Anständige Leute – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum8. Juli 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerPeter Kultzen
ISBN-13978-3293006218

„Die Wege der Literatur und des Lebens neigen dazu, sich auf alle möglichen und unmöglichen Arten zu kreuzen. Und die dabei entstehende Reibung fördert vielfach beunruhigende, manchmal auch augenöffnende Wahrheiten zutage.“ (Zitat Seite 127, 128)

Inhalt

Fast dreißig Jahre ist es nun schon her, dass Mario Conde „El Conde“ den Polizeidienst verlassen hat. In diesem Jahr 2016 stehen zwei einmalige Ereignisse unmittelbar bevor: der amerikanische Präsident Barack Obama besucht Kuba, ein Besuch, der mit großen Hoffnungen verbunden ist. Auch die Rolling Stones setzen ein Zeichen und geben ein kostenloses Open-Air-Konzert in Havanna. Die Stadt vibriert vor Vorfreude und Aufregung. Da wird Reynaldo Quevedo, in den 1970ern einer der meistgefürchteten Politiker und bis meistgehassten Männer, ermordet aufgefunden und Mario Condes ehemaliger Kollege bei der Polizei Manuel „Manolo“ Palacios, braucht seine Hilfe bei den Ermittlungen. Gerade in diesen Tagen müssen die Ermittlungen besonders diskret erfolgen und es werden schnelle Resultate verlangt. Mario Conde sagt zu, obwohl er gerade einen Abendjob angenommen hat und mit eigenen Recherchen beschäftigt ist, die ihn in die Jahre 1909 und 1910 in Havanna zurückführen, zu einem jungen Ermittler, zu Morden im Rotlichtmilieu und zu der schillernden, charismatischen Legende Alberto Yarini Ponce de León.

Thema und Genre

In diesem gesellschaftskritischen, literarischen Kriminalroman geht es um die politische und gesellschaftliche Situation Kubas im Jahr 2016 und mehr als einhundert Jahre zuvor. Themen sind Korruption, Machtmissbrauch, kulturelle Diktatur, die Armut der Bevölkerung, unerfüllte Lebensträume, aber auch Freundschaft, Liebe und Lebensfreude. Die wichtigste Frage aller Figuren damals und heute ist die persönliche Definition des Begriffes Anstand und was es bedeutet, ein anständiges Leben zu führen.

Charaktere

Die Lebenseinstellung von Mario Conde wurde mit den Erfahrungen der Jahre und durch die genaue Beobachtung des Alltagslebens in Kuba nicht optimistischer, im Gegenteil. Kritisch verfolgt er die Vorgänge in seinem Heimatland und er lässt sich von der Euphorie im Vorfeld der beiden Großereignisse nicht überzeugen. „Marío Conde, der eingefleischte Pessimist, verfügte womöglich über ein zu umfangreiches historisches Wissen und war, was manche Dinge anging, so oder so von unheilbarem Misstrauen erfüllt, jedenfalls hatte er das Gefühl, sein Land genieße gerade lediglich eine kurze Verschnaufpause, nach deren Ende sich die Härte wiedereinstellen würde.“ (Zitat Seite 229)

Erzählform und Sprache

Padura erzählt auch in diesem Roman zwei Geschichten, die einander abwechseln. Um die Zuordnung einfach zu gestalten, wählt er für die Abschnitte rund um El Condes Ermittlungen im Jahr 2016, die innerhalb von wenigen Tagen stattfinden, nur die fortlaufende Nummerierung als Überschrift. Die Kapitel mit den Geschehnissen in den Jahren 1909, 1910 tragen Überschriften. Den unterschiedlichen Inhalten folgend, wird der aktuelle Handlungsstrang in der dritten Person geschildert, mit Marío Conde im personalen Mittelpunkt. Die historischen Ereignisse dagegen werden als Aufzeichnungen in der ersten Person erzählt. Es ist Paduras besondere Art zu schreiben, die begeistert, mühelos wechselt er zwischen umgangssprachlichen Dialogen, literarischen Schilderungen und philosophischen Gedankenströmen. Havanna im Ausnahmezustand durch Obamas Besuch – für Padura eine Gelegenheit, dies kritisch zu betrachten und durch die Gedanken und Beobachtungen Condes die Realität in Kuba zu beschreiben.

Fazit

Zwei facettenreiche Geschichten, lose vernetzt, ergeben interessante Einblicke in das Leben in Havanna 1910 und mehr als einhundert Jahre später, im wichtigen Jahr 2016 mit den zwei besonderen Großereignissen. Eine spannende, interessante Mischung aus kritischem Gesellschaftsroman, politischem Roman, historischem Roman und Kriminalroman in einer Sprache, die das Lesen zum Erlebnis macht.

Die ungeheure Welt in meinem Kopf – Hans Platzgumer

AutorHans Platzgumer
VerlagElster & Salis Wien
Datum29. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten180
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3950543520

„Ich hoffte, so viele Aufträge wie möglich zu kriegen. Sie sollten mich zurück in der Realität verankern.“ (Zitat Seite 98)

Inhalt

Sascha Konjovic, achtunddreißig Jahre alt, ist Taxifahrer in Wien, Nachtfahrer für Nachtschichten. Das Warten auf Fahrgäste lässt ihm genug Zeit, um Jazz zu hören und in Kafkas Tagebuchaufzeichnungen zu lesen. An diesem Montag, 2. Februar 2015, kommen  gegen 21 Uhr ein älterer Mann mit einem Aktenkoffer und eine deutlich jüngere Frau mit einem Rollkoffer aus dem Westbahnhof und steigen in sein Taxi. Es ist diese Frau, sie heißt Eugenie, wie die Tänzerin in Kafkas Aufzeichnungen, die Sascha nicht mehr aus dem Kopf geht. In seinem Wagen bleiben ein Hauch ihres Parfums zurück und eine lachsfarbene Rose, und er spürt, dass seine Geschichte mit Eugenie noch nicht zu Ende ist.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um unterschiedliche Wahrnehmungen von Wirklichkeit und Scheinwelten, um ein alltägliches Leben, in dem die Grenzen zwischen Realität und Phantasie pendeln, sich vermischen bis zur Auflösung. Die literarische Themenwelt von Franz Kafka in einer modern Version in das heutige Wien transferiert.

