100 Autorinnen in Porträts: Von Atwood bis Sappho, von Adichie bis Zeh

AutorinnenVerena Auffermann
Julia Encke, Ursula März
Elke Schmitter, Gunhild Kübler
Verlag Piper Taschenbuch
Erscheinungsdatum 31. August 2023
FormatTaschenbuch
Seiten592
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492319485

„Also sagt Rachel Cusk es noch einmal anders, aber genauso unbequem. Schriftsteller sind dazu da, zu irritieren und zu spalten, und nicht, um Dinge zu sagen, die andere gerne hören wollen.“ (Zitat Seite 62, Rachel Cusk von Verena Auffermann)

Thema und Inhalt

Fünf bekannte Journalistinnen und Literaturkritikerinnen stellen in informativen, spannenden Essays einhundert Schriftstellerinnen aus mehr als zweitausendfünfhundert Jahren vor.

Umsetzung

Die Anordnung der einzelnen Artikel in diesem Buch richtet sich nach dem Geburtsjahr der jeweiligen Schriftstellerin und beginnt im Heute mit Leila Slimani, geboren 1981, um mit Sappho, geboren um 617 v.Chr. zu enden. Schon dieser ungewöhnliche Aufbau macht dieses Buch zu einer besonderen Lektüre, da es die Entwicklung der schreibenden Frauen rückwirkend und nachvollziehbar aufzeigt. Auch die internationale Vielfalt der verfügbaren Literatur wird durch diese ausgewählten Porträts sichtbar, wobei der Schwerpunkt auf dem zwanzigsten Jahrhundert liegt. Jeder Beitrag umfasst mehrere Seiten und ist per se ein Essay, da wir neben den Biografien vor allem die besonderen Eigenheiten, den Werdegang, die Konflikte und Erfolge im künstlerischen Wirken jeder der vorgestellten Frauen erfahren, und vor allem die Themen, die sie antreiben bzw. zu ihrer Zeit besonders beschäftigt haben. Durch die fünf unterschiedlichen Verfasserinnen der einzelnen Porträts entsteht auch hier eine lebhafte, ausdrucksstarke sprachliche Vielfalt.

Fazit

Ein breit gefächerter, interessanter Streifzug durch die weibliche Kultur- und Literaturgeschichte. Doch dieses Sachbuch ist wesentlich mehr, diese Auswahl von bekannten und weniger bekannten Schriftstellerinnen bietet eine Fülle von Wissen, sodass wohl auch jede versierte Leserin und jeder versierte Leser noch Neues über Schriftstellerinnen finden wird, von denen man bereits alles zu wissen glaubte. Ein packendes Lesebuch, das man mit Vergnügen von der ersten bis zur letzten Seite liest und das auch die persönliche Wunsch-Leseliste um einige weitere Titel ergänzt.

Österreichischer Buchpreis 2023, Longlist Shortlist Debüt

HerausgeberHauptverband des Österreichischen Buchhandels Wien
Erscheinungs-datum 5. September 2023
FormatBroschüre, e-book
SpracheDeutsch

„Er verfolgt das Ziel, die Qualität und die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur zu würdigen und ihr im deutschsprachigen Raum erhöhte Aufmerksamkeit zu verschaffen.“ (Zitat Pos. 1209)

Thema und Inhalt

Dieser wichtige Preis wurde in Österreich 2016 gestiftet und zum ersten Mal vergeben. 2023 haben 59 Verlage insgesamt 137 Bücher eingereicht. Jedes Jahr wählt eine Expertenjury in einem zweistufigen Wettbewerbsverfahren zunächst zehn Titel für die Longlist. In einem zweiten Durchgang werden aus dieser Liste die Titel für die Shortlist ausgewählt. Gleichzeitig mit der Longlist wird die Shortlist Debütpreis veröffentlicht, welche drei Titel umfasst.

Gestaltung

Die zehn nominierten Titel der Longlist werden in alphabetischer Reihenfolge der Namen der Autoren und Autorinnen mit einer ausführlichen Leseprobe vorgestellt. Die jeweilige Überschrift trägt den Autorennamen, den Titel und die Kategorie. Am Ende der Leseprobe werden diese Angaben wiederholt und mit dem Namen des Verlages, sowie dem Erscheinungsjahr ergänzt. Es folgen die Leseproben der drei Titel der Shortlist Debütpreis. Anschließend an die Leseproben finden sich Informationen über die Autoren und Autorinnen mit Foto, kurzem Werdegang, Veröffentlichungen und Preisen, ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge, gefolgt von den Porträts der Jurymitglieder. Den Abschluss der Broschüre bilden die Daten der Bücher selbst, Coverfoto, Verlag, Anzahl der Seiten und Preis. Auch hier wird die alphabetische Reihenfolge nach Autoren- und Autorinnenname beibehalten, wobei die Werke auch hier nach Longlist 2023 und Shortlist Debüt 2023 getrennt sind.

Fazit

In österreichischen Buchhandlungen liegt die Broschüre in gedruckter Form auf. Ich lebe in Deutschland und bin daher dankbar, dass sie von NetGalley Deutschland in elektronischer Form kostenlos zur Verfügung gestellt wird. In dieser Form habe ich sie gelesen. Es ist ein informativer Überblick über die nominierten Werke, mit ausführlichen Leseproben. Manche der Bücher sind bekannt, finden sich schon auf der deutschen Longlist. Interessant ist der Debütpreis, der in Österreich gleichzeitig mit dem Buchpreis verliehen wird.

Vatermal – Necati Öziri

AutorNecati Öziri
Verlagclaassen Verlag
Datum27. Juli 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3546100618

„Ich dokumentiere mein Verschwinden, und wenn ich mir abends die bunten Graphen anschaue, weil ich vor Angst nicht schlafen kann, bilde ich mir ein, zu verstehen, worauf es hinausläuft.“ (Zitat Pos. 175)

Inhalt

Arda Kaya studiert in Berlin. Doch dann, nach einem Zusammenbruch, die Diagnose lautet Organversagen. Er fährt noch nach Hause, in seine Heimatstadt irgendwo im Ruhrgebiet, damit ihn seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin im Krankenhaus besuchen können. Sein Vater Metin hat die Familie verlassen, bevor er geboren wurde. In den langen Stunden im Krankenzimmer schreibt Arda die Geschichte seines bisherigen Leben auf, als Brief an seinen unbekannten Vater. „Ich werde diese Geschichte aufschreiben, dir und meinen beiden Halbbrüdern. Damit sie wissen, dass sie noch einen Bruder und eine Schwester hatten, damit sie erfahren, wem ihr Vater wie ein Vater war, damit sie schätzen lernen, wie viel Zeit und Liebe sie von dir bekommen.“ (Zitat Pos. 208)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Geschichte einer deutsch-türkischen Familie, die Mutter Ümran ist als kleines Kind nach Deutschland gekommen, ihre Kinder Arda und seine ältere Schwester Aylin sind in Deutschland geboren. Es geht um Söhne, die aus unterschiedlichen Gründen ohne Väter als Vorbild aufwachsen und die als Heranwachsende versuchen, die Rolle der abwesenden Väter einzunehmen, weil es von ihnen erwartet wird. Doch auch die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern ist ein Thema. Weitere Themen sind Freundschaft, Identität, die Suche nach Zugehörigkeit und den Platz im eigenen Leben.

Charactere

Wie Arda aussieht, wissen wir aus seiner eigenen Beschreibung, sein Leben, seine Gedanken, Erfahrungen und Zweifel erfahren wir, als er seine Geschichte niederschreibt. Doch er erzählt nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch die seiner Mutter Ümran, die nie wirklich gefragt worden war, was sie selbst wollte, die dennoch versucht, ihr Leben irgendwie zu meistern und die Geschichte seiner Schwester Aylin, die sich immer um den kleinen Bruder kümmert, bis sie ihren eigenen Weg gehen muss.

Erzählform und Sprache

Arda ist der Ich-Erzähler seiner Geschichte. Chronologisch, jedoch mit Zeitsprüngen, schildert er sein Leben und das seiner Schwester Aylin. Dort, wo Ümran und später auch Aylin ihm jene Ereignisse und Erlebnisse erzählen, die er nicht wissen kann, wird die Erzählform personal. Diese Abwechslung macht die Erzählform interessant, packend und lebhaft. Sie zieht uns als Leser mitten in die Ereignisse, in eine Welt am Rande einer Stadt im Ruhegebiet, deren ehrliche Schilderung durch ihre zornige, manchmal humorvolle Direktheit überzeugt. Auch die Sprache passt sich in den entsprechenden Episoden der Welt der Heranwachsenden an.

