen Bauernfamilien in den Jahren danach, die Zeit des Nationalsozialismus. Themen sind Familie, Sprache, Heimat, Identität. Vor allem jedoch geht es um das Leben der Auswanderer, die rasch aus ihren Zukunftsträumen erwachen und sich der Realität stellen müssen.

Charactere

Sobald Anton eine Chance sieht, nach Argentinien auszuwandern, lernt er Spanisch. Nach Europa will er nie mehr zurückkehren. Erst als er Kamnik kennenlernt, muss er wieder Deutsch sprechen, denn Kamnik spricht noch kaum Spanisch. Die Sprache eint und trennt, ein wichtiges Symbol in dieser Geschichte.

Erzählform und Sprache

Die Erzählform ist personal, verfolgt und schildert so die unterschiedlichen Lebenswege der beiden Hauptprotagonisten, lässt uns an ihren Gedanken, Verhaltensweisen und Entscheidungen teilhaben.  So wissen wir von Beginn der Geschichte an mehr, als Anton und Kamnik, vermuten rasch die Zusammenhänge. Gerade dieses Wissen macht die Geschichte spannend. Die Erzählsprache ist klar, ruhig, schildert anschaulich und eindrücklich, fügt die Handlung nachvollziehbar in den realen geschichtlichen Kontext ein.

Fazit

Eine eindringliche, sehr kluge und vielschichtige Geschichte mit zeitlos aktuellen Themen.

Über die Schwalbe – Stephen Moss

AutorStephen Moss
Verlag DuMont Buchverlag Köln
Erscheinungsdatum 12. März 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinnenMarion Herbert, Annika Klapper
ISBN-13978-3832180058

„Nicht jeder verknüpft den Wechsel der Jahreszeiten mit der Schwalbe, doch ich weiß, jene nervöse Vorfreude, die mich alljährlich erfasst, erfüllt auch Millionen andere Menschen.“ (Zitat Seite 211)

Thema und Inhalt

Der englische Naturforscher und Autor Stephen Moss folgt den Schwalben, in diesem Fall der Hirundo Rustica, der Rauchschwalbe, durch das Jahr. Der englische Originaltitel „The Swallow. A Biography“ drückt dies wesentlich besser aus, als der deutschsprachige Titel. Seine eigenen Beobachtungen und sein Fachwissen, er folgt der Reise der Schwalben bis nach Südafrika, ergänzt er mit Auszügen aus wissenschaftlichen Fachartikeln und literarischen Texten aus allen Epochen, von Aristoteles bis zu modernen Songtexten.

Gestaltung

In einem Prolog wird der Weg beschrieben, den eine Schwalbe im Lauf eines Jahres zurücklegt, von Südafrika über Nordafrika nach Europa und wieder zurück. Im ersten Kapitel erfahren wir Wissenswertes über diesen besonderen Zugvogel, Inspiration auch für viele Mythen, Aberglaube und Geschichten. Dann folgen vier Kapitel mit den detaillierten Schilderungen und Fakten über das Verhalten der Schwalben in den einzelnen Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Zahlreiche Abbildungen in Farbe ergänzen die Texte und am Ende des Buches findet sich das entsprechende Abbildungsverzeichnis.

Fazit

Ich habe dieses Buch über diese einzigartigen Vögel und ihre unglaubliche Reise, die sie jedes Jahr im Frühjahr und Herbst antreten, im Garten sitzend gelesen, während ich die Schwalben beobachtet habe, ihren rasanten Flug bei der Insektenjagd, ihre Flugkünste bei der Rückkehr zu den Nestern, wo die Jungen auf Futter warten. Allerdings liegen die Nester  oben an unseren Hauswänden, unterhalb der Dachvorsprünge, denn es sind Mehlschwalben. Mit dem Autor teile ich das Warten und die Freude, wenn die Schwalben wieder bei uns einziehen und die leise Wehmut, wenn sie etwa Anfang September plötzlich fort sind. Eine interessante, unterhaltsame Lektüre, nicht nur für Schwalbenfreunde, und sicher auch ein willkommenes Geschenk.

Der letzte Granatapfel – Bachtyar Ali

AutorBachtyar Ali
VerlagUnionsverlag
Datum3. April 2017
AusgabeTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinUte Cantera-Lang
ÜbersetzerRawezh Salim
ISBN-13978-3293207691

„In jener Nacht, als ich nun wider Erwarten zurückkehrte, wusste ich nicht, wo mein Saryasi sich befand. Ich wusste noch nicht, dass wir zwei uns in einer anderen Art von Wüste verlieren würden. In einer Wüste, die weder meine war noch seine.“ (Zitat Seite 15)

Inhalt

„Was immer bleiben wird: Ein Mann kommt aus der Wüste und verirrt sich auf einem Schiff voll mit Flüchtlingen auf dem Meer.“ (Zitat Seite 342) Dieser Mann heißt Muzafari Subdham und war ein bekanntes Mitglied der Peschmerga, als er in Gefangenschaft geriet. Einundzwanzig Jahre lang lebte er in einem einsamen Gefängnis mitten in der Wüste und mit den Jahren wurden alle seine Erinnerungen zu Sand, nur eine blieb, die Erinnerung an seinen Sohn Saryasi Subdhan, der damals erst einige Tage alt war. Als Muzafari freigelassen wird, macht er sich auf die Suche nach seinem verschollenen Sohn. Von Geheimnis zu Geheimnis, von Geschichte zu Geschichte führt ihn seine Reise durch ein Land, das sich in diesen langen Jahren völlig verändert hat und ihm fremd geworden ist.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen zwei Granatapfelbäume, die alle Figuren der Geschichte miteinander verbinden, und drei Granatäpfel aus Glas. Ein Thema ist die Suche in vielen Facetten, die Suche nach Liebe, Freiheit, Freundschaft, nach den eigenen Zielen und Träumen, und die Suche eines Vaters nach seinem Sohn. Es geht um das Schicksal der Menschen in einem von Bruderkriegen, Aufständen und Gewalt beherrschten Land. Es sind vor allem die Kinder und die jungen Menschen, denen Kriege die Träume und die Zukunft nehmen. „Ich war aus der Vergangenheit gekommen und nun verbunden mit allen, die keine Zukunft hatten.“ (Zitat Seite 177)

Charactere

Muzafari Subdham könnte nach seiner Gefangenschaft ein freies, zurückgezogenes Leben führen, doch die Frage, was in jener Nacht vor einundzwanzig Jahren wirklich geschehen ist, treibt ihn an, er muss seinen Sohn finden. Immer wieder trifft er auf seiner Suche Menschen, die ihm Schritt für Schritt weiterhelfen, die ihm jenen Teil der Ereignisse schildern, den sie kennen. Der Autor entwickelt seine Figuren einfühlsam, mit viel Empathie begründet er ihre Stärken und Schwächen, die Motive für ihr Verhalten.