Erzählform und Sprache

Schon die Erzählform ist ungewöhnlich, unterstreicht jedoch perfekt diese Geschichte, denn sie ist ausschließlich in der direkten Rede geschrieben, auch alle Ereignisse, die sich zuvor zugetragen haben, werden in Dialogform geschildert. Es ist Sascha, der mit seinen Fahrgästen spricht, aber nicht alle, die sich in Saschas Gedanken drängen und mitreden, leben noch, und dies trifft nicht nur auf Franz Kafka zu. „Irgendwann kannst du nicht mehr entscheiden, wer du bist und wer die anderen sind, wer echt ist, wer nicht.“ (Zitat Seite 8) Die Geschichte selbst umfasst nur zwei Tage und führt uns Leser gekonnt und ganz im Stil von Kafkas Erzählungen mehrmals in die Irre, auch wenn wir bald eigene Vermutungen anstellen, verschwinden auch für uns die Grenzen zwischen der Wirklichkeit und den von Sascha in seinen Gedanken geschaffenen Scheinwelten. Dadurch bleibt die beklemmende Spannung bis zur letzten Seite aufrecht und auch unser Verständnis für die verschrobene, aber sympathische Hauptfigur.

Fazit

Hans Platzgumer gelingt mit diesem Roman eine ungewöhnliche, packende Hommage an Franz Kafka. Ein bizarres, skurriles, verwirrendes, trauriges, beklemmendes, doch gleichzeitig auch positives Leseerlebnis.

Rayuela. Himmel und Hölle – Julio Cortázar

AutorJulio Cortázar
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum16. August 2010
AusgabeTaschenbuch
Seiten656
SpracheDeutsch
ÜbersetzerFritz Rudolf Fries
NachwortChristian Hansen
ISBN-13978-3518460573

“Sie hatten angefangen, durch ein märchenhaftes Paris zu wandern, sich leiten zu lassen von den Zeichen der Nacht, Wege einzuschlagen, die aus dem Satz eines Clochards entstanden waren, aus einer beleuchteten Dachkammer in der Tiefe einer schwarzen Straße. Auf den kleinen, intimen Plätzen hielten sie an, küßten sich auf den Bänken oder betrachteten die Kreidestriche von Himmel-und-Hölle, die kindlichen Riten mit dem Kiesel, das Hüpfen auf einem Bein, um in den Himmel zu gelangen.“ (Zitat Seite 36)

Inhalt

In den Fünfzigerjahren lebt der Argentinier Horacio Oliveira einige Zeit in Paris. Tagsüber streift er mit der Maga, seiner Freundin, durch die Stadt an der Seine, durch Museen, Straßen und Cafés. Die Nächte jedoch verbringen sie in einem Künstlerclub, wo sie mit ihren Freunden über Kunst, Literatur, Musik und alle Fragen des Lebens diskutieren. Doch dann verlässt ihn die Maga und verschwindet spurlos. Als Horacios Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wird, kehrt er nach Buenos Aires zurück. Wie schon zuvor in Paris, sucht Horacio in Gedanken immer noch nach der Maga, glaubt sie manchmal in seiner Einbildung zu sehen, verliert sich immer mehr in einer Phantasiewelt.  

Thema und Genre

In diesem Roman, der in Paris und Buenos Aires spielt, geht es um die Pariser Künstlerszene, Schriftsteller, Philosophie, Politik, Lebensentwürfe, imaginäre Parallelwelten, Beziehungen und Liebe in vielen Facetten.

Charaktere

Die Hauptfigur Horacio Oliveira ist ein Suchender. Ein intellektueller Denker und kreativer Träumer, dessen Leben davon geprägt ist, dass er sich in seinen mäandernden Gedanken über jedes Problem und Thema verfängt, statt zu entscheiden und dann auch zu handeln. So wird es für ihn immer schwieriger, die Realität von seiner Phantasiewelt zu trennen.

Erzählform und Sprache

Rayuela, ein besonderer, vielseitiger Roman, den man in 56 fortlaufenden Kapiteln lesen kann und der dann bei Seite 406 endet. Oder aber man liest das Buch, benannt nach dem Kinder-Hüpfspiel Himmel und Hölle, in der vom Autor vorgegebenen Reihenfolge und mit ergänzenden Kapiteln. In dieser Variante beginnt man mit Kapitel 73, gefolgt von 1 und 2, springt dann auf 116 und zurück auf 3 und so geht es fort über insgesamt 636 Seiten. Diese zusätzlichen Kapitel ergänzen mit vertiefenden Gedanken, Überlegungen, Bewusstseinsströmen, aber auch Ausflügen in die Literatur, immer jedoch im Zusammenhang mit den ursprünglichen Kapiteln und auch immer wieder in die Reihenfolge 1 – 56 zurückkehrend. Die praktische Umsetzung ist einfach, denn am Ende eines Kapitels steht die Nummer des Kapitels, welches als nächstes gelesen werden soll. Die Handlungsfragmente, die wechselnden Erzählperspektiven und die sprachliche Ausdrucksform mit ihren Satzlabyrinthen ergeben ein spannendes, surreales, aber auch anspruchsvolles Verwirrspiel. „Dritte Möglichkeit: aus dem Leser einen Komplizen machen, einen Weggenossen. Und einen Zeit-Genossen, da ja die Lektüre die Zeit des Lesers tilgt und in die des Autors überführt. So könnte der Leser Mitbeteiligter und Mitbetroffener der Erfahrung werden, die der Romanautor durchgemacht hat, im gleichen Augenblick und in der gleichen Weise.“ (Zitat Seite 456-457, 79. Kapitel)

Fazit

Rayuela ist ein literarisches, sehr ungewöhnliches Kapitel-Springen, ein Labyrinth, das sprachlich und inhaltlich eine Herausforderung ist. Keine Lektüre „für zwischendurch“, wenn man sich entscheidet, dem Wegweiser des Autors durch das ganze Buch zu folgen, aber es lohnt sich aus vielen Gründen, sich auf dieses Leseabenteuer einzulassen.