Fazit

„Erzählen ist wie Wasser, Metin, einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.“ (Zitat Pos. 784) Dieser eindrückliche Roman mit dem ganzen Spektrum menschlicher Gefühle, Hoffnungen und Schicksale hat den Weg zu uns Lesern gefunden.

Nichts als Himmel – Peter Henisch

AutorPeter Henisch
VerlagResidenz Verlag
Datum14. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten232
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3701717767

„Als ich hier angekommen bin, auf dem Parkplatz vor der Stadtmauer, hat die Luft über dem Asphalt gezittert. Jetzt fallen schon die Blätter von den Platanen.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Paul Spielmann hat nach seiner Scheidung, fünfundfünfzig Jahre alt, auch seine feste Stelle als Lehrer für Mathematik und Musik gekündigt. Schon mehrmals haben ihm seine Therapeutin Julia und deren Ehemann Marco angeboten, in ihrer italienischen Ferienwohnung in San Vito eine Auszeit zu nehmen. Als Pauls Comeback als Liedermacher scheitert, nimmt er das Angebot an. Obwohl er rasch bemerkt, dass es nicht mehr das verträumte San Vito ist, von dem Julia und Marco schwärmen, sondern ein von italienischen Touristen überlaufenes Städtchen, findet er auf der Terrasse über den Dächern Ruhe, beobachtet die Vögel, besonders ein Taubenpaar, und die Wolken. Bis eines Tages Abdallah vom Dach auf die Terrasse springt, auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine Lebenskrise, Stillstand, eine Auszeit, um die Suche nach einer möglichen persönlichen Zukunft. Themen sind der italienische Sommer nach der Pandemie, Freundschaft, der politische Rechtsruck in Italien und das Leben der Flüchtlinge, die über das Meer nach Italien kommen.

Charactere

„Wer bist / DU?, wiederholen sie, wer bist / DU? Wer bist / DU? Ich bin Paul, sage ich, aber sie scheinen mir nicht zu glauben.“ (Zitat Seite 22) Nicht nur die Tauben fragen Paul, wer er ist, auch er selbst stellt sich diese Frage während der Wochen, die er auf dieser Terrasse mit dem Blick über die Dächer in die Weite der Landschaft verbringt.

Erzählform und Sprache

Paul selbst schildert diese Zeit in San Vito als Ich-Erzähler in der Gegenwart, etwa Sommerende, und beginnt chronologisch mit seiner Ankunft Ende Mai. Er lässt uns an seinen Begegnungen mit besonderen Menschen teilhaben, die er in San Vito trifft, und vor allem an seinen genauen Beobachtungen der Natur, die ihn mit immer neuen Facetten erstaunt und fasziniert. Durch seine Gedanken, Sorgen, sein Verhalten und seine Entscheidungen erfahren auch wir immer neue Details über ihn. Die Sprache erzählt leise, einfühlsam, in den Beschreibungen lebhaft und anregend.

Fazit

Eine aktuelle Geschichte über einen Stillstand im Lebenslauf, nachvollziehbar und wohl vielen von uns bekannt, dazu italienisches Lebensgefühl und brisante politische Themen.

Südfall – Florian Knöppler

AutorFlorian Knöppler
VerlagPendragon Verlag
Datum16. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten248
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3865328519

„Er hob den Blick, schaute ein paar Seeschwalben hinterher und versuchte an die Zukunft zu denken, daran, wie es jetzt weiterging. Langsam schälten sich ein paar Überlegungen heraus.“ (Zitat Pos. 121)

Inhalt

Der Engländer Dave Milton ist Tierarzt, doch in diesem Sommer 1944 ist er als Soldat der Air Force im Einsatz. Sein Flugzeug wird über dem norddeutschen Wattenmeer abgeschossen, er kann mit dem Fallschirm abspringen und überlebt. Eine alte Frau, alle nennen sie die Halliggräfin, findet ihn, und er könnte auf ihrem Anwesen auf der abgelegenen Hallig Südfall das absehbare Ende des Krieges abwarten. Doch er will zurück nach Hause zu seiner Frau Claire, zuerst entlang der Küste immer in Richtung Norden bis nach Dänemark, und von dort aus nach England. Die Halliggräfin kennt jemanden nahe der deutsch-dänischen Grenze, der ihm mit seinem Boot helfen könnte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen die Menschen, ihr persönliches Schicksal und ihre Entscheidungen, die sie im Zusammenhang mit Dave, Engländer und somit Feind, treffen müssen, helfen oder melden. Es geht um Mut, Vertrauen, Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen in allen Facetten.

Charactere

Dave könnte sich auf Südfall verstecken, dort in Sicherheit das Kriegsende abwarten. Doch er kann nicht untätig abwarten, er hat keine Geduld, er muss handeln und es zumindest versuchen. Es sind die unterschiedlichen Figuren, die den besonderen Sog dieses Romans ausmachen, ihre persönliche Situation, ihre Probleme und Konflikte, und genau daraus ergeben sich auch die unterschiedlichen Gründe, warum sie Dave auf seiner Flucht helfen.

Erzählform und Sprache

Die Handlung spielt innerhalb eines knappen Zeitraums von wenigen Tagen. Im personalen Mittelpunkt des ersten und des letzten Abschnitts steht Dave. In den vier Abschnitten dazwischen lernen wir jeweils eine eigene, andere Hauptfigur kennen, ihre Gedanken und Verhalten. Auch die zeitliche Abfolge verläuft nicht immer chronologisch, was jedoch in der Kapitelüberschrift zu lesen ist. Die Spannung ergibt sich aus der abenteuerlichen Flucht selbst und der immer neuen Frage, ob und bei wem Dave Hilfe findet. Diese Erzählform ist interessant und ungewöhnlich, dieses gekonnte Verknüpfen und Verändern der Blickwinkel innerhalb einer dennoch klar strukturierten Handlung. Die Sprache überzeugt durch einfühlsame Schilderungen und lebhafte Beschreibungen der Landschaft.

Fazit

Ein faszinierender Roman über eine abenteuerliche Flucht entlang der norddeutschen Küste, in dessen Mittelpunkt jedoch die Begegnungen zwischen sehr unterschiedlichen Menschen stehen, was die Geschichte zu einem beeindruckenden Leseerlebnis macht.

Tasmanien – Paolo Giordano

AutorPaolo Giordano
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum21, August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten335
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinBarbara Kleiner
ISBN-13978-3518431320

„In einem Augenblick kehrte ich allem den Rücken und machte mich mit leichtem Gepäck auf in eine unvorhersehbare Zukunft. Was würde ich dort draußen vorfinden?“ (Zitat Seite 183)

Inhalt

Paolo ist mit Giulio seit der gemeinsamen Zeit ihres Physikstudiums befreundet.  Giulio arbeitet als Physiker an einem Forschungsauftrag in Paris, Paolo wurde Schriftsteller, Journalist, unterrichtet Wissenschaftsjournalismus und lebt in Rom. Im November 2015 ist er Anfang vierzig und nimmt an der Klimakonferenz in Paris teil, wohnt dort bei seinem Freund Giulio, lernt den Klima- und Wolkenforscher Dr. Novelli kennen. Für Paolo ist dies der Beginn einer Rastlosigkeit, eine Zeit vieler Reisen, er beobachtet die Beziehungen in seinem Umfeld, doch entzieht sich seiner eigenen seit jenem Tag im November 2015, wo ihm nach drei Jahren intensiver, aber erfolgloser Versuche klar wird, dass sein Wunsch nach einem gemeinsamen Kind mit seiner Frau Lorenza unerfüllt bleiben wird. Der Klimawandel, die Veränderung der Ökosysteme, der internationale Terrorismus, es sind die großen Zukunftsthemen, die Paolo beschäftigen, doch für ihn endet in dieser Zeit alles bei der Frage, wie seine persönliche Zukunft in dieser Welt aussehen soll.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft brisanten Themen unserer Tage, aber auch um Beziehungen und deren Scheitern, Elternschaft, Glaube, Liebe, Freundschaft.