Erzählform und Sprache

Muzafari Subdham erzählt diese Geschichte während der Tage und Nächte, die er mit Flüchtlingen in einem Boot auf dem Mittelmeer verbringt. Es sind viele verschiedene Geschichten und Einzelschicksale, die zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten stattfinden, die schließlich doch alle eine miteinander verschlungene Einheit bilden. „Ist nicht jede Geschichte ein kleiner Bach, der in einen See fließt und am Ende als Fluss mit Tausenden anderer Geschichten in den Ozean mündet.“ (Zitat Seite 277) Die Erzählsprache des Autors ist tief beeindruckend, ausdrucksstark und bildintensiv.

Fazit

Es ist eine Geschichte voll Poesie, Symbolen, Mythenmotiven und der Magie orientalischer Märchen. Doch so wie der magische Granatapfelbaum gleichzeitig auf dem Boden des Reiches der Realität und des Reiches der Träume steht, so erzählt auch hier dieselbe Geschichte von der grausamen Realität der Kriege und der Schicksale der davon betroffenen Menschen. Das macht diesen eindringlichen Roman zeitlos aktuell in einer Zeit, wo die Politik und die Medien begonnen haben, Kriege gegeneinander abzuwägen, und die Nähe zu Europa die Wichtigkeit bestimmt. Eine Geschichte gegen das Vergessen, gegen das Wegschauen, die Geschichte einer Suche, ergreifend schön und unendlich traurig zugleich.

Wiedersehen in Howards End – E.M. Forster

AutorE.M. Forster
VerlagFISCHER Taschenbuch
Datum1. Juli 2005
AusgabeTaschenbuch
Seiten410
SpracheDeutsch
ÜbersetzungEgon Pöllinger
ISBN-13978-3596158980

„Aber willst du mich denn nicht eben mal kurz zu diesem Howards-Haus lassen, damit ich dir die ganzen Unannehmlichkeiten erspare? Ich werde mich auch wirklich nicht einmischen, aber ich weiß doch nun mal so genau, worauf ihr Schlegels Wert legt, daß mir schon ein kurzer Blick genügen wird.“ (Zitat Seite 14)

Inhalt

Die Schwestern Margaret und Helen Schlegel aus London lernen während einer Deutschlandreise die Familie Wilcox kennen, die ebenfalls in England lebt. Trotz der unterschiedlichen Lebensweisen und Ansichten entwickeln sich zwischen der jungen Margaret und der älteren Ruth Wilcox Vertrauen und Freundschaft. Als sich Helen einige Monate später bei einem Besuch in Howards End, einem kleinen Landhaus der Familie Wilcox, spontan in Paul Wilcox verliebt, den jüngsten Sohn, führt dies zu einigen Missverständnissen und Unstimmigkeiten, und die Beziehung zwischen den beiden Familien scheint beendet. Doch dann kreuzen sich die Wege der Schwestern Schlegel und der Familie Wilcox wieder. Die Familie Wilcox hat in London eine Stadtwohnung gemietet, die zufällig genau gegenüber dem Wohnsitz der Schlegels liegt. Als Ruth nach kurzer Krankheit stirbt, hinterlässt sie Howards End, das ihr gehört, überraschend Margaret, und damit nehmen weitere Ereignisse und Konflikte ihren Lauf.

Thema und Genre

Dieser 1910 erschienene Roman, heute ein moderner Klassiker, verbindet bewusst die traditionelle englische Erzählweise des 19. Jahrhunderts, mit der damals neuen, auf die Bewusstseinsströme der unterschiedlichen Figuren basierende Erzählform des frühen 20. Jahrhunderts.

Charactere

Margaret und Helen, sind moderne, eigenständige, durch ererbtes Vermögen auch finanziell unabhängige junge Frauen. Sie bewegen sich in Künstler- und Diskussionskreisen, engagieren sich für Frauenrechte und ihre Ansichten sind sehr fortschrittlich. Auch die Familie Wilcox ist sehr vermögend, doch ihr Reichtum beruht auf der erfolgreichen Geschäftstätigkeit von Henry Wilcox, Ruths Ehemann. Hier geht es um Gewinn, Ertrag und kompromissloses Handeln, Werte wie Kultur und Gefühle hält Henry für entbehrlich. Diesen beiden Familien der Oberschicht stellt der Autor den jungen Leonard Bast gegenüber, ein kleiner Angestellter mit einem Einkommen knapp über der Armutsgrenze. Bemüht, sich durch Literatur und Kunst weiterzubilden, lebt er in steter Sorge vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und damit drohender Armut.

Erzählform und Sprache

Bereits im ersten Satz „Man kann eigentlich ebensogut auch gleich mit Helens Briefen an ihre Schwester beginnen.“ (Zitat Seite 5), zeigt sich der auktoriale Erzähler, der sich mit eigenen Gedanken in die Handlung einmischt und der seine Figuren auch manchmal vor der Meinung der Lesenden in Schutz nimmt. Die Handlung verläuft chronologisch, ereignislose Zeiträume werden mit einer kurzen Bemerkung übersprungen. Spannung erhält die Geschichte zunächst durch das Verhalten und die Ansichten der sehr unterschiedlichen Figuren, wobei der Spannungsbogen stetig anwächst. Schilderungen von Natur, Landschaft und Wetter in allen Schattierungen ergänzen oft die Gefühlswelt der Figuren, begleiten mit ihrer Symbolik die Ereignisse, und zeigen andererseits ein lebhaftes Bild Englands am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Fazit

Diese Rezension fasst meine persönliche Meinung und Eindrücke zusammen, denn zu zeitlos erfolgreichen Romanen wie diesem gibt es eine Fülle von Abhandlungen und Rezensionen von versierten, literaturwissenschaftlich ausgebildeten Menschen. Für mich war dieser moderne Klassiker ein entspanntes, angenehmes und durch die Themenvielfalt auch sehr interessantes Lesevergnügen.