Labyrinth der Masken – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum22. Februar 2006
Ausgabemetro-Taschenbuch
Seiten256
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHans-Joachim Hartstein
ISBN-13978-3293203648

„Er fühlte sich hoffnungslos überfordert, ohne im Mindesten die Antwort auf eine der tausend Fragen zu wissen, die sich ihm stellten.“ (Zitat Seite 53)

Inhalt

In diesem dritten Band des Havanna-Quartetts ist es Sommer geworden, 1989, ein heißer, staubiger August. Nach der Prügelei mit Teniente Fabricio vor drei Monaten ist Mario Conde zum Erkennungsdienst strafversetzt worden, während nicht nur gegen ihn interne Ermittlungen laufen. Doch nun wird er gebraucht, denn dieser Mord an einem jungen Mann in einem roten Frauenkleid mitten im Stadtwald von Havanna ist besonders heikel, der tote Transvestit stammt aus einer sehr bekannten, angesehenen Familie. Die ersten Spuren führen die beiden Ermittler El Conde und Manuel Palacios zu dem international bekannten Dramatiker und Theaterregisseur Alberto Marqués Basterrechea. Während der Teniente die Vor- und Nachgeschichte des Mordes zu ergründen versucht, der ausgerechnet am 6. August, dem Fest der Verklärung Christi, der Transfiguration, stattgefunden hat, führen seine Gespräche mit Alberto Marqués dazu, dass El Condes Vorurteile schwinden.

Thema und Genre

In diesem Kuba-Roman geht es um Politik, Korruption, Gesellschaft, Vorurteile, Diskriminierung, Homosexualität. Im Mittelpunkt von Mario Condes Ermittlungen stehen diesmal ein alter, exzentrischer Künstler und natürlich wieder die Literatur.

Charaktere

„Mario Conde ist kein Polizist, sondern eine Metapher und sein Leben spielt sich im virtuellen Raum der Literatur ab.“ (Zitat Seite 6, Vorbemerkung des Autors) Doch es liegt an der genauen Beobachtungsgabe, der Phantasie und dem genialen Können des Autors, reale Menschen in seine fiktiven Charaktere einzubringen, Mario Conde und auch alle anderen Figuren seiner Romane, ungemein glaubwürdig und lebensnah wirken zu lassen, mit ihren Fehlern, Zweifeln, Träumen und Gefühlen.

Erzählform und Sprache

Auch dieser dritte Kriminalfall, den Mario Conde während des Jahres 1989 lösen muss, ist nur ein Teil der Geschichte, um die es in diesem Kuba-Roman geht. Das Thema Homosexualität, die damit verbundenen Vorurteile, die politischen Versuche einer Umerziehung, in Verbindung mit dem alltäglichen Leben in Havanna in dieser Zeit des Umbruchs, verdichten und erweitern die Handlung zu einem intensiven, weit gefächerten Gesamtbild. Mario Conde sagt von sich selbst, ein Mann der Erinnerungen zu sein und so erfahren wir durch seine Gedanken interessante Details darüber, wie sich Kuba, und vor allem die Stadt Havanna, verändert haben. „Ich verstehe das, natürlich verstehe ich das, denn diese Insel hat den historischen Auftrag, immer wieder neu zu beginnen, alle dreißig oder vierzig Jahre. Das Vergessen ist Balsam für alle offenen Wunden …“ (Zitat Seite 116). Die Sprache ist eine elegante, poetische Sprache der Literatur, verbunden mit der manchmal verstörend direkten Sprache einer Männerwelt.

Fazit

Ein spannendes, interessantes, beeindruckendes Leseerlebnis, eingebettet in die Liebe zu Kuba und zur Literatur.  

Handel der Gefühle – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum28. Februar 2006
Ausgabemetro-Taschenbuch
Seiten256
SerieDas Havanna-Quartett: Frühling
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3293203525

 „Na prima, dachte er, wenn ichs mir recht überlege, äuft das doch so: Ich bring das Leben anderer Leute in Ordnung, krieg aber mein eigenes nicht in den Griff.“ (Zitat Seite 50)

Inhalt

Es ist Frühling 1989 in Havanna und einer der typischen Frühlingsstürme wirbelt den Staub durch die Straßen. Einen Tag nach dem Aschermittwoch wird Lissette Núñez Delgado in ihrer Wohnung tot aufgefunden, es war ein brutaler Mord. Die Gymnasiallehrerin für Chemie war nur vierundzwanzig Jahre alt geworden. Die ersten Spuren führen den Ermittler, Teniente Mario Conde, genau in jenes Gymnasium, in dem auch er vor Jahren seine Oberstufenzeit verbracht hatte. Der Fall ist heikel, denn neben Alkohol ist auch Marihuana im Spiel und bald wird El Condo und seinem Teampartner Sargento Manuel „Manolo“ Palacios klar, dass Spuren auf einen professionellen Drogenhandel hinweisen. Obwohl im Lauf der Ermittlungen langsam einige Fakten zusammenführen, passt für Conde irgend etwas einfach nicht, auch wenn er es zunächst nicht erfassen kann.

Thema und Genre

Die Serie um den Ermittler Mario Conde spielt in Havanna und es steht nicht der Kriminalfall im Mittelpunkt, sondern es geht um die politische Situation Kubas 1989, Korruption, Überwachung, Drogenhandel, Kleinkriminalität und das bunte Leben der unterschiedlichen Menschen in der Stadt Havanna, eine Stadt mit einer bewegten Vergangenheit und unendlich vielen Facetten. Es geht um Männerleben, Freundschaft, Liebe, Einsamkeit und um Literatur.