Charactere

Paolo ist mit seinen Konflikten und Problemen die Hauptfigur, durch seine Freundschaften, in deren Leben und Probleme er Einblick erhält, erweitert sich auch der Kreis der Kernfiguren.

Erzählform und Sprache

Paolo schildert als Ich-Erzähler sein Leben in den Jahren zwischen 2015 und 2022, seine Freundschaften, seine Reisen. Er ist ein genauer Beobachter der Paare in seinem Umfeld und ihrer Beziehungen und ihres Lebens, er verbindet diese Erfahrungen mit seinen weiter zurückliegenden Erinnerungen, seinen Gedanken über die aktuellen Tagesthemen, über die Wissenschaft, aber auch über philosophische Themen wie Glaube, Leben und Tod, Freundschaft. Seine persönliche Suche und Fragestellung nach seinen eigenem Platz im Leben, sein Tasmanien als metaphorisches Symbol für einen möglichst weit von allen Katastrophen entfernten Sehnsuchts- und Rückzugsort zieht sich durch den gesamten Roman. Die Handlung fügt sich aus vielen einzelnen Episoden zusammen.

Fazit

Dieser Roman über die unterschiedlichen Aspekte der Lebenssituation einer Erwachsenengeneration in der Mitte ihres Lebens ist eine komplexe, facettenreiche Suche mit vielen Fragen, eine Bestandsaufnahme mit einer Auswahl an möglichen Antworten, die jedoch vage bleiben.

Deutscher Buchpreis 2023: Die Nominierten

HerausgeberFachmagazin Börsenblatt
Buchpreiswww.deutscher-buchpreis.de
Erscheinungsdatum 24. August 2023
FormatTaschenbuch, e-book
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3-7657-3441-0

„Die nominierten Romane spiegeln das Weltgeschehen wider und laden dazu ein, die eigene Blase zu verlassen – eine Fähigkeit, die vor allem in Krisenzeiten überaus wertvoll ist und uns immer mehr abhandenzukommen droht.“ (Zitat Pos. 24, Vorwort von Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels)

Thema und Inhalt

Das Taschenbuch „Deutscher Buchpreis 2023. Die Nominierten“ stellt die zwanzig Titel vor, welche in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert sind und die Longlist bilden, aus welcher in der Folge die Titel der Shortlist ausgewählt werden, die am 19. September 2023 veröffentlicht wird. Der aus dieser Shortlist ausgewählte Siegertitel wird am 16. Oktober 2023 am Beginn der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Insgesamt waren 196 Romane von 111 Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eingereicht worden.

Umsetzung

Die zwanzig Autoren und Autorinnen werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt, beginnend jeweils mit einem Foto, gefolgt von einem kurzen Lebenslauf und dem künstlerischen Werdegang. Daran schließt eine Beschreibung des Themas des jeweiligen Romans an, gefolgt von einer ausführlichen Leseprobe. Ein Bild der Titelseite mit den Angaben über Verlag, Erscheinungsdatum, Seitenzahl und Preis schließt die jeweilige Präsentation ab.

Fazit

In Buchhandlungen liegt die Broschüre in gedruckter Form auf, doch sie ist nicht in allen Buchhandlungen erhältlich und rasch vergriffen. NetGalley Deutschland stellt die Broschüre in elektronische Form, herausgegeben vom „Börsenblatt“, kostenlos zum Download bereit, in dieser Form habe ich sie gelesen. Es ist ein interessanter, sehr informativer Überblick über die nominierten Romane. Natürlich sind es mehrheitlich Titel, die man aus der Werbung und diversen Besprechungen in den Medien kennt. Auch in diesem Jahr wählte die Jury wieder eine Reihe von Romanen mit autofiktionalen Inhalten aus, ein nunmehr jahrelanger Trend, der mich nicht besonders anspricht. Dennoch konnten mich einige der Leseproben überzeugen und drei der Bücher kamen auf meine Wunschliste.

Der Hund, der nur Englisch sprach – Linus Reichlin

AutorLinus Reichlin
VerlagGaliani Berlin
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ISBN-13‏978-3869712857

„Klar, der Hund war dabei, aber jetzt ist er erstens weg. Und selbst wenn er hier wäre, würde er eisern schweigen. Ja, wenn Hunde sich etwas in den Kopf setzen, die können stur sein, denkt Felix.“ (Zitat Pos. 74)

Inhalt

Es ist eine von diesen heißen Tropennächten in Deutschland, genau genommen die erste im Jahr 2022, als alles damit beginnt, dass der vierundsechzig Jahre alte Felix Sell aus Nostalgiegründen zwei vierundvierzig Jahre alte LSD-Pillen ausprobiert. Damit startet ein Abenteuer, das rasch zu einer Reihe von unvorhersehbaren Ereignissen führt, die Felix völlig überfordern und zu überrollen drohen, wäre da nicht der Hund, der ihm mit Rat und Tat, vor allem mit den Ideen dazu, zur Seite steht. Hobo, ein kleiner Jack-Russell Rüde, der nur eines will, dass Felix ihn vor seinen Entführern in Sicherheit und so rasch als möglich zurück in seine Heimat, nach Naples, Florida, bringt.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine moderne Abenteuergeschichte, philosophisch, menschlich, sehr komisch und manchmal sehr surreal, oder doch real?

Charactere

Felix Sell ist ein geschiedener Landschaftsarchitekt in Pension, und lebt allein ein pragmatisches, ruhiges Leben. Anschaffungen berechnet er auf Grund seines Alters mit einem Preis-Leistung-Lebenserwartungsverhältnis. Er mag Katzen, doch diesen Hundeaugen kann er sich auf die Dauer nicht entziehen. Hobo liebt Leckerli und jagt begeistert Stöckchen nach, er ist ein ganz normaler Hund, mit einer Ausnahme: er spricht Englisch, genau genommen amerikanisches Englisch, und dies wesentlich besser als Felix.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, an den ein Handlungsablauf anschließt, der innerhalb eines knappen Zeitrahmens von wenigen Wochen stattfindet und zu der Situation im Prolog führt. Im personalen Mittelpunkt der Geschichte, deren Erzähler manchmal ins Auktoriale wechselt, steht Felix, da neben den Action-Elementen der Handlung auch seine Gedanken und inneren Monologe eine wichtige Rolle spielen. Denn natürlich beschäftigen Felix die Zweifel, ist der Hund nun real, ist eine andere logische Erklärung möglich, als die, dass es sich um eine Halluzination als Folge der beiden Pillen handelt, im letzteren Fall ein Zustand, der bald vorbeigehen sollte. Doch bis er Klarheit hat, versteckt er sich mit Hobo vor dessen Entführern, nur um sicherzugehen. Die Sprache erhöht das Lesevergnügen, unterhält zusätzlich mit den kleinen Missverständnissen durch den amerikanischen Slang des frechen, temperamentvollen Jack Russell Terriers, der wohl nicht nur für mich die eigentliche Hauptfigur in dieser Geschichte ist.  

Fazit

Der knappe Zeitrahmen, Flucht vor Verfolgern, Konflikte mit der Polizei, sorgen für Spannung, die Geschichte selbst mit vielen skurrilen Szenen für lautes Lachen, der kleine, freche Hund für den Wohlfühlfaktor. Es ist ein schmaler Grad zwischen möglicher, logisch argumentierbarer Realität und phantasievoller Einbildung und dem Autor ist genau dieser geniale Mittelweg gelungen.

Mama Odessa- Maxim Biller

AutorMaxim Biller
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004861

„Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ (Zitat Pos. 55)

Inhalt

1971 durfte die jüdische Familie Grinbaum aus der Sowjetunion ausreisen, doch statt in Tel Aviv, wie sein Vater Gena es sich gewünscht und geplant hatte, landen sie in der Bieberstraße 7 im Hamburger Grindelviertel. Hätte Aljona Grinbaum Jahre später ihren Mann auf einer seiner Reisen nach Israel begleitet, hätte dieser vielleicht die junge Deutsche nicht kennengelernt, wegen der er nun seine Frau verlässt. Mischa Grinbaum, der Sohn, ist noch ein Kind, als sie Odessa verlassen, inzwischen ist er längst erwachsen und Schriftsteller. Die großen Lücken in der Geschichte seiner Familie füllen sich erst langsam, verbinden sich mit seinen plötzlich wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen, als er nach dem Tod seiner Mutter neben den alten Unterlagen und Fotoalben auch das Manuskript für ihr zweites, nicht mehr veröffentlichtes, Buch findet, und ein Bündel Briefe, die sie im Laufe vieler Jahre an ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Generationen- und Familienromans einer russisch-jüdischen Familie steht der Schriftsteller Mischa Grinbaum und natürlich sind Literatur und das Schreiben Themen, doch vor allem geht es um die Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen, um Familiengeheimnisse und der Geschichte der Juden in Russland.