Perwanas Abend – Bachtyar Ali

AutorBachtyar Ali
Verlag Unionsverlag
Erscheinungsdatum 14. Februar 2022
FormatTaschenbuch
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzungUte Cantera-Lang
Rawezh Salim
ISBN-13978-3293209312

„Ich wollte zu einer Realität vordringen, in der Gott und die Schmetterlinge sich versöhnlich und friedfertig begegnen. In der sie sich verstehen und achten.“ (Zitat Seite 266)

Inhalt

Klein-Khandan wächst in einer Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen und der religiösen Fanatiker auf, die streng über die genaue Befolgung der Sitten und Vorschriften wachen. Immer mehr Frauen und Männer verlassen die Heimat und vor allem junge Menschen gehen fort, auf der Suche nach einem Leben in Freiheit und Liebe. Klein-Khandans Kindheit ist abrupt zu Ende, als auch ihre Schwester Perwana verschwindet. Klein-Khandan wird in eine strenge Religionsschule, das Haus der Reue, gebracht, um hinter hohen Mauern und verschlossenen Toren für das Vergehen ihrer Schwester Buße zu tun. Noch ist sie zu jung, um alle Zusammenhänge zu verstehen, aber einige Jahre später will sie die Geschichte ihrer Schwester Perwana erzählen, damit diese nicht vergessen wird. Zuerst jedoch muss sie die Wahrheit finden, um die Ereignisse niederschreiben zu können.

Thema und Genre

In diesem kurdisch-irakischen Roman geht es um religiösen Fanatismus, Politik und die Suche von jungen Menschen nach einem freien Leben nach ihren eigenen Wünschen.

Charaktere

Klein-Khandan will die Geschichte aufschreiben, weil ein Buch etwas für die Ewigkeit schafft, während ihre Freundin Fatana eine begeisterte Geschichtenerzählerin ist. „Wenn du ein Ereignis spontan erzählst, kannst du es nach deinem Geschmack gestalten, ohne Spuren zu hinterlassen.“ (Zitat Seite 265) Die Mädchen lernen einander im Haus der Reue kennen, unterstützen einander und beide geben niemals auf.

Erzählform und Sprache

Die Ich-Erzählerinnen der Geschichte sind Klein-Khandan, die jüngere Schwester von Perwana, und Midiya, die Schwester von Fatana, die viele Eindrücke und Erlebnisse in ihren Heften festhält. So entsteht aus anfangs unterschiedlichen Erzählsträngen mit unterschiedlichen Figuren, Episoden, Ereignissen, langsam eine dicht gewebte Geschichte, deren Teile sich schließlich zu einem Ganzen vereinen. Kann man menschliche Grausamkeit und tiefes Unrecht in einer poetischen und manchmal magischen Sprache erzählen? Bachtyar Ali kann das, in einer eindrücklichen Mischung zwischen der bildintensiven Farbigkeit von orientalischen Märchen und den beklemmend realistischen Schilderungen der allgegenwärtigen Unterdrückung und Verfolgung von Menschen, besonders von Mädchen und Frauen, die einfach nur ein freies Leben führen wollen. Schmetterlinge als Symbol für Liebe, Freiheit, Hoffnung, aber auch gefährdete Zartheit, wirbeln durch die gesamte Geschichte.

Fazit

Diese Geschichte von Perwana, drei Freunden, Klein-Khandan und ihre Freundinnen wird in einer poetischen Sprache geschrieben, die reich an Bildern und Symbolik ist, und gleichzeitig von brisanter, realistischer Dringlichkeit. Den Übersetzenden ist es gelungen, den Zauber dieser Erzähl- und Ausdrucksform auch in die deutsche Sprache zu übertragen.

Mrs Dalloway – Virginia Woolf

AutorVirginia Woolf
Verlag Penguin Classics
Erscheinungsdatum 7 June 2018
FormatPaperback
Seiten192
SpracheEnglish
ISBN-13978-0241341117

„She felt very young; at the same time unspeakably aged. She sliced like a knife through everything; at the same time was outside, looking on. (Zitat Seite 6)

Inhalt

Es ist ein Mittwoch Mitte Juni 1923 und Clarissa Dalloway ist mitten in den Vorbereitungen für die Party, die sie an diesem Abend geben wird. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt sie nun schon in Westminster, sie liebt das Leben in London und ihre Spaziergänge durch die Straßen und Parks, macht Einkäufe, trifft Freunde. Zu Hause überwacht die die Vorbereitungen für den Abend. So vergeht auch dieser Tag, während Big Ben pünktlich jede Stunde schlägt, bis die ersten Gäste eintreffen und das Gerücht, auch der Prime Minister werde kommen, für weitere Aufregung sorgt.

Thema und Genre

Dieser Roman, 1925 erschienen, gilt als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des Romans des 20. Jahrhunderts. In diesen Jahren nach Kriegsende ist die Gesellschaft im Wandel, verunsichert über die Zukunft und während die Gedanken der glamourösen Mrs Dalloway sich um ihre Abendgesellschaft drehen, kämpft der junge Septimus Smith, mit seiner italienischen Ehefrau in bescheidenen Verhältnissen lebend, noch immer gegen sein persönliches Kriegstrauma an.