Charactere

Als Junge träumte der Teniente Mario Conde davon, Schriftsteller zu werden und dieser Traum ist geblieben, eines Tages wird er den Polizeidienst verlassen und wieder schreiben. Er gilt als verbissen, intelligent und zu effizient für den Polizeidienst. Persönlich ist er pessimistisch, melancholisch, hat Macho-Allüren und liebt guten Rum, wenn erhältlich, sehr guten, starken Kaffee, wenn verfügbar, und in stillen Stunden träumt er davon, endlich die Liebe fürs Leben zu finden.

Erzählform und Sprache

Die Recherchen und Ermittlungen sind in den Tagesablauf von Mario Conde eingebettet, er teilt mit uns seine Liebe zu Havanna, zum Meer, zu Kuba und seine Erinnerungen. Wir beobachten ihn in seinem winzigen Büro im dritten Stock, das er wegen der Aussicht liebt, und das er sich mit Sargento Manolo teilt. Mit dem dünnen Carlos verbindet ihn eine enge Freundschaft fürs Leben, andere Freunde besucht El Condo, wenn er Tipps für seine Ermittlungen braucht. Diese sehr spezielle Figur El Condo hätte beinahe dazu geführt, dass ich nach etwa achtzig Seiten die Lektüre abgebrochen und das Buch zurück ins Regal gestellt hätte. Auch an die Sprache, literarisch, philosophisch, bildintensiv in den Schilderungen, in den Dialogen und speziellen Szenen jedoch umgangssprachlich, hart bis ins Vulgäre, musste ich mich gewöhnen. Doch dann plötzlich war ich im Sog der Geschichte, der Themenvielfalt und auch der Figuren dieses Romans, El Condo, frisch in die attraktive Saxofonspielerin Karina verliebt, eingeschlossen.

Eine Bemerkung zur Reihenfolge der Bücher des Havanna-Quartetts: ich habe mit dem Frühling begonnen, ohne zuvor nachzulesen, doch diese Serie beginnt mit dem Winter und endet mit dem Herbst. Da es insgesamt um die Ereignisse nur eines Jahres geht und jeder Fall in sich abgeschlossen ist, sehe ich kein Problem in der geänderten Reihenfolge. Zur Zeit lese ich den Sommer, werde den Winter anschließen und zuletzt dann den Herbst lesen, da dieser doch einen gewissen Abschluss bildet.

Fazit

Ein intensiver Kuba-Roman mit vielen Facetten, offen, direkt, realistisch, auch sprachlich teilweise eine Herausforderung und gleichzeitig ein packendes Leseerlebnis.

Nachtfrauen – Maja Haderlap

AutorMaja Haderlap
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum11. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten294
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431337

„Es waren gewissermaßen Expeditionen im eigenen Land, Reisen ins Innere ihrer Kindheit, die Mira mehr anstrengten als längere Aufenthalte im Ausland oder tagelange Fußmärsche mit schwerem Gepäck. Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben.“ (Zitat Seite 11)

Inhalt

Mira lebt seit ihrer Studienzeit in Wien, das sind nun schon mehr als dreißig Jahre. Aufgewachsen ist sie mit ihrer Mutter Anni und ihrem Bruder Stanko in Jaundorf, einem Ort in Südkärnten. Die alte Anni wohnt noch immer in dem kleinen, einfachen Haus, einem Nebengebäude auf dem Bauernhof ihres Bruders,  in dem sie nach dem frühen Tod ihres Mannes die beiden Kinder großgezogen hat. „Weggehen kann jeder. Das Schwierige ist doch, zu bleiben, auch wenn die Mehrzahl der Bewohner das Weite gesucht hat.“ (Zitat Seite 14) Inzwischen hat Annis Neffe Franz das gesamte Anwesen geerbt und jetzt will er das Häuschen abreißen und dort eine Tischlerwerkstatt bauen. Mira muss nach Jaundorf fahren, sie soll Anni von der Notwendigkeit der Übersiedlung überzeugen und mit ihr Entscheidungen treffen, wie und wo Anni nun wohnen soll. Mira spricht mit ihrer Mutter immer noch slowenischen Dialekt, die Sprache ihrer Kindheit, und jede Reise nach Südkärnten ist für Mira auch eine Reise zurück in die Erinnerungen einer problematischen Vergangenheit.  

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um drei Frauen, Mira, ihre Mutter Anni und deren Mutter, Miras Großmutter Agnes. Themen sind Heimat, enges Dorfleben, Verluste, problematische Mutter-Tochter-Beziehungen, die vom Schweigen über die Vergangenheit und Verschweigen geprägt sind. Es geht auch um Schuldgefühle, die den Verlauf von Menschenleben beeinflussen, um Beziehungen und Liebe.

Erzählform und Sprache

Im ersten Teil des Romans steht Mira im personalen Mittelpunkt der Geschichte, wir sehen die Ereignisse aus ihrem Blickwinkel, tauchen in ihre Gefühle und Gedanken ein. Wir erfahren Details aus der Vergangenheit, an die sie sich während dieser aktuellen Tage mit ihrer Mutter erinnert. Durch Zufall trifft sie ihre Jugendliebe Jurij wieder, was dazu führt, dass sie über ihre Ehe mit dem Mittelschullehrer Martin nachdenkt. Im zweiten Teil der Geschichte steht dann Miras Mutter Anni im Mittelpunkt. Die bevorstehende Übersiedlung aus dem alten Häuschen, in dem sie einundvierzig Jahre ihres Lebens verbracht hat, nützt Anni, um ihre Erinnerungen zu sichten, Kartons mit alten Unterlagen, Briefen, Zeitungsausschnitten und Fotos, mit denen sie einzelne Ereignisse verbindet. So reisen ihre Gedanken zurück in ihre eigene Kindheit und als sie die Schachtel mit der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Agnes durchsieht, öffnet sich vor uns auch das Leben von Agnes und ihrer unangepassten Schwester, der Partisanin Dragica. Es sind von Entbehrungen, harter Arbeit und dem Druck auf die slowenische Minderheitsbevölkerung im südlichen Kärnten geprägte Frauenschicksale. Sowohl die eindrucksvolle Geschichte selbst, als auch die intensive Sprache ziehen uns sofort in ihren Bann.