Charactere

Im gedanklichen Hintergrund der Familie immer präsent ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, Aljonas Vater, Mischas Großvater, der in Odessa geblieben ist. Mischa beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller schon in jungen Jahren, während seine Mutter zwar ihr ganzes Leben lang ihre eigenen Erfahrungen als Erzählungen niederschreibt, doch als ihr erstes Buch herauskommt, ist sie weit über sechzig Jahre alt. Sie lieben einander, aber besonders Mischa braucht viel Abstand. Den Zugang zu seiner Mutter findet er, indem er über sie schreibt.

Erzählform und Sprache

Mischa schreibt die Geschichte seiner Familie in der ersten Person, in Kapiteln, doch es gibt keine chronologische, fortlaufende Handlung. Es sind, wie in der persönlichen Erinnerung, Episoden, die je nach Situation und Ereignis auftauchen, und daher auch lebhaft wiederholt zwischen den Zeiten wechseln, von der Gegenwart in unterschiedliche Jahre in der Vergangenheit, und wieder zurück. Erzählungen aus dem Buch der Mutter, jeweils ein eigenes Kapitel, vertiefen mit weiteren Details, die der Ich-Erzähler nicht wissen kann. Dennoch, und hier zeigt sich auch in diesem Roman das besondere Können des Autors, entsteht nie eine Unruhe in den Abläufen, es bleiben am Ende keine offenen Erzählstränge, sondern die Einzelteile füllen die Lücken eines im Hintergrund immer präsenten Gesamtbildes einer Familiengeschichte mit allen Höhen, Tiefen, Konflikten und Geheimnissen. Die Sprache ist einfühlsam, in den Beschreibungen präzise, bunt und lebhaft und man liest dieses Buch mit Vergnügen.

Fazit

Eine beeindruckende, vielseitige Familiengeschichte über den Verlust der Heimat, und die Suche nach dem Platz und Sinn im eigenen Leben, in deren Mittelpunkt eine von Konflikten und dennoch tiefer Zärtlichkeit füreinander geprägte Mutter-Sohn-Beziehung steht.

Jenny Erpenbeck über Christine Lavant – Jenny Erpenbeck

AutorJenny Erpenbeck
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Herausgegeben vonVolker Weidermann
Erscheinungsdatum 17. August 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004687

„Das eigene Leben bewahren, ohne den eigenen Willen aufzugeben, Kompromisse eingehen, die einen nicht die Seele kosten – wie das gelingen kann, und auch, wie manche ihrer Figuren tragisch daran scheitern, hat Christine Lavant in ihren Texten beschrieben.“ (Zitat Pos. 817)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der fünfte Band der Serie „Bücher des Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Es geht um Bücher, welche die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck besonders beeindruckt und geprägt haben. Erpenbeck ist dreißig Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant liest. „Dreißig Jahre alt musste ich werden, bevor ich zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant gelesen habe. Bevor sich mir diese fremde Welt aufgetan hat, die ich nicht kannte und dich im ersten Moment wiedererkannt habe.“ (Zitat Pos. 284) Seither folgt sie den Spuren und dem Leben dieser ungewöhnlichen Frau, der einfachen Strickerin und Schriftstellerin und vertieft die biografischen Geschichten mit den Themen Bücher, Lyrik, das Leben als Schriftstellerin.

Umsetzung

Nach einem kurzen Vorwort von Volker Weidermann beginnt Jenny Erpenbeck ihr Essay mit der Frage, wann der richtige Moment sei, um ein Gedicht zu lesen, gibt sich selbst in Gedanken verschiedene Antworten, die ebenfalls Fragen bleiben. Im zweiten Kapitel schreibt sie, was Christine Lavant in ihren biografischen Notizen über das Lesen von Gedichten geschrieben hat und tritt so mit dieser österreichischen Lyrikerin aus Kärnten in einen inneren Dialog. Diesen führt sie in allen weiteren Kapiteln abwechselnd fort, Jenny Erpenbeck berichtet über ihre Erlebnisse während der fünf Jahre, die sie in Graz gelebt hat und beginnt danach mit der Kindheit von Christine Lavant, mit bürgerlichem Namen Christine Habernig, geb. Thonhauser. Erpenbeck folgt einerseits dem von Selbstzweifeln geprägten Leben von Christine Lavant, sucht in den vielen vorhandenen Aufzeichnungen, besonders Briefen, in den Archiven und Museen nach dem Menschen und der Künstlerin. Besondere Aussagen ergänzt Erpenbeck mit entsprechenden Gedichten von Christine Lavant.

Im Anhang finden sich die Lebensdaten von Christine Lavant und die Erklärungen zu den durchnummerierten Fußnoten.

Fazit

Dieses Buch berichtet über das Leben der österreichischen Schriftstellerin Christine Lavant, deren literarisches Werk in der breiten Öffentlichkeit nicht allzu bekannt ist, und in deren Würdigung seit 2016 ein eigener Literaturpreis, der Christine Lavant Preis, verliehen wird.

Die Wokeness-Illusion – Alexander Marguier, Ben Krischke (Hg.)

HerausgeberAlexander Marguier
HerausgeberBen Krischke
Verlag Verlag Herder
Erscheinungsdatum 13. Februar 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten128
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3451395567

„Bedrückend an diesem Kampf der Identitäten – seien sie ethnischer, geschlechtlicher, religiöser, milieubezogener oder jedweder anderen Art – ist nicht nur die (Selbst-) Viktimisierung ganzer Bevölkerungsschichten, sondern die Unversöhnlichkeit, in der er gerade geführt wird.“ (Zitat Seite 11, Alexander Margulier)

Thema und Inhalt

„Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet“, so lautet der Untertitel dieser Sammlung von neun Essays von neun Autoren, die sich mit den wichtigsten Elementen von Wokeness kritisch auseinandersetzen. Die Themen der einzelnen Beiträge reichen von den Anfängen der Identitätspolitik über woke Wirtschaft, politisch korrekten Konsum, Sprache, bis zur Debatte um die kulturelle Aneignung. Am Ende des Buches werden kurz die einzelnen Autoren vorgestellt.

Umsetzung

Die Beiträge sind in einzelne Kapitel gegliedert, umfassen jeweils etwa zwölf Seiten und ein Quellenverzeichnis. Interessant sind die unterschiedlichen Blickwinkel, mit denen die einzelnen Autoren das jeweils gewählte Thema betrachten, einige gehen weit in die Geschichte zurück und legen so die Wurzeln der Entstehung wichtiger Elemente frei, die von der Wokeness Bewegung unbewusst oder auch bewusst falsch interpretiert und ausgelegt werden. Auch wer zum Beispiel die sprachlichen Diskussionen, die Diskussionen um kulturelle Aneignung und Diversität aktiv mitverfolgt, findet hier bisher noch nicht bekannte Ansätze und neues Wissen. Interessant, weil in den Medien wenig präsent, die Beiträge zur woken Wirtschaft und dem neuen ethischen Konsum, das Phänomen Woke Washing als Entwicklung des seit Jahren bekannten Greenwashing. Besonders eindrücklich bringt folgende Aussage von Ralf Hanselle das Dilemma der neuen Identitätspolitik in seinem Essay zu diesem Thema auf den Punkt: „Und vielleicht gäbe es hinter der eigenen Wunde der Identität etwas Größeres zu entdecken – eine Realität, die ganz unabhängig ist von Identitäten, und einen Universalismus, der weit mehr ist als die Summe einzelner Partikularinteressen. Das Ende unserer Identitätsfixierung könnte auch der Neubeginn der Gesellschaft sein.“ (Zitat Seite 24, Ralf Hanselle)

Fazit

Dieses Buch der Cicero-Redaktion ist ein lesenswerte Sammlung von interessanten, sachlichen Beiträgen von Publizisten und freien Journalisten zu den wichtigsten Elementen der Wokeness, eine Bewegung, die dabei ist, die Gesellschaft zu spalten. „Der woke Blick findet überall neue Symbole, an denen sich allgemeine Empörung entzünden kann. Damit hält er die Protestenergie wach und demonstriert die eigene Macht.“ (Zitat Seite 65, Bernd Stegemann). Ein Buch zum Mitdenken, zum Nachdenken und vielleicht auch zum Überdenken eigener Ansichten.