Charaktere

Mrs Dalloway hält sich selbst nicht für außergewöhnlich, doch sie besitzt eine sehr gute Menschenkenntnis. Sie selbst fühlt sich manchmal beinahe unsichtbar, nicht Clarissa, sondern Mrs Richard Dalloway, Gattin eines Parlamentsabgeordneten. Peter Walsh dagegen, ihr alter Freund, sagt über sie „She came into a room; she stood, as he had often seen her, in a doorway with lots of people round her. But it was Clarissa one remembered.” (Zitat Seite 69)

Erzählform und Sprache

„Mrs Dalloway said she would buy the flowers herself.“ (Zitat Seite 1) Mit diesem ersten Satz beginnt dieser ungewöhnliche Roman, inzwischen ein Klassiker der Moderne. Virginia Woolf gelingt es, innerhalb eines Zeitrahmens von nur einem Tag in London die Erinnerungen von Clarissa Dalloway und die Lebensgeschichten von einer Reihe von weiteren Figuren mit den alltäglichen Ereignissen dieses einen Tages zu vernetzen, zu einer unglaublich dichten, aussagekräftigen Geschichte, die bei aktuellen Autorinnen mindestens dreihundert Seiten füllen würde. Da werden Blumen gekauft, die Fehlzündung eines Automobils lässt kurz alle innehalten, die dies miterleben, ein Flugzeug malt Buchstaben in der Luft, wer kann das Wort erkennen, es werden Einkäufe gemacht, Spaziergänge unternommen, alte Freunde empfangen.

Wer mehr als nur Theorie über die damals neue, moderne Erzähltechnik stream of consciousness (Bewusstseinsstrom)wissen will, wird in diesem Roman fündig. Er ist eines der ersten Beispiele und setzt sie so weit um, dass die Gedankengänge der vielen sehr unterschiedlichen Figuren die eigentliche Handlung der Geschichte bilden. Die Sätze sind eher kurz, aber prägnant und treffend formuliert, Lesevergnügen. Ich habe diesen Roman in der englischen Originalausgabe gelesen.

Fazit

Diese Rezension fasst meine persönliche Meinung und Eindrücke zusammen, denn zu Klassikern wie diesem gibt es eine Fülle von Abhandlungen und Rezensionen von versierten, literaturwissenschaftlich ausgebildeten Menschen. Ich will einfach nur neugierig darauf machen, neben den aktuellen Neuerscheinungen auch immer wieder einen modernen Klassiker zur Hand zu nehmen, denn es lohnt sich.

Das Sommerbuch – Tove Jansson

AutorTove Jansson
Verlag Lübbe
Erscheinungsdatum 13. Juni 2014
FormatGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3785724989

„Es war ein früher, sehr warmer Morgen im Juli, in der Nacht hatte es geregnet. Von dem nackten Fels stieg Dampf auf, das Moos und die Felsspalten waren getränkt von Nässe, und alle Farben leuchteten tiefer.“ (Zitat Seite 23)

Inhalt

Mit den oben zitierten Worten beginnt die Geschichte eines Sommers im einfachen Ferienhaus der Familie auf einer finnischen Insel. Sophia ist sechs Jahre alt und verbringt viel Zeit mit ihrer Großmutter, da ihr Vater meistens beschäftigt ist. Sie erkunden die Natur, beobachten, und erzählen einander Geschichten. Nicht alle Fragen Sophias kann oder will die Großmutter beantworten und nicht immer sind die Antworten so, wie Sophia es sich vorstellt oder wünscht. Wenn die Nächte langsam dunkler und kälter werden, ist es Zeit, das Ferienhaus auf den Winter vorzubereiten und die Insel zu verlassen, bis zum nächsten Frühjahr.

Thema und Genre

In diesem Buch geht es um die Geschichten und Erlebnisse eines Sommers. Themen sind Familie, Kindheit, Jugend und Alter, die Beziehung zwischen Großmutter und Enkelin, das einfache Leben auf einer kleinen Ferieninsel.

Charaktere

Sophia ist eine typische Sechsjährige, wissensdurstig, neugierig, voller Fragen. Gleichzeitig ist sie manchmal ängstlich und trotzig. Wir erfahren zwar, in welchem Jahr die Großmutter geboren wurde, kennen aber ihr genaues Alter nicht. Berechnet man das mögliche Alter einer Frau mit einer sechsjährigen Enkelin, so ist für mich diese Figur nicht authentisch, ihre Beschwerden schildern eine sehr alte Frau.  

Handlung und Schreibstil

Die einzelnen Kapitel sind in sich abgeschlossene Episoden eines Tages oder einer Nacht, daher spielt es keine Rolle, dass sie nicht immer chronologisch verlaufen. So atmet auch die Form der Erzählung die spontane Freiheit von Sommertagen. Die Sprache ist poetisch und schildert neben den alltäglichen Geschichten der beiden Hauptfiguren, Sophia und ihre Großmutter, auch das einfache Inselleben der damaligen Zeit. Die Beschreibung „… darüber flogen Schwalben mit schrillen Schreien, wie Messer fuhren sie durch die Luft.“ (Seite 180) bezieht sich eindeutig auf Mauersegler, doch das liegt wohl nicht an Tove Jansson, sondern sicher an der Übersetzerin.

Fazit

Auf Grund von sehr positiven Besprechungen und Empfehlungen in Literaturzeitschriften wurde ich auf dieses Buch aufmerksam. Obwohl ich die aus den Kindheitserinnerungen der Schriftstellerin entstandenen Geschichten über finnische Inselferien mit Interesse gelesen habe, blieb es für mich Lektüre, die mich nicht tiefer beeindruckt hat.

How to Read Novels Like a Professor – Thomas C Foster

AutorThomas C Foster
Verlag Harper Perennial
Erscheinungsdatum 23. Mai 2017
FormatTaschenbuch
Seiten336
SpracheEnglisch
ISBN-130061340406

“Great novels, certainly, and maybe all novels, change us, but not merely by giving us something special. They also change us because of what we give to them. That’s a winner all the way around.” (Zitat Seite 302)

Thema und Inhalt

Eine unbeschwerte Erkundung der weltweit meistgeliebten literarischen Form, so nennt Thomas C. Foster, Professor für englische Literatur und Schriftsteller, dieses Buch. Besser kann der Inhalt nicht beschrieben werden. Er führt uns durch die Welt der Romane, beginnend bei den ersten Werken des 18. Jahrhunderts, über die für das 19. Jahrhundert typischen Romane, bis zu den vielen unterschiedlichen modernen Formen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Nach einer Einleitung werden in zweiundzwanzig Kapiteln zweiundzwanzig unterschiedlichen Themen, Aspekte und Fragestellungen der literarischen Gattung Roman vertiefend behandelt und mit Beispielen und Zitaten anschaulich erklärt. Das Buch schließt mit einem Fazit und einer Liste mit literaturkritischer Fachliteratur zum Thema Roman, beginnend mit Henry James, The Art of Fiction, aus dem Jahr 1884. Wie Thomas C. Foster selbst erklärt, verzichtet er bewusst auf eine zusätzliche Leseliste der Romane, da das gesamte Buch eine umfassende Lektüreliste ist.