Fazit

Eine packende, vielschichtige Generationengeschichte, in deren Mittelpunkt drei Frauen, Großmutter, Mutter, Tochter, stehen. Dieser Roman war für den Österreichischen Buchpreis 2023 nominiert und ist ein überzeugendes Leseerlebnis.

Léon und Louise – Alex Capus

AutorAlex Capus
VerlagCarl Hanser
Datum7. Februar 2011
AusgabeKindle-Ausgabe
Seiten320 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ASINB004W2JWZG

„Da haben wir uns ein paar Jahre lang ziemlich nah beieinander die Hintern plattgesessen. Das nennt man Pech.“ (Zitat Seite 135)

Inhalt

Der junge Morseassistent Léon Le Gall ist siebzehn Jahre alt, als er Louise Janvier im Frühling 1918 kennenlernt. Pfingsten 1918 hat er drei Tage dienstfrei und er fährt mit ihr an den Ozean. Auf der Heimfahrt geraden sie in einen Angriff der Deutschen, Léon wird schwer verletzt und er erhält die Nachricht, Louise habe nicht überlebt. Auch Louise sagt man, dass Léon tot sei. 1928 begegnen sie einander zufällig in Paris wieder, doch Léon ist inzwischen mit Yvonne verheiratet und Vater, obwohl er nie aufgehört hat, an Louise zu denken.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine große Liebe, die sich durch ein ganzes Menschenleben zieht, die durch schicksalshafte Ereignisse jedoch nur heimlich gelebt werden kann, mit jeweils jahrelangen Unterbrechungen. Es geht um Familie, Verantwortung und Entscheidungen. Gleichzeitig ist dies die Geschichte Frankreichs während der beiden Weltkriege.

Erzählform und Sprache

Es ist der Enkel von Léon Le Gall, der die Lebensgeschichte seines Großvaters schildert, aktuell beginnend mit den Ereignissen vom 16. April 1986, an dem eine Frau eine Fahrradklingel in den Sarg seines Großvaters legt.  Von hier aus schwenkt die Geschichte direkt in die Vergangenheit und beginnt mit dem Tag, an dem der junge Léon dieses besondere Mädchen mit der gepunkteten Bluse zum ersten Mal sieht. Von da an zieht sich diese besondere Liebesgeschichte durch das ganze Leben von Léon und Louise und wird durch Details aus der großen Familie Le Gall auch zu einer Generationengeschichte. Die fiktiven Ereignisse fügen sich in die historischen Fakten ein, besonders in die Zeit der beiden Weltkriege und damit verbunden, das Leben in Paris während der deutschen Besatzung. Die Sprache erzählt eindrücklich, einfühlsam, doch immer mit leichtem Humor und niemals kitschig.

Fazit

Eine ungewöhnliche, mit charmanter Leichtigkeit erzählte Liebes- und Lebensgeschichte, deren Ereignisse eingebettet sind in den realen historischen Hintergrund Frankreichs im 20. Jahrhundert.

Die Ballade des letzten Gastes – Peter Handke

AutorPeter Handke
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum29. Oktober 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten185
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431542

„Dabei spürte er keinerlei Verlassenheit, vielmehr wirkte das Staunen weiter nach, ein, ihm nicht ganz unvertraut, nachmitternächtliches, auch über sich selber, wie er war, oder gemacht war, und die Stirn hatte, so zu sein, unverbesserlich.“ (Zitat Seite 36)

Inhalt

Jedes Jahr kehrt Gregor Werfer, der auf einem anderen Kontinent lebt, für eine Urlaubswoche in seine Heimat zurück, um die Eltern und die jüngere Schwester zu besuchen. Vieles ist noch vertraut, aber jedes Jahr beobachtet er die Veränderungen. Die Dörfer seiner Kindheit haben sich längst durch intensive Bebauung zu einem städtischen Gebiet verdichtet, er durchstreift die Straßen, wie auch die Landschaft, auf der Suche nach seinen Erinnerungen. In seinem Elternhaus dagegen ist vieles unverändert, neu ist sein kleiner Neffe, das Kind seiner jüngeren Schwester, dessen Taufpate er vor seiner Abreise werden soll. Noch etwas ist diesmal anders und wird es für immer bleiben – noch auf dem Heimweg, im Überlandbus, hat er die Nachricht vom Tod seines beinahe zwanzig Jahre jüngeren Bruders Hans erhalten, der bei der Fremdenlegion war. So mischen sich in die Beobachtungen auf seinen einsamen Streifzügen auch immer wieder Fragmente, Erinnerungen an den jüngeren Bruder und die gemeinsamen Erlebnisse. Dazu die Frage, wie und wann und ob er es seinen Eltern sagen wird, die sich auf die Rückkehr ihres jüngsten Sohnes freuen, die offizielle Verständigung ist noch nicht eingetroffen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Familie, Vergangenheit und Gegenwart, Kindheitserinnerungen und die Veränderungen vertrauter Orte im Lauf der Zeit.