Die Bücherjägerin – Elisabeth Beer

AutorElisabeth Beer
VerlagDUMONT Buchverlag
Datum1. August 2023
AusgabeKindle Ausgabe
Seiten432 (Print)
SpracheDeutsch
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„Die Sache mit alten Landkarten ist, dass sie einen in die Irre führen. Die Sache mit der Kartografie insgesamt ist, dass sie die Dinge in einem Maßstab darstellt, der natürlich nicht der Realität entspricht.“ (Zitat Pos. 29)

Inhalt

Sarah ist beinahe zehn Jahre alt, ihre Schwester Milena sieben, als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen. Sie wachsen bei Amalia von Richtershofen, der Schwester ihrer Mutter, in einer Villa bei Köln auf, mit einem Garten, groß wie ein Park.  Tante Amalia ist eine Bücherjägerin und Kartensammlerin und Sarah teilt ihre Liebe zu Büchern. Heute ist Sarah ebenfalls eine Bücherjägerin, Kartensammlerin und Restauratorin von alten Büchern und Dokumenten. Seit dem Tod von Tante Amalia vor sechs Monaten lebt sie zurückgezogen allein in der Villa, umgeben von Büchern. Bis eines Tages nicht der Postbote an der Tür klingelt, sondern Benjamin Ballantyne, Wissenschaftler und Bibliothekar der British Library in London. Kurz vor ihrem Tod hatte Amalia die Britische Bibliothek kontaktiert, es ging um das seit Jahrhunderten verlorene erste Segment der Tabula Peutingeriana. Ben kann Sarah überreden, ihm bei der Suche zu helfen. Der Weg führt sie zu einem Weingut in der Champagne, nach London, und zu einem Landsitz in Essex.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um alte Bücher und besonders um die Suche nach dem ersten Segment der insgesamt zwölf Segmente umfassenden mittelalterlichen Kopie einer ursprünglich spätrömischen Straßenkarte, um Verlust, Trauer, aber auch um die vielen Facetten und Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen.

Charactere

In der Familie galt Amalia als schwierig und exzentrisch, doch nun ist sie Mutter und Familie für ihre beiden Nichten. Ihr Satz „Das kriegen wir schon hin“ bleibt in all den Jahren eine sichere Konstante zwischen Amalia, Sarah und Milena. Nicht erst seit dem Verlust ihrer Tante Amalia zieht sich Sarah in die magische Welt der Bücher zurück, das tat sie schon immer, wenn ihr das reale Leben, die Menschen und die Umgebung zu laut wurden. Als sie auf den Engländer Ben trifft, der Deutsch spricht, als hätte er die Sprache mit Goethe und Schiller gelernt, merkt sie rasch, dass er sie so respektiert, wie sie ist.

Erzählform und Sprache

Sarah erzählt die Geschichte dieser Schatzsuche und gleichzeitig auch die Geschichte ihres bisherigen Lebens, daher ist der Roman in der Ich-Form geschrieben. Die Recherchen und die Reise auf den Spuren von diesem besonderen historischen Artefakt werden chronologisch geschildert. „Eine Karte also voller Abenteuer und Geschichten, deren verlorener erster Teil definitiv einige Umstände und eine plötzliche Reise wert ist.“ (Zitat Pos. 710). Ergänzt werden die aktuellen Ereignisse durch viele Rückblicke in Form von Sarahs Erinnerungen an prägende Erlebnisse ihrer Jugend, und vor allem an ihre Tante Amalia. Als sie den wenigen, kryptischen Notizen von Amalia folgen, tauchen sie auch in deren Vergangenheit ein. Die Sprache ist einfühlsam, humorvoll und angenehm zu lesen.

Fazit

Eine interessante, spannende Suche nach einem wertvollen alten Dokument, dazu sympathische Charaktere, dies ergibt in Summe eine rundum gelungene Geschichte, Lesevergnügen garantiert.

Mein Abschied von Deutschland – Matthias Politycki

AutorMatthias Politycki
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 2, März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten144
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455014396

„Die Alternative, vor der wir täglich aufs neue stehen, ist: mitmachen und uns von dieser oder jener Haltung anschließen – oder, trotz allem, erst mal selber denken, unabhängig denken.“ (Zitat Seite 19)

Thema und Inhalt

Seit einigen Jahren fühlt sich der Schriftsteller Matthias Politycki in Deutschland nicht mehr wohl, doch da er ohnedies meistens auf Reisen ist, bleibt es ein vages Unbehagen. Doch mit dem Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 wird ihm klar, was er in den in Deutschland täglich präsenten Debatten zunehmend vermisst: die für ihn bisher selbstverständliche Freiheit der freien Meinungsäußerung und die damit verbundene Diskussionskultur. Damit steht sein Entschluss fest, im Frühjahr 2021 verlässt er Deutschland und zieht nach Wien. Dieses Buch vertieft seinen Standpunkt zu der heute gleichsam verordneten Wokeness, seine Argumente und Sorgen, die er zuvor in einem Artikel in der FAZ dargelegt hatte. Es ist ein überzeugendes Plädoyer für die Freiheit der Kunst, für die Freiheit des Schriftstellers, sich sprachlich auszudrücken und damit verbunden für die Vielfalt der Literatur. „Literatur, die sich absichert, ist überflüssig.“ (Zitat Seite 78)

Umsetzung

„Wovon ich rede, wenn ich von Freiheit rede“ lautet der Untertitel dieses Buches. In dreiundzwanzig Kapiteln mit ebenso vielen Themen und Stichworten, von „Freiheit“ über „Umbegreifung der Begriffe“, „Reduktion des Arbeitsmaterials: Wörter“, „Reduktion des Arbeitsmaterials: Stoffe“ „Zensur“, „Die neue Rolle des Schriftstellers“, „Gendern als zivilgesellschaftlicher Ungehorsam“, bis zu „Wovon ich rede, wenn ich von Sprache rede“ und „Wien“ setzt sich Politycki mit unserer Gesellschaft und den neuen, alarmierenden Entwicklungen auseinander, vor allem was die Diskussionen um Ausdruck, Sprache und Stoff für Schriftsteller und Leser bedeuten. „Betreutes Lesen fängt beim kuratierten Schreiben an.“ (Zitat Seite 77) Eindrücklich widersetzt sich der Schriftsteller, der sich als klassischer Linker sieht, allen Einschränkungen der Meinungsfreiheit, des wilden Denkens, der Phantasie und damit auch der Literatur. Im Anhang des Textes finden sich die Quellenangabe zu im Text angeführten Zitaten.

Fazit

„Gesetzt den Fall, ich müßte dieses Buch auf einen einzigen Satz zusammenstreichen, so würde er lauten: Laßt mir die Musik der Sprache!“ (Zitat Seite 114) Die beste Begründung, warum ich dieses Buch mit großem Interesse und Zustimmung gelesen habe und warum ich es empfehle, ist diese Aussage von Politycki selbst.

Bin das noch ich – Stefan Moster

AutorStefan Moster
VerlagMareverlag
Datum8. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3866487123

„Wenn die Noten verstummen und nicht einmal mehr Bachs notierte Freiheit der Artikulation hilft, den Ton zu treffen, weil es keinen Ton mehr gibt. Was, wenn man keinen Bach mehr spielen kann? Und auch nichts sonst.“ (Zitat Seite 31)

Inhalt

Simon Abrameit ist Geiger, Musik ist sein Leben. Er vermutet schon länger, dass etwas mit zwei Fingern seiner linken Hand nicht stimmt. Im Rahmen eines Sommerfestivals spielt er ein Solokonzert, Bach und Bartók, und genau hier passiert es endgültig, er muss den Auftritt abbrechen. Er braucht Zeit zum Nachdenken, wie es weitergehen soll. Das einfache Ferienhaus seiner Musikerkollegin Mai auf einer kleinen, abgelegenen Insel wird sein Rückzugsort. Nur er, die Natur der endlos hellen Mittsommertage, die Seevögel und hier besonders ein brütendes Möwenpaar in Hausnähe, und dazu die notwendigen Tätigkeiten des Alltags. Zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruch schwebend, macht er sich Gedanken über die vielen Facetten der Musik, über sein Leben als Musiker, beobachtet täglich gespannt den Ablauf der Natur und versucht dabei, sich selbst nicht zu verlieren.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Musik und die damit eng verbundenen Themen, um die Vielseitigkeit der Natur auf einer einsamen Insel im finnischen Mittsommer und um die Suche nach einem Neubeginn, wenn plötzlich nichts mehr so ist, wie es war.