Umsetzung

Ein Thema ist zum Beispiel die Wichtigkeit der ersten Seite eines Romans, wo der Lesende im besten Fall achtzehn unterschiedliche Informationen finden kann, denn die erste Seite muss uns verführen, das Buch lesen zu wollen. Der Blick auf die erste Seite ist in den meisten Fällen die Kaufentscheidung. „Page one is where we have our first meeting of the minds. And where we find out if there will be a page two. (Zitat Seite 34). Gleichzeitig zeigt uns schon die erste Seite, wie der Roman gelesen werden möchte, denn hier finden wir die Erzählfigur, Position, Perspektive, Zeit, Motiv, Form der Sprache. Thomas C. Foster gibt uns eine umfassende Aufstellung der vielen unterschiedlichen Arten, eine Geschichte zu erzählen. Um einen Roman zu verstehen, erklärt er, müssen wir herausfinden, was die Figuren wirklich wollen, was sie antreibt. Natürlich sind auch die verschiedenen Möglichkeiten, eine Geschichte zu beenden, klar und geordnet, oder offen, es dem Lesenden überlassend, eine persönliche Variante zu finden, ein Thema. „Openings tell us where we’re going. Endings tell us where we went.“ (Zitat Seite 277)

Fazit

Auch dieses Buch von Thomas C. Foster ist nur im englischen Original erhältlich, doch es ist keine komplizierte literaturwissenschaftliche Abhandlung. Informativ, interessant und sehr unterhaltsam wurde es bewusst für alle Lesenden geschrieben. Kann man beim Lesen eines Sachbuchs laut lachen? Ja!

Wüste Welt – Wolfgang Popp

AutorWolfgang Popp
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 12. Januar 2016
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903005143

„Es ist mindestens zwei Jahre her, dass ich irgendwie von meinem Bruder gehört habe, und dann plötzlich vor einer Woche dieses geheimnisvolle SMS.“ (Zitat Seite 5)

Inhalt

Seit mehr als zwei Jahren hat der Ich-Erzähler nichts mehr von seinem jüngeren Bruder gehört. Dann plötzlich bekommt er ein SMS von ihm, er will, dass er zu ihm kommt. Die Zahlen im Text des SMS erweisen sich als Flugnummer und kurz darauf sitzt er im Flugzeug nach Agadir. So beginnt eine Reise, die ihn in den Süden von Marokko führt. Immer wieder findet er einen neuen Hinweis und folgt so den Spuren seines Bruders, und immer wieder verpasst er ihn nur knapp. „Wer sich auf meinen Bruder einlässt, weiß nie, woran er ist. Etwas mit ihm zu unternehmen, hat schon immer geheißen, keine Ahnung zu haben, was als nächstes passiert.“ (Zitat Seite 18)

Thema und Genre

Eine Roadnovel nennt Wolfgang Popp seine Geschichte, ein Tagebuch einer Reise durch die Wüste von Marokko. Gleichzeitig finden sich in diesem Roman alle Elemente und die Symbolik einer klassischen Suche.

Charaktere

Der Ich-Erzähler ist Sänger, Bariton in einem kleinen klassischen Ensemble. Sein Bruder ist eineinhalb Jahre jünger, doch übertrifft den älteren in der Schul- und Studienzeit in allen Wissensbereichen, bis der Ich-Erzähler den Kontakt abbricht, weil er kein Leben im Schatten seines genialen Bruders führen will.

Handlung und Schreibstil

Diese Geschichte ist eine ungewöhnliche, überraschende Mischung, ein moderner Roadtrip und eine epische Suche. Er findet Begleiter, die ihn unterstützen, trifft die unterschiedlichsten Menschen, die ihm den jeweils nächsten Hinweis geben. Manchmal fragt er sich, was Realität ist und was Einbildung, und wir fragen uns das ebenfalls. Die Sprache beschreibt bildintensiv und poetisch die typischen kleinen Dörfer und die vielfältigen Eindrücke in der Einsamkeit der Wüste. „Oben setze ich mich auf einen Felsen und sehe der Sonne beim Sinken zu. Sie sieht aus wie ein glutroter Orden, verliehen an die Erde, dafür, dass sie diesen Tag überstanden hat.“ (Zitat Seite 100)

Fazit

Eine beeindruckend dichte Erzählvielfalt auf relativ wenigen Seiten. Eine spannend zu lesende Mischung aus Reisetagebuch, Landschaftsbeschreibung, interessanten Figuren, Symbolen, mystischen Orten und Begegnungen, dazu immer wieder Überraschungen. Ein facettenreiches Lesevergnügen!

Das Café ohne Namen – Robert Seethaler

AutorRobert Seethaler
Verlag Claassen
Erscheinungsdatum 26. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3546100328

„Die Donau hat es schließlich auch schon gegeben, bevor jemand sie Donau genannt hat. Dann bleibt dein Café eben ohne Namen und das ist richtig so.“ (Zitat Seite 25)