Erzählform und Sprache

Das Buch umfasst drei Abschnitte, in den beiden ersten steht Gregor im personalen Mittelpunkt. Er streift durch die Nacht, beobachtet die Veränderungen, lässt auch seine Gedanken weit streifen, durchzogen von Erinnerungen und Eindrücken, ein einsamer, nachdenklicher Chronist seiner eigenen Geschichte. Er verbringt Zeit in der Natur, Zeit im Gefüge der neuen Stadt, kehrt an den Abenden in Gaststätten ein, wo es ihm immer wichtiger wird, der letzte Gast zu sein.  Irrwege, real und metaphorisch, gleich Homers Odysee, prägen diese Tage. Er teilt seine Eindrücke, Gedanken und inneren Dialoge, aber auch seine Erlebnisse während dieser Tage mit uns. Während daher der zweite Abschnitt die Überschrift „Die Ballade vom letzten Gast“ trägt, lautet die Überschrift des dritten Abschnitts „Die Ballade des letzten Gastes“ und wechselt in die Ich-Form, wiederholt in kurzen Episoden das Erlebte, intensiviert und verdichtet durch das „ich“. Die eindringliche Sprache entwickelt von der ersten Seite an einen eigenen Sog, drängend, beinahe wie atemlos strömen die Sätze, wenn sie schildern, was gerade gleichzeitig passiert, Beobachtungen, Gedankenflüge, so, als würde man im nächsten Augenblick sonst etwas verpassen. Es ist ein Spielen mit den Bedeutungen der Sprache, und wo diese nicht ausreicht, entstehen neue, bildhafte Wortschöpfungen.

Fazit

Diese nur an Buchseiten knappe Erzählung birgt eine unglaubliche Fülle an Inhalt, Themen, Sprache und Poesie, ein großartiges Leseerlebnis.  

Baumgartner – Paul Auster

AutorPaul Auster
VerlagFaber & Faber
Datum7. November 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheEnglisch
ISBN-13978-0571384938

„To live is to feel pain, he told himself, and to live in fear of pain is to refuse to live.“ (Zitat Seite 55)

Inhalt

Der Philosophieprofessor und bekannte Autor Seymour „Sy“ Baumgartner, Anfang siebzig, kann sich auch zehn Jahre nach dem plötzlichen Tod seiner Ehefrau Anna nicht damit abfinden, dass sie nicht mehr da ist. Alles in seinem Haus atmet die glücklichen Erinnerungen von vierzig gemeinsamen Jahren, manchmal glaubt er sogar noch ihr Tippen auf ihrer geliebten alten Schreibmaschine zu hören, das er seit ihrem Tod vermisst. Er liest in ihren alten Texten, während er an seinem neuesten Buch arbeitet. Bis er eines Nachts von Anna träumt und nach diesem Traum spürt er, wie sich seine innere Starre zu lösen beginnt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Liebe und Erinnerungen, um den plötzlichen Verlust eines geliebten Menschen nach einer langen Beziehung, um Philosophie, aber auch die kleinen Erlebnisse des Alltags.

Erzählform und Sprache

Sy Baumgartner steht im Mittelpunkt dieses personal erzählten Romans. Die Handlung verläuft in einem chronologischen Rahmen, wird jedoch durch Erinnerungen ergänzt und durch Lyrik und in sich geschlossene, kurze Geschichten. Austers Sprache ist einfühlsam und gleichzeitig präzise, von der ersten Seite an schaut man intensiv auf die Situation der Hauptfigur Sy Baumgartner, spürt sich tief in seine Gedanken, in seine Trauer, seinen Stillstand im Leben nach Annas Tod, folgt gespannt seinen Erinnerungen und vollzieht seine ungewöhnlichen philosophischen Ideen nach. Gleichzeitig nimmt man teil an den alltäglichen Ereignissen und Problemen im Alter, die nicht ohne Humor geschildert werden, so wie Sy selbst in seinen Gedanken seine Lebenssituation als aktiver Schriftsteller einerseits und andererseits als Professor auf dem Weg in den Ruhestand sieht. Die Sprache, ich habe das englische Original gelesen, vervollständigt das Lesevergnügen.

Fazit

Ein philosophischer Roman über das Leben, seine Herausforderungen und Fragen, über prägende Erinnerungen und die kleinen Alltagserlebnisse. Es ist die Geschichte über Verlust und Einsamkeit im Alter, einfühlsam und berührend.

Yellowface – Rebecca F. Kuang

AutorRebecca F. Kuang
VerlagHarper Collins Publ. UK
Datum16. Mai 2023
AusgabeBroschiert
Seiten323
SpracheEnglisch
ISBN-13978-0008532789

„The night I watch Athena Liu die, we’re celebrating her TV deal with Netflix.“ (Zitat Seite 1)

Inhalt

Mit dem oben zitierten Satz beginnt dieser Roman. June Hayward und Athena Liu, zwei jungen Autorinnen, sind seit der Collegezeit befreundet. Im Gegensatz zu June, die immer noch vom großen Durchbruch träumt, wurde bereits der erste Roman von Athena ein gefeierter Bestseller und Athena ist seither eine in den Medien präsente, sehr erfolgreiche Autorin. Eines Abends, genau genommen ist es Mitternacht, feiern sie in Athenas Appartement, als diese bei einem plötzlichen Unfall stirbt. Kurz darauf präsentiert June das Manuskript für ihren neuesten Roman „The Last Front“, eine Geschichte über chinesische Arbeiter im Ersten Weltkrieg, und nicht nur ihr Agent ist sofort begeistert. Doch bald entstehen in den sozialen Medien brisante Diskussionen, nicht nur darüber, ob June, die den Roman unter ihren Vornamen Juniper Song veröffentlicht, als weiße Frau ohne chinesische Wurzeln einen Roman über ein Thema aus der chinesischen Geschichte schreiben darf. Noch könnte June einige Dinge richtigstellen, doch andererseits hat sie nun endlich den Erfolg, der ihr ihrer Meinung nach zusteht.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Literatur, die vielen Aspekte der Literaturszene und der Social Media, um den kreativen Schreibprozess und die brisante Frage, wer worüber schreiben darf, um Identität und kulturelle Aneignung. Themen sind Erfolg, Eifersucht, Wahrheit und die erste Lüge, der immer mehr Lügen folgen.