Charactere

Simons Leben ist die Musik und seine Geige, die ihn viele Jahre lang durch sein Musikerleben geführt hat, obwohl er nie der herausragende, international berühmte Konzertsolist war. Er ignoriert die Probleme mit seinen Fingern, bis es nicht mehr möglich ist und er gezwungen ist, sich mit der Situation auseinanderzusetzen.

Erzählform und Sprache

Im Mittelpunkt dieses Romans steht Simon, der sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen kann und durch äußere Umstände gezwungen ist, genau darüber nachzudenken. Er steht im Mittelpunkt einer personalen Erzählform, die ihm in die Einsamkeit der kleinen Schäreninsel folgt, auf der es nur das Ferienhäuschen gibt und die Natur – das Meer, die Bäume, die vielen Vogelarten, das Rauschen der Wellen an sonnigen Tagen und bei stürmischem, wildem Seegang, die ungewohnte Helligkeit der Mittsommernächte. Es sind diese Schilderungen, poetisch, leise und doch bildintensiv, die zusammen mit der Hauptfigur und ihren Konflikten den beeindruckenden Sog dieses Romans ausmachen. Die Spannung der Sprache entsteht aus dem Wechsel in der Erzählformen, personal, doch unterbrochen durch Simon im gedanklichen Gespräch mit Darja, einer berühmten Geigerin, deren Karriere er von Jugend an mitverfolgen konnte, und Simon als Ich-Erzähler, der seine Sicht einer entscheidenden Situation der personalen Schilderung des Erzählers gegenüberstellt. Spannung erhält die Handlung selbst besonders durch die Frage, wie Simon mit seiner Situation umgehen wird.

Fazit

Es gibt Bücher, in denen man sich von der ersten Seite an „zu Hause“ fühlt, so ging es mir mit diesem Roman. Mein Interesse an Simon mit seinen einfühlsam und präzise dargestellten Problemen und Fragen war sofort geweckt, die Naturschilderungen in ihrer Vielfalt sind beeindruckend und packend, dazu noch interessantes, für mich neues, Musikwissen, besonders über Bela Bartók, auch Bach hatte ich bisher nicht mit Violinkonzerten verbunden. Ein leiser und gleichzeitig starker Roman, ein in allen Bereichen positives, überzeugendes Leseerlebnis.

Schrecklich schön und weit und wild – Matthias Politycki

AutorMatthias Politycki
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 2. August 2023
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455016956

„Den Wert einer Reise bemesse ich nicht nach ihrem Schwierigkeitsgrad, ihrer Exotik oder sonstigen Rahmenbedingungen, sondern nach den Erkenntnissen, die auf den Wegen der Neugier als Stolpersteine lagen.“ (Zitat Pos. 66)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist kein Reisehandbuch und auch keine Anleitung oder Gebrauchsanweisung für das Bereisen einzelner ferner Länder und Kontinte. Matthias Politycki reist und schreibt seit über vierzig Jahren, besonders prägende Eindrücke und Menschen beeinflussen später seine Romane. Schon in der Einleitung zu diesem Buch stellt er fest, er sei kein Reiseschriftsteller, sondern Schriftsteller und er reise daher meistens um des Reisens willen. Daher ist dieses Buch eine interessante, spannende Mischung aus persönlichen Erlebnissen, Erfahrungen und unterschiedlichen Aussagen und Gedanken zum Thema Reisen, von Politycki selbst und auch von seinen Reisefreunden und Reisefreundinnen. „Wir sind nicht aufgebrochen, um ein besserer Mensch zu werden. Sondern ein anderer. (Zitat Pos. 2440)

Umsetzung

Es ist eine bunte Vielfalt an Themen, die in einzelnen Kapiteln geschildert, hinterfragt, überlegt und als Notizen, Erinnerungen, als Geschichten über Glückliche und gefährliche Erlebnisse, unvergesslich schöne Momente und Eindrücke und ebenso unvergessliche Enttäuschungen erzählt werden. Da geht es um die Faszination von Landkarten, das Märchen vom leichten Gepäck, die Problematik, fremde Sitten und Kulturen trotz der eigenen Vorstellungen und Verhaltensweisen zu verstehen, zu einer Verständigung zu kommen. Es geht um die Frage nach der Sinnhaftigkeit oder sogar Notwendigkeit, nach einem genauen Plan zu reisen, aber auch um Spontaneität. Zwei Kapitel sind einem besonderen Wandern gewidmet, aber nicht auf die höchsten Gipfel, sondern dem Stadtwandern, Städte gehend zu erforschen und dies abseits der von den Reiseführern beschriebenen Wege und Sehenswürdigkeiten. Reisen hat sich in diesen vierzig Jahren, die Politycki als Reisenden geprägt haben, stark verändert, auch darüber schreibt er und, eher gegen seine persönliche Überzeugung, legte er eine persönliche Liste der Tops und Flops an, die er mit uns teilt. Gerade als Schriftsteller und begeisterter Leser zitiert er auch aus Literatur zum Thema Reisen, eine umfassende Erklärung der einzelnen Fußnoten und Quellenangaben findet sich am Ende des Buches.

Fazit

Matthias Politycki selbst beschreibt dieses Buch als ein Buch für alle, die Reisen vom bequemen Ohrensessel aus lesend erleben wollen, aber auch für jene, die tatsächlich immer wieder aufbrechen und ihre eigenen Erfahrungen gesammelt haben. Dies bringt es genau auf den Punkt, für mich war dieses Buch eine unglaublich vielseitige, spannende, interessante und auch poetische Reise.  

See you soon – Kristin Lukas

AutorKristin Lukas
VerlagTWENTYSIX
Datum22. Juni 2023
AusgabeKindle-Ausgabe
Seiten286 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ASINB0C8ZBX6LC

„Julia Wiese ist vergiftet worden und wir müssen uns fragen, warum hat der Mörder diese Substanz verwendet und wie ist er daran gekommen.“ (Zitat Pos. 243)

Inhalt

Zoe (eigentlich Mandy, aber diesen Namen hasst sie) Meister ist Tutorin für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und schreibt an ihrer Doktorarbeit. Julia Wiese, die junge Frau, die tot aufgefunden wurde, vergiftet, studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im 7. Semester. Julia gehörte zur Gucci-Clique um Viktor Stoltenbrink, vier in der virtuellen Welt sehr aktive und erfolgreiche Studierende. Die verschiedenen Spuren führen vom Universitätsinstitut in den angesagten Club KG 13 und zurück. Christine Sudhoff, ermittelnde Kommissarin der Kripo Berlin, erkennt rasch, dass Zoe mehr weiß, als sie zugibt, doch was verheimlicht sie und warum?

Thema und Genre

In diesem Kriminalroman stehen die vielen neuen Trends der Kommunikation und sozialen Interaktionen im Mittelpunkt, die sich durch die Möglichkeiten der Social Media ergeben haben, der Wunsch nach Erfolg und Anerkennung nicht nur in der echten, sondern auch in der virtuellen Welt. Doch auch reale zwischenmenschliche Beziehungen sind ein Thema.

Charactere

Zoe (Mandy) Meister und die Kommissarin Christine Sudhoff sind einander nicht nur optisch ähnlich, doch es fehlt das gegenseitige Vertrauen und sie ermitteln engagiert, aber getrennt.