Inhalt

Robert Simon ist einunddreißig Jahre alt und arbeitet seit sechs Jahren als Gelegenheitsarbeiter auf dem Wiener Karmelitermarkt. Doch heute ist sein letzter Tag. Immer wieder war er an dem alten Marktcafé vorbeigegangen, das schon länger leer stand, jetzt ist er der neue Pächter. Schon am Tag der Eröffnung füllt sich das Café rasch mit Gästen. Es sind Leute aus dem Viertel, Schichtarbeiter, Angestellte in Hemdsärmeln, die Mädchen aus der Schottenauer Garnfabrik und die Händler vom Markt. Eines Tages bringt der Fleischermeister Berg die arbeitslose Hilfsnäherin Mila in das Café. Mila braucht dringend Arbeit und Simon kann Hilfe brauchen, das Café läuft gut. Es ist ein Treffpunkt der Menschen aus dem Viertel, mit ihren Sorgen, Geschichten aus einem gelebten Leben und mit ihren Träumen. „Simon musste lächeln, wenn er an all die verlorenen Seelen, dachte, die sich jeden Tag in seinem Café zusammenfanden.“ (Zitat Seite 71) So vergehen die Jahre, die Zukunft kommt mit neuen Bauten und einer U-Bahn in Wien an, und irgendwann, nach zehn Jahren, auch im Karmeliterviertel.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben der Menschen in einem typischen Wiener Grätzel. Es ist nicht die große Bühne, auf die wir in diesem Café blicken, und doch nehmen wir Lesenden durch die Gespräche, wenn die Politik und die Neuigkeiten im Café diskutiert werden, auch an der Entwicklung Wiens als aufstrebende, moderne Großstadt teil. Themen sind Einsamkeit, Alter, Verlust, aber auch Freundschaft, Liebe und die Suche nach Geborgenheit und dem kleinen Glück.

Charaktere

Robert Seethaler nimmt seine Figuren direkt aus dem Leben und berichtet einfühlsam über ihre unterschiedlichen Geschichten.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird fortlaufend in einzelnen Episoden erzählt, Kapitel, in denen wechselweise eine oder mehrere der Figuren im Mittelpunkt stehen. Wir nehmen Teil an den Veränderungen in ihrem Leben, denn sie alle verändern sich in diesen zehn Jahren, bemerkt, oder beinahe unbemerkt. Der Schriftsteller ist ein leiser, poetischer Erzähler, sein Blick auf die Dinge des Lebens ist genau beobachtend, er achtet auf die Nuancen des menschlichen Verhaltens und der Gefühle. Mit derselben Genauigkeit schildert er auch eindrücklich das Viertel um den Karmelitermarkt, die Tagesabläufe im Café im Wechsel der Jahreszeiten.

Fazit

Eine wunderbar leise und eindrückliche Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Café in einem typischen Wiener Viertel in der Leopoldstadt steht, und die Menschen, für die es Zuflucht und Heimat ist.

Die Glasschwestern – Franziska Hauser

AutorFranziska Hauser
Verlag Eichborn Verlag
Erscheinungsdatum 28. Februar 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3847900450

„Das Schicksal hat ihnen gleichzeitig denselben Schlag erteilt und gesagt: Seht zu, wie ihr klarkommt, wenn ihr einander nicht helfen könnt.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Dunja und Saphie, neununddreißig Jahre alt, sind Zwillingsschwestern, doch ihr Leben verläuft in unterschiedlichen Bahnen. Dunja war früh Mutter geworden und lebt in der Großstadt, der Sohn studiert bereits, die Tochter bereitet sich auf das Abitur vor, vom Vater ihrer Kinder hat sie sich vor kurzer Zeit endgültig getrennt. Ursprünglich war es Saphie, die möglichst schnell aus dem kleinen Dorf, ehemals DDR, in die Stadt ziehen wollte, doch sie bleibt und leitet gemeinsam mit ihrem Mann ein Hotel. Dann kommt dieser Wintermorgen, Dunjas Ex-Mann stürzt vom Dach und ist tot. Am selben Morgen kippt Saphies Mann tot vom Hometrainer. Nach der Beerdigung bleibt Dunja in Saphies Hotel, entdeckt das Dorf ihrer Kindheit neu. Die Schwestern kommen einander wieder näher, beide sind auf der Suche nach Antworten, wie es nun weitergehen soll. Durch Reporter stoßen sie auf ein Familiengeheimnis, das alle im Dorf schon längst zu kennen schienen, nur Dunja und Saphie nicht. Kann diese Aufarbeitung der Vergangenheit den beiden Frauen helfen, die jeweils für sie selbst passende Zukunft zu finden?

Thema und Genre

In diesem Generationen- und Familienroman geht es um Familienstrukturen und Familienbeziehungen, um ein Familiengeheimnis, Dorfleben, Verlust, Trauer und Neubeginn.

Charaktere

Nach zwanzig Jahren steht Dunja wieder am Beginn eines Lebens, in dem sie im Mittelpunkt steht, das ihr allein gehören wird, denn ihre Kinder wollen eigene Wege gehen, ihr eigenes Leben führen. Sie will nicht mehr Deutsch als Fremdsprache unterrichten, doch was will sie stattdessen? Bisher war es Saphie, die immer die Kontrolle hatte, nach vorne geschaut hat, den Blick auf die Zukunft gerichtet. Doch plötzlich fühlt sie sich in ihrem Dorf fremd.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, wie auch der Übergang der Natur vom Winter in den Frühling und weiter im Jahreslauf. Die kurzen Kapitel tragen jeweils einen Kalenderspruch als Überschrift und berichten abwechselnd, oder auch gleichzeitig, über die das Leben der Hauptfiguren. Handlungsbogen und Spannung ergeben sich nicht aus den Ereignissen, sondern vor allem aus den persönlichen Konflikten und Problemen der einzelnen Figuren, ihren Gedanken, ihrem Verhalten und ihren Entscheidungen. Wiederkehrende Symbole oder auch Metapher, deren Deutung uns Lesenden überlassen bleibt, verdichten die Schilderung der Gefühlswelten, in denen sich die Figuren bewegen. Die Erzählsprache ist angenehm und einfach zu lesen.

Fazit

Dieser Roman lässt mich etwas ratlos zurück. Bis etwa zur Hälfte war es für mich eine überraschende, witzige, ungewöhnliche Geschichte mit vielen aus dem Leben gegriffenen Themen wie Alltagsprobleme von Ehefrauen, Müttern mit Kindern auf dem Weg in die Selbstständigkeit, Spannungen und Geheimnisse innerhalb von Familiengefügen, alle diese Komponenten gekonnt verknüpft. Doch dann flacht die Handlung ab, die Befindlichkeiten der beiden so unterschiedlichen Frauen stehen im Mittelpunkt und damit Selbstzweifel und sich wiederholende Fragen, wobei die Sichtweisen zwischen Dunja und Saphie auch öfter die Seiten wechseln, einander widerspiegeln. Eine komplexe, spannende Grundidee, mit Längen in der Umsetzung.