Erzählform und Sprache

Rebecca F. Kuang wählt eine moderne Form des Erzählens. Einerseits lässt sie June selbst als Ich-Erzählerin ihre Geschichte schildern, was klar ist, denn nur June kann wissen, was wirklich vorgefallen ist. Vermutungen, wie verlässlich June als Erzählerin ist, ob sie den Ablauf dieses besonderen Abends, als alles begann, wirklich so beschreibt, wie es tatsächlich stattgefunden hat, bleiben uns Lesern überlassen. Was jedoch diese bekannte und oft verwendete Erzählperspektive in diesem Roman auszeichnet, sind Junes Gedanken und Meinungen zu den vielen auftretenden Konflikten und Themen, die sie mit uns teilt, ihre Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb und den omnipräsenten Usern der Social Media, aber auch ihre Schuldgefühle und Ängste. Gleichzeitig wendet June sich in ihren Überlegungen und auch Erklärungen der Hintergründe an uns Leser als imaginäre Gesprächspartner, und sucht durch ihre Argumente nach einer Bestätigung für ihre Entscheidungen. Dies führt dazu, dass man mit June mitempfindet, ihre Schuldgefühle und zunehmende Bedrängnis intensiv miterlebt. Obwohl sie als Figur nicht sehr sympathisch ist und ich ihrem lockeren Umgang mit geistigem Eigentum nicht zustimmen kann, habe ich bald gehofft, dass sie einen Ausweg aus ihren immer dichteren Verstrickungen und Probleme findet, gleichzeitig neugierig, was sie als nächstes tun wird.

Ich habe das englische Original gelesen und so auch die eindrückliche, sehr gut zu lesende Sprache genossen. Die deutsche Übersetzung trägt ebenfalls den Titel Yellowface und erscheint am 29. Februar 2024 im Eichborn Verlag.

Fazit

Eine facettenreiche, intensive Geschichte, spannend wie ein Kriminalroman, beklemmend durch unergründliche Vorfälle, ein überzeugendes Leseerlebnis.

Lichtungen – Iris Wolff

AutorIris Wolff
VerlagKlett-Cotta
Datum13. Januar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608987706

„Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“ (Zitat Seite 76)

Inhalt

„Wann kommst du?“ Mehr steht nicht auf dieser Karte, die Lev eines Tages von Kato aus Zürich erhält. Kato, in der Schule die eigenwillige Außenseiterin, auch in seinen Gedanken zunächst nur „das Mädchen“, hat vor vielen Jahren dem elfjährigen Lev, der über viele Wochen krank im Bett lag, die Hausaufgaben gebracht. Rasch wurde sie zu seiner besten Freundin. Dennoch trennen sich ihre Wege, als Kato, sobald es endlich möglich ist, Rumänien zu verlassen und frei zu reisen, sich auf eine Reise durch Europa begibt, während Lev in Rumänien bleibt. Auch er beschließt zu reisen, doch seine Reise führt ihn nur auf den Spuren seiner Familie und Kindheit durch Rumänien. Nach dem Erhalt dieser Karte reist Lev nach Zürich und sie sehen einander nach vielen Jahren wieder. Es ist Sommer und die nächsten sechs Wochen lang reisen sie gemeinsam. „Für ihn war diese Reise ein Aufbruch, für sie in Übergang, vielleicht sogar Abschluss. Und doch hatten sie sich in diesen gegensätzlichen Bewegungen wiedergefunden.“ (Zitat Seite 10)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine tiefe Freundschaft zweier Menschen, die trotz der völlig gegenseitigen Entwicklung bestehen bleibt. Gleichzeitig ist es eine Geschichte über das Leben der Menschen im kommunistischen Rumänien, über die unterschiedlichen Identitäten, Herkunft, Sprache und Familiengefüge. „Seine Herkunft war in seinem Akzent, war ihm eingenäht in Kleidung und Schuhe.“ (Zitat Seite 22, 23) Damit verbunden ist die Frage, was Heimat bedeuten kann und wie das Aufwachsen in Unfreiheit unter einer Diktatur das spätere Leben prägt, ein wichtiges Thema.

Charactere

Die Künstlerin Kato ist gerne unterwegs, aber sie weiß nicht, was sie nach diesem Sommer tun wird, sie sehnt sich nach einer neuen Aufgabe. Levs Lebensmittelpunkt ist statisch und in Rumänien geblieben, in der dörflichen Umgebung seiner Heimat. Noch während des Ceaușescu-Regimes hätte er mit seinem Großvater Ferry nach Wien fliehen können, doch Lev bleibt in Rumänien. Ferry ist neben den beiden Hauptcharakteren eine der vielen weiteren Figuren, die jeweils für ihre unterschiedliche Herkunft, Wurzeln und persönliches Verhalten während und nach der Zeit der kommunistischen Diktatur stehen und so ein facettenreiches, intensives Bild Rumäniens bieten.

Erzählform und Sprache

Iris Wolff hat eine besondere Erzählform für ihren Roman gewählt, sie erzählt die Geschichte zeitlich chronologisch, jedoch rückwärtsgewandt, beginnend mit der Gegenwart und endend in Levs Kindheit. Damit ergeben sich beim Lesen nicht die Fragen, was wird als nächstes passieren, sondern, was ist damals passiert, wie erklären sich die unterschiedlichen Lebenswege und Entscheidungen von Lev und Kato. Neue Figuren tauchen auf und sind uns zunächst fremd, erst mit den nachfolgenden Kapiteln lernen wir sie kennen, ihre Geschichte und damit auch die Zusammenhänge. Eindrückliche Beschreibungen Rumäniens, seiner Dörfer und Städte, der Natur und vor allem auch der vielen unterschiedlichen Volksgruppen und der politischen Verhältnisse ergänzen die Handlung. Die Sprache ist leise, eindrücklich, poetisch und ist wunderbar zu lesen.

Fazit

Ein beeindruckender, lange nachhallender Roman, der durch die Erzählform und die Vielfalt wichtiger Themen überzeugt und dessen wunderbare Sprache das Lesevergnügen vollkommen macht.