Erzählform und Sprache

Die Handlung umfasst einen knappen Zeitrahmen und schildert die Ereignisse chronologisch. In dieser Geschichte geht es nicht um blutige Mordszenen, sondern um die Hintergründe, die zu solchen Taten führen können. Zusätzliche Spannung ergibt sich aus  der in allen Schritten geschilderten Ermittlungsarbeit, der mühsamen Suche nach den Zusammenhängen. Hier ermitteln Menschen, und keine allwissenden Superhelden. Die Sprache ist modern, in den Dialogen der Studierenden manchmal flapsig und dem Social-Media-Zeitgeist angepasst. Die Fachgespräche am Institut für Soziologie ergänzen die Handlung  mit interessanten Informationen und Erklärungen zu den globalen Phänomenen im Zusammenhang mit der Präsenz in den Sozialen Netzwerken.

Fazit

Eine spannende, unterhaltsame und interessante Geschichte mit Charakteren, wie sie auch in der Realität überall zu finden sind, und ein ebenso realistischer Ausflug in die moderne Welt der Follower, Klicks und Likes.

Seiten Wechsel – Johanna Hansen und Wolfgang Allinger

Autor-AutorinJohanna Hansen und fünf weitere
VerlagWORTSCHAU VERLAG
DatumNovember 2022
AusgabeBroschiert
Seiten204
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinnenJuliane Gräbener-Müller, Nicole Nau
ISBN-13978-3-944286-39-6

„Angelika Overath hat mich durch ihr Buch auf die Idee gebracht, vier Autorinnen und Autoren zu einem Projekt einzuladen, bei dem wir simultan an verschiedenen Ecken der Welt an einem gemeinsamen Tagebuch schreiben.“ (Zitat Seite 21)

Thema und Inhalt

Sechs europäische und amerikanische Autoren und Autorinnen schreiben an einem vorher bestimmten Tag zwischen 2019 und 2022 ihre Notizen darüber, wo sie diesen Tag verbrachten, woran sie gearbeitet und was sie erlebt haben, dazu ihre Gedanken und besonderen Eindrücke. Dabei konnten sie jeweils frei entscheiden, ob sie autobiografisch über tatsächlich Erlebtes schreiben wollten, oder einen autofiktionalen, poetischen Text. Ihre Tagebuchnotizen teilen in diesem Buch mit uns: Kathrin Schadt – Barcelona, Gundega Repše – Riga, David Eisermann – Bonn, James Hopkins – Kathmandu, Davis Oates – Portland/Oregon und Johanna Hansen – Düsseldorf.

Umsetzung

Die Tage wurden in einem Abstand von jeweils etwa einem halben Jahr gewählt und auch die Wochentage variieren von Montag bis Sonntag. Es wurde jedem Tag ein Thema zugeordnet, welches ebenfalls für alle Teilnehmenden galt, zum Beispiel Glück, Kälte, Fernweh, Abschied, Sehnsucht. Der erste Eintrag ist vom Montag, 1. Juli 2019, der nächste vom Dienstag, 24. Dezember 2019, es folgen Mittwoch, der 27. Mai 2020, Donnerstag, der 31. Dezember 2020, Freitag, der 25. Juni 2021, Samstag, der 1. Januar 2022 und schließlich Sonntag, der 10. Juli 2022. Besonders die Vielfalt der Texte und Herangehensweisen, von Prosa bis Gedicht, als Tagebuch, teilweise sogar genauer Zeitangabe, oder als absolutes Gegenteil autofiktional-irreal, und die unterschiedlichen Orte und Situationen, an denen die Texte entstanden sind, machen diese Tagebuchnotizen so interessant und spannend zu lesen. Verstärkt und teilweise geprägt wurden die Themen durch die nicht vorhersehbare Ausnahmesituation auf Grund von Corona und alle damit verbundenen Einschränkungen, das Neu-Erleben nach dem Ende des Lockdown, die Wahrnehmungen der sich deutlich abzeichnenden Klimakrise, sowie den Eintrag vom 10. Juli 2022 der lettischen Autorin.

Die Texte werden, über das Buch verteilt, durch Fotografien der Arbeitsplätze und Notizen der teilnehmenden Schriftsteller und Schriftstellerinnen ergänzt. Im Anhang finden sich die Kurzbiografien, ebenfalls mit Foto.

Fazit

Ein spannendes Projekt das ich durch Zufall entdeckt habe. Rasch habe ich unter den Schreibenden meine persönlichen Favoriten gefunden, auf die ich mich in jedem weiteren Abschnitt besonders gefreut habe.

Dieses broschierte Buch ist nur direkt beim WORTSCHAU Verlag erhältlich, kann auf der Verlagsseite problemlos bestellt werden. Eine kleine Mühe, doch sie wird durch ein interessantes, vielseitiges und außergewöhnliches Leseerlebnis belohnt.  „Was alle vereinte und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmachte, war der genaue Tag, auf den alle sich bezogen. Das öffentliche, private oder fiktionale Geschehen dieses Tages, an den jeweiligen Orten, mit seinen Chancen, Gefahren und Krisen geben den gemeinsamen Fokus vor.“ (Zitat Seite 3, 4 – Vorwort)

Helga Schubert über Anton Tschechow – Helga Schubert

AutorHelga Schubert
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Herausgegeben vonVolker Weidermann
Erscheinungsdatum 5. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten112
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462003789

„Und Tschechow lesen: erst den letzten Satz und dann den ersten Satz, dann die letzte Seite, dann die erste, um diese wunderbare Brücke zu sehen. Die er auch für mich baute.“ (Zitat Pos. 859)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der vierte Band der Serie „Bücher des Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Als Helga Schubert gefragt wird, ob sie ein kleines Buch für eine neue Buchreihe schreiben will, in der Schriftsteller über ihre Lieblingsschriftsteller nachdenken, fällt ihr sofort Tschechow ein. Kann sie so einen Text schreiben, während sie gleichzeitig an ihrem neuen Roman arbeitet? Sie kann, denn sie spürt in sich eine innere Brücke zu Anton Pawlowitsch Tschechow, zieht Parallelen zwischen seiner Tätigkeit als Arzt und Schriftsteller und ihrer als klinische Psychotherapeutin und Schriftstellerin. So wie sie über viele Jahre alle guten Erinnerungen gesammelt hat, Liebe, Wärme, Bilder und Musik, so pflegte Tschechow sich alles zu notieren, was er erlebte, Geschichten und Aussprüche, die er hörte, und wenn er etwas davon in einer Erzählung oder Theaterstück verwendet, streicht er es durch. Es ist eine sehr persönliche Reise durch ihr Leben als Schriftstellerin, auf die uns Helga Schubert mitnimmt, und gleichzeitig erschließt sie uns den Schriftsteller und das Werkt Tschechows in vielen Facetten.

Umsetzung

Einem kurzen Vorwort von Volker Weidermann folgt der eigentliche Text von Helga Schubert, der die Überschrift trägt: „Eine Brücke zu Anton Pawlowitsch Tschechow“. Helga Schubert beginnt mit jenem Buch von Tschechow, das sie schon viele Jahre lang begleitet. Es ist eine Kurzgeschichte aus diesem Buch, „Gram“, die sie als junge Studentin zum ersten Mal gelesen hat und die zur wichtigsten Erzählung im Leben der nun 83-jährigen Schriftstellerin wurde. Wir lesen hier die ganze Geschichte. Helga Schubert teilt sie in einzelne Abschnitte, erklärt und interpretiert diese mit ihren eigenen Sichtweisen und persönlichen Eindrücken beim Lesen. Den darum geht es Helga Schubert, sie will uns nahebringen, was sie von diesem Autor auch in Bezug auf Schreibtechniken und schriftstellerischer Disziplin gelernt hat. Gleichzeitig erzählt sie von ihren Reisen noch zu Zeiten der Sowjetunion auf Tschechows Spuren nach Moskau und zu seinem Haus in Jalta auf der Krim, heute Gedenkstätte und Museum, von ihrem Treffen mit einer Nichte Tschechows und von ihrer eigenen Tätigkeit als Schriftstellerin in der DDR. Ihr Text endet mit einem Nachsatz, es folgen Tschechows Lebensdaten und die Erklärungen der durchnummerierten Fußnoten. Den Abschluss bilden Kurzbiografien von Helga Schubert und Volker Weidermann.