How to Read Literature Like a Professor – Thomas C Foster

AutorThomas C Foster
Verlag Harper Perennial
Erscheinungsdatum 25. Februar 2014
FormatTaschenbuch
Seiten368
SpracheEnglisch
ISBN-13978-0062301673

“What I’ve learned from all these modern and postmodern works has led me to conclude that it is true of others as well: every work teaches us how to read it as we go along.” (Originalzitat Seite 248)

Thema und Inhalt

Thomas C Foster ist Professor für englische Literatur. Dieses Buch ist eine Art Wegweiser durch die Welt der Literatur und des Lesens. Auf unterhaltsame Art führt er die vielen unterschiedlichen Geschichten, die jemals geschrieben wurden, auf eine ursprüngliche Geschichte zurück, zitiert alte griechische Klassiker, Geschichten aus Religionen und Mythen. Es gibt nur eine einzige Geschichte, erklärt er, die Unterschiede entstehen durch die Art der Schriftsteller und Schriftstellerinnen, sie zu erzählen, und durch uns Lesende, mit welchen Erfahrungswerten wir die Geschichte lesen und für uns selbst auslegen. Diese Ausgabe aus dem Jahr 2014 ist eine überarbeitete Version des 2003 erschienenen Textes, mit neu hinzugefügten Kapiteln und Themen, die sich für Professor Foster aus seinem laufenden Unterricht und den dort gestellten Fragen ergeben haben, sowie zusätzlichen Beispielen aus der aktuellen Gegenwartsliteratur.

Umsetzung

In sechsundzwanzig Kapiteln geht Thomas C. Foster auf die wichtigsten Komponenten einer Geschichte ein, Kapitel siebenundzwanzig ist ein Text, die Kurzgeschichte „The Garden Party“ von Katherine Mansfield, um das nun erworbene Wissen am eigenen Leseverhalten zu testen. Das Buch schließt mit einer Leseliste und einem ausührlichen Index.

In jedem Kapitel geht es um ein bestimmtes Thema, zum Beispiel die Anordnung der einzelnen Figuren, wobei wir hier erkennen, dass es meistens nicht gut ist, direkt neben der Hauptfigur, dem Helden der Geschichte, zu stehen. So lernen wir, zwischen den Zeilen zu lesen, über die Bedeutung nicht nur der einzelnen Figuren nachzudenken und ihren Platz in der Handlung, über die Konflikte und Themen, sondern auch über die Landschaften, das Umfeld, das Wetter, die Jahreszeiten, alle möglichen Formen von Fortbewegung und Reisen und hier sogar auf die jeweilige Richtung zu achten. Dazu kann es sich lohnen, auch Zeichen und Metapher zu hinterfragen. Ungeschulte Hobby-Lesende wie ich denken, zu wenig Erfahrung mit Literatur zu haben, doch Forster bestärkt uns in diesem Buch darin, uns auf all das zu besinnen, was wir aus vergangenen Lektüren wissen, und nicht darauf, was wir nicht wissen. Wichtig ist es, jedes Buch, bildlich gesprochen, zu besitzen, es zu Unserem zu machen, denn jede einzelne Figur, die der Schriftsteller erfindet, wird von uns Lesenden neu erfunden, da wir unsere eigenen Erinnerungen, Erfahrungen und Beobachtungen mit einbringen. „Characters are products of writers‘ imaginations – and readers imaginations.“ (Originalzitat Seite 81)

Fazit

„There comes a point in anyone’s reading where watching for pattern and symbol becomes almost second nature, where words and images start calling out for attention.“ (Originalzitat Seite 304). Dieses vielseitige, interessante, erhellende und unterhaltsame Buch gibt es nur in der englischen Originalsprache, doch es ist sehr angenehm zu lesen und es lohnt sich.

Die Abtrünnigen – Abdulrazak Gurnah

AutorAbdulrazak Gurnah
Verlag Pengiun Verlag
Erscheinungsdatum 26. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzungStefanie Schaffer-de Vries
ISBN-13978-3328602613

„Es ist eine Geschichte darüber, dass eine Geschichte viele Geschichten enthält und dass sie nicht nur uns gehören, sondern Teil der zufälligen Strömungen unserer Zeit sind. Und es ist eine Geschichte darüber, wie wir uns in Geschichten hineinverstricken und für alle Zeit darin gefangen bleiben.“ (Zitat Seite 182)

Inhalt

Ende des 19. Jahrhunderts findet in einer kleinen ostafrikanischen Stadt der Krämer Hassanali eines Tages im Morgengrauen einen stark geschwächten Mann. Martin Pearce ist Engländer und als er später zurückkommt, um sich für seine Rettung zu bedanken, verliebt er sich in Rehana, Hassanalis Schwester. Eine Liebe, die nicht nur ein Skandal, sondern auch streng verboten ist. Mitte des 20. Jahrhunderts verliebt sich der junge Amin in Jamila, einige Jahre älter als er, eine geschiedene Frau, die auf Grund ihrer Unabhängigkeit und ihrer angeblich zweifelhaften Herkunft im Mittelpunkt von Gerüchten steht.  Auch diese Liebe wäre ein Skandal, käme sie an die Öffentlichkeit. Amins Eltern bedrängen ihn wegen der drohenden Schande und der gesellschaftliche Ächtung, die er über die Familie bringen würde. Rashid, Amins jüngerer Bruder, will der Enge der Heimat entfliehen und plant zu dieser Zeit bereits seine Reise nach London, wo er bereits an einer Universität aufgenommen wurde. Trotz der Ablehung und Ausgrenzung, mit der man ihm begegnet, bleibt er nach dem Abschluss seines Studiums in England. Doch die Geschichte von Amin und Jamila beschäftigt ihn auch noch viele Jahre später, und er beginnt mit Nachforschungen.