Fazit

Dieses Buch zeigt Tschechow nicht nur als Schriftsteller, sondern auch seine vielleicht weniger bekannten Seiten als Familienmensch und macht sofort Laune darauf, seine Erzählungen (wieder) zu lesen, besonders die hier oft zitierte Erzählung „Gram“, über die Katherine Mansfield in ihr Tagebuch schrieb: „Sie ist eines der Meisterwerke der Welt.“ (Zitat Pos. 849)

Wasserläufer – Michael Kröchert

AutorMichael Kröchert
VerlagTropen
Datum15. Juli 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608500165

„An diesem allerersten Abend meiner Reise in den Floß-Sommer spürte ich die unermessliche Tiefe dieses Raumes. Aber noch deutlicher als das fühlte ich mich.“ (Zitat Pos. 126)

Inhalt

Als Alissa, mit der er seit vier Jahren in Berlin in einer festen Beziehung lebt, für ein Semester nach Frankfurt geht, um dort ihre Dissertation in Kunstgeschichte fertig zu schreiben,  nimmt Rio, vierzig Jahre alt, Fotograf und Dokumentarfilmer, eine fünfwöchige Auszeit von seinem aktuellen Job in einer Redaktion. Er hat ein Floß gebaut und will diese Wochen auf dem Soliner See nahe Berlin verbringen, alleine in der Natur, um über sein Leben und seine weiteren Pläne nachzudenken. Doch während er in den Telefonaten mit Alissa weiterhin betont, die Einsamkeit zu suchen, lernt er immer mehr Menschen kennen, Birk und die Ökologiestudentin Johanna, deren Vater eine ökologische Landwirtschaft mit Hofladen betreibt, sowie Jost und seine Frau, die Künstlerin Magda, die auf einer mit allem Komfort und Luxus umgebauten großen holländische Tjalk ebenfalls den Sommer auf dem See verbringen wollen. Als ihm der Trubel auf dem See zu groß wird, flüchtet er in eine versteckte Bucht auf dem kleineren Fernower See. Dort denkt er weiter über seine Pläne nach, denn sein Erfolg als Dokumentarfilmer ist acht Jahre her, er will mit Alissa zusammen sein, wünscht sich ein Kind von ihr, doch die Realität erzählt eine völlig andere Geschichte, er weiß nur noch nicht, welche.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine Art Road-Trip, doch statt auf Highways in der Ferne spielt er auf dem Wasser, im Seengebiet rund um Berlin. Im Zentrum steht ein Mann in der Mitte seines Lebens, der in der Einsamkeit der Natur herausfinden will, wer er ist und was er noch von seinem Leben erwartet. Es geht um Pläne, die ohne Entscheidungen Pläne und Träume bleiben, und es geht um Beziehungen. Auch sozialkritische Themen kurz nach Corona spielen eine Rolle, sowie Politik und Umwelt.

Charactere

Rio ist mit seinem aktuellen Bildschirmjob nicht glücklich, seine Erfolge liegen lange Zeit zurück. Er sucht die Einsamkeit, doch bald braucht er den Alkohol, um diese Einsamkeit zu ertragen, in der ihm die Realität immer öfter zu entgleiten droht. Es sind die männlichen Protagonisten, die diese Handlung dominieren, in der Frauen zwar für manche Ereignisse wichtige, aber doch nur Nebenrollen einnehmen.

Erzählform und Sprache

Rio selbst schildert als personaler Ich-Erzähler seine Geschichte, meistens chronologisch, ergänzt durch Erinnerungen, manchmal aber wechselt er spontan die Zeitabläufe zwischen Ereignissen und Situationen. Seine Gedanken schreibt er als Haikus nieder. „Haikus waren ein wenig wie Wasserläufer – sie waren unwahrscheinlich und autonom.“ (Zitat Pos. 1971) Dominiert wird die Handlung von seinen inneren Monologen, welche die Realität teilweise ins Surreale kippen lassen. Sprachlich beeindruckend sind die Schilderungen der Natur, die jedoch in einem gekonnt gewählten Verhältnis zum Text eingesetzt werden: „Ein Rest grelles, sattes Gold-Orange wurde von einem leuchtenden Blau zugleich sanft und unerbittlich hinter den Horizont gedrückt, bevor das Schwarz kam, um alles zu dominieren. Mit diesem Verlust der Farben kam eine geradezu unbegreifliche Stille.“ (Zitat Pos. 646).

Fazit

In einer Genre-Zuordnung ist von Urlaubs- und Wohlfühlroman die Rede, doch beides ist diese Geschichte meiner Meinung nach nicht, denn was als interessante,  positive Sinnsuche in der Natur beginnt, wird rasch zu einem negativen Sog für die Hauptfigur Rio, auf Grund seiner Unentschlossenheit und seiner inneren Weigerung, endlich Entscheidungen zu treffen. Die zusätzliche Spannung im Handlungsbogen, die durch einen Anschlag in der Nähe aufgebaut werden soll, wirkt auf mich wie ein Fremdkörper in der Handlung, zu konstruiert und somit entbehrlich. Die vielseitigen menschlichen Themen und Aspekte dieser Geschichte waren für mich das wirklich Spannende.

Maskerade – Hans Flesch-Brunningen

AutorHans Flesch-Brunningen
VerlagEdition Atelier
Herausgegeben vonWolfgang Straub
Datum15. März 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzerAlexander Pechmann
ISBN-13978-3990650929

„Auf dem Heimweg war ich immer noch in nachdenklicher Stimmung. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich stand. Meine Zeit als aktiver Kämpfer war gewiss abgelaufen.“ (Zitat Seite 79)

Inhalt

Seit etwa zwei Jahren leben sie schon als Ausländer in Rom, der Wiener Schriftsteller und Journalist Martin Boldt und seine lebenslustige Frau Rosika aus Ungarn, die Archäologie studiert. Bei einem Vortrag am deutschen archäologischen Institut in Rom lernen sie den deutschen Archäologen Gerhard Hesmert kennen. Dieser plant eine Griechenlandreise, während das Ehepaar Boldt mit der Bahn durch Umbrien bis nach Siena zum Palio reisen möchte. Überraschend taucht auch Hesmert kurz vor Abfahrt des Zuges auf, er will Freunde in Siena besuchen. „Ich habe meine Meinung geändert. Ich fahre mit Ihnen. Ich habe eine Einladung von Gatti für uns alle.“ (Zitat Seite 102)

Thema und Genre

Dieser Exilroman ist ursprünglich in englischer Sprache erschienen, 1937 unter dem Titel „The Blond Spider“ und 1939 in den USA unter dem Titel „Masquerade“. Themen sind Politik, Widerstand, Spionage, Liebe und alle damit verbundenen Gefühle, sowie Die Vergnügungen des italienischen Sommers.

Charactere

Martin ist Schriftsteller und schreibt an einem Buch, während Rosika vor allem das Leben genießen will, trotz der geringen finanziellen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen. Martin Boldt und Gerhard Hesmert trennen politisch Welten, denn Hesmert ist ein überzeugter Nationalsozialist, während der Kommunist Martin Boldt in Italien seine politisch aktive Zeit als „Kilian“ geheim halten will.

Erzählform und Sprache

Der Schriftsteller und Journalist Martin Boldt schildert die Ereignisse selbst. Wir erhalten Einblick in die Gedanken, Gefühle und Ängste des Ich-Erzählers, erfahren seine Geheimnisse, seine Eindrücke, die er während dieser Zeit in Italien sammelt und kennen seine Eifersucht, da er nicht weiß, wie weit der Flirt zwischen seiner Frau und Hesmert tatsächlich geht. Seine Sichtweise ist durch diese personale Erzählform subjektiv und eingeschränkt, doch durch die vielen Dialoge und Gespräche aller Figuren ergibt sich eine Fülle von zusätzlichen Informationen. Die Geschichte wird chronologisch erzählt, ergänzt durch Boldts Eindrücke der italienischen Landschaft und Städte, der Menschen und der vielen vergnügten Stunden. Man geht aus und es fließen reichlich Wein und Wermut. Er scheint jedoch teilweise ein unzuverlässiger Erzähler zu sein, denn manche Begegnungen und Ereignisse gleiten ins Surreale ab, was ist real, was Einbildung?

Fazit

Dieser erstmals 1937 erschienene Roman mit autobiografischen Elementen ist ein interessantes, vielseitiges und authentisches Bild dieser politisch brisanten Zeit und gleichzeitig eine eindrückliche Studie menschlicher Verhaltensweisen.

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