Thema und Genre

Dieser außergewöhnlich facettenreiche Roman spielt in Ostafrika und England, und ist sowohl ein Familienroman, als auch ein Generationenroman. Themen sind Kolonialismus, Unterdrückung, Ausgrenzung, gesellschaftliche Traditionen, Politik, Heimat und Fremde, Liebe und Trennung.

Charaktere

Es sind unterschiedliche Charaktere und ebenso unterschiedlich ist ihre Art, mit äußeren Zwängen und dem Druck gesellschaftlicher Regeln und Wertvorstellungen umzugehen, und trotz aller Widerstände ihren Platz im Leben zu suchen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung wird in neun Abschnitten erzählt, wobei jeweils eine Person im Mittelpunkt steht, die dem jeweiligen Abschnitt den Titel gibt und wo es vor allem um die jeweilige persönliche Lebenssituation, die Vergangenheit, Erfahrungen und Konflikte geht. Der Autor nimmt sich Zeit und schildert nicht nur die Ereignisse und das Leben der einzelnen Protagonisten, sondern auch das Umfeld, das Alltagsleben der Menschen, die politische Situation dieses Teiles von Ostafrika unter den Engländern, und später während der Umstürze, nachdem Sansabar Ende 1963 unabhängig geworden war. Es ist Rashid, der die Geschichte erzählt, doch er präzisiert: „Es gibt, wie Sie sehen, ein Ich in dieser Geschichte, aber es ist keine Geschichte über mich. Es ist eine Geschichte über uns alle, über Farida und Amin, über unsere Eltern und über Jamila.“ (Zitat Seite 182). So folgen wir fasziniert und gespannt einem Zeitrahmen  etwa einhundert Jahren, pendeln zwischen Afrika und England und sind keine einzige Minute gelangweilt.

Fazit

Abdulrazak Gurnah ist ein leiser, aber eindrücklicher Erzähler, er klagt nicht an, sondern beleuchtet alle Graubereiche der Geschichte und der Menschen, und dies alles in einer wunderbar zu lesenden Erzählsprache.

Die Mutter – Grazia Deledda

AutorGrazie Deledda
Verlag Input Verlag
Erscheinungsdatum 1. Juni 2022
FormatGebundene Ausgabe
IllustratorRalf Plenz
Seiten192
SpracheDeutsch
Übersetzung, VorwortUlrike Lemke
ISBN-13978-3941905535

„Alles sprach zu ihm: der Wind draußen, der ihn an die lange Einsamkeit seiner Jugend erinnerte, und drinnen die traurige Gestalt der Mutter, das Knarren seiner Schritte, sein eigener Schatten.“ (Zitat Seite 49)

Inhalt

Viele Jahre lang hat sie als Dienstmagd gearbeitet, sich nie etwas gegönnt, nur für ihren Sohn Paulo und dessen Ausbildung zum Priester gelebt. Vor sieben Jahren war Paulo dann als neuer Pfarrer in die kleine Gemeinde Aar auf Sardinien gekommen und seine Mutter mit ihm. Seit sieben Jahren lebt sie hier nun glücklich und zufrieden mit Paulo, sorgt für ihn. Doch nun könnten alle ihre Opfer umsonst gewesen sein, denn Paulo hat sich in die junge Witwe Agnes verliebt, ist dabei, sein Gelübde als katholischer Priester zu brechen und sich auch dem Einfluss seiner Mutter zu entziehen. Agnes ist allein, reich und unabhängig und will Paulo überreden, mit ihr zusammen heimlich das Dorf zu verlassen und irgendwo als Mann und Frau zu leben. Noch kam nur seine Mutter hinter sein Geheimnis, doch es ist eine sehr kleine Dorfgemeinschaft und so muss Paulo sich rasch entscheiden.

Thema und Genre

La Madre wurde 1920 veröffentlicht und handelt von dem Leben in einem abgeschiedenen, kleinen Dorf auf Sardinien, von den Menschen und ihren Problemen. Im Mittelpunkt jedoch steht der schwere Gewissenskonflikt eines jungen Priesters zwischen Liebe und Zölibat.

Charaktere

Die beiden Hauptfiguren sind die Mutter, die für ihren Sohn lebt, fürsorglich bis zur emotionalen Umklammerung, durch ihn wird sie als Mutter des Pfarrers endlich in diesem Dorf anerkannt. Paulo will aus genau dieser Enge des Dorflebens fliehen, fühlt sich jedoch seiner Mutter gegenüber wegen ihrer Opfer zur Dankbarkeit verpflichtet. Vor allem jedoch steht er vor einem möglichen Wendepunkt in seinem Leben, er muss sich zwischen der Frau, die er liebt, und seinem Priesteramt mit dem damit untrennbar verbundenen Zölibat entscheiden.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird auf nur 174 Seiten erzählt, doch es ist gerade diese Dichte, die diese Ereignisse von nur wenigen Tagen mit Intensität füllt. Die Schriftstellerin beschreibt lebhaft das Dorfleben der damaligen Zeit. Es sind die Menschen, über die sie schreibt, ihre Gedanken, Gefühlte, ihren tiefen Glauben, aber auch den ebenso präsenten Aberglauben. Daraus ergibt sich der tiefe Konflikt, den ihre Hauptfigur, der junge Priester Paulo, durchlebt. „Er litt, weil der natürliche Zweck des Lebens darin besteht, das Leben fortzusetzen, und er daran gehindert wurde; und diese Verhinderung verstärkte noch den Drang seines Bedürfnisses.“ (Zitat Seite 67)

Am Beginn des Buches steht ein Vorwort der Übersetzerin, am Buchende ein bibliophiler Rückblick mit Fotos auf die Ausgabe aus dem Jahr 1928, auf welcher diese Neuübersetzung basiert.

Fazit

Ralf Plenz hat in seinem Input-Verlag diese Neuübersetzung des alten Textes als Band 19 der „Perlen der Literatur“ des 19. und 20. Jahrhunderts wiederveröffentlicht. Eine sehr schön gestaltete und gebundene Neuausgabe, deren optisches und haptisches Vergnügen das Lesevergnügen der Sprache und der eindrücklichen Geschichte perfekt ergänzt.

1 8 9 10 11 12 44