Das späte Leben – Bernhard Schlink

AutorBernhard Schlink
VerlagDiogenes Verlag
Datum13. Dezember 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257072716

„Nein, für das Leben lässt sich keine Bilanz ziehen. Man macht dies und macht das, und am Ende war’s ein Leben. Mehr ist es nicht.“ (Zitat Seite 162, 163)

Inhalt

Der Jurist Martin Brehm ist sechsundsiebzig Jahre alt, als erfährt, dass er an Krebs in einem fortgeschrittenen Stadium erkrankt ist und ihm maximal noch ein halbes Jahr bleibt. Seit zwölf Jahren ist er mit der wesentlich jüngeren Künstlerin Ulla verheiratet und David, der gemeinsame Sohn, ist erst sechs Jahre alt. Welche gemeinsamen Erinnerungen kann er seinem Sohn hinterlassen, was kann und sollte er noch regeln und wie will er die nächsten Wochen für sich selbst gestalten?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Beziehung, Familie, Liebe, um das Abschiednehmen am Ende eines Lebens, um das Schaffen von gemeinsamen Erinnerungen und vor allem geht es darum, loszulassen.

Charactere

Martin Brehm blickt auf ein erfolgreiches Leben zurück, das von der Kindheit an davon geprägt ist, die Erwartungen zu erfüllen. Manchmal wurde er für kaltblütig gehalten, weil seine Gefühle sich immer erst mit einer gewissen Verzögerung einstellten. Seine Diagnose sieht er sachlich und die Situation wird für ihn rasch alltäglich.

Erzählform und Sprache

Martin steht im personalen Mittelpunkt des Geschehens und der Problematik, es ist seine Geschichte, die hier erzählt wird, seine Gedanken, Empfindungen und Überlegungen. Wir tauchen in seine Erinnerungen ein und sind gespannt auf seine Reaktion auf eine überraschende Entdeckung. Interessant ist es, Martins eigene Veränderung, die er in diesen Wochen durchläuft, mitzuerleben. Der Schriftsteller Bernhard Schlink erzählt auch diese Geschichte in seiner leisen, poetischen und präzisen Sprache.

Fazit

Eine einfühlsame Geschichte über die Entscheidung, wie ein Mensch die letzten Wochen seines Lebens selbstbestimmt verbringen will. Trotz des ernsten Themas ist es eine positive Geschichte, deren psychologische Elemente zum Nachdenken darüber anregen, wie man sich selbst in dieser Situation und mit diesem Wissen um die kurze, noch verbleibende Lebenszeit, entscheiden würde.

The Summer Without Men – Siri Hustvedt

AutorSiri Hustvedt
VerlagSceptre
Datum3 March 2011
AusgabeKindle Edition
Seiten225 (print-version)
SpracheEnglish
ASINB004Q9TK7A

“I will report on that later. Chronology is sometimes overrated as a narrative device.” (Zitat Seite 198)

Inhalt

Die fünfundfünfzig Jahre alte New Yorker Dichterin und Universitätsprofessorin Mia Fredricksen schlittert in eine ernste persönliche Krise, als ihr Mann Boris nach dreißig gemeinsamen Ehejahren eine Pause braucht. Rasch findet sie heraus, dass diese Pause eine wesentlich jüngere Kollegin ist. Sie beschließt, diesen Sommer als eigene Auszeit im ländlichen Ort ihrer Kindheit in Minnesota zu verbringen, umgeben von Frauen unterschiedlicher Generationen. Da sind ihre Mutter und deren vier lesebegeisterte Freundinnen, die älteste ist einhundertzwei Jahre alt. Spontan übernimmt Mia die Aufgabe, einen Lyrikkurs für Mädchen im Teenageralter zu geben. Sie hat ein Haus über den Sommer gemietet und freundet sich auch mit ihrer Nachbarin an, eine junge Mutter. Inzwischen hält Mias Tochter Daisy in New York den Kontakt zu ihrem Vater aufrecht.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um unterschiedliche Frauen aus verschiedenen Generationen, ihre Probleme, Konflikte, Freundschaft, Beziehungen, Ehe, Familie und die Erkenntnis, dass es möglich ist, in jeder Lebensphase neue Wege gehen zu können.

Erzählform und Sprache

Siri Hustvedt wählt hier eine moderne Schreibform, durchbricht die chronologischen Abläufe oft durch eigene Bewusstseinsströme, gedankliche Ausflüge in die Literatur, Erinnerungen, um dann nach einigen Umwegen wieder über die Ereignisse dieses aktuellen Sommers zu berichten. Die Sprache bringt Ruhe in die facettenreichen Handlung und ist einfühlsam, ehrlich und übt durchaus humorvoll Selbstkritik. Ich habe das englische Original gelesen, im Juni 2024 wird bei Rowohlt Taschenbuch eine neue Sonderausgabe von „Der Sommer ohne Männer“ erscheinen.

Fazit

Die Geschichte eines Sommers, in deren Mittelpunkt Frauen aller Alters- und Lebensstufen stehen, mit zeitlos aktuellen Themen.

„What I Loved – Siri Hustvedt

AutorSiri Hustvedt
VerlagSceptre
Datum19. Januar 2012
AusgabeKindle-Ausgabe
Seiten386 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ASINB006W2V0QI

„Every story we tell about ourselves can only be told in the past tense. It winds backward from where we now stand, no longer the actors in the story but its spectators who have chosen to speak.” (Zitat Seite 364)

Inhalt

1975 entdeckt Leo Hertzberg, Professor für Kunstgeschichte, in einer Galerie ein Gemälde eines damals noch weitgehend unbekannten Künstlers, das ihn durch die darin verborgene Aussagen sofort beeindruckt und eine Woche später kauft er es. William Wechsler, der Künstler, wollte wissen, wer sein Bild gekauft hatte und seit dem ersten persönlichen Treffen verbindet Leo und Bill eine enge Freundschaft. Fünfundzwanzig Jahre ist das nun her und Leo erzählt die Geschichte ihrer beiden Familien, die untrennbar miteinander verbunden sind.

Thema und Genre

Dieser Roman spielt in New York, im lebhaften Künstlerviertel SoHo, und es geht um Freundschaft, Ehe, Eltern und Kinder, um Lebensentwürfe und die Suche nach künstlerischen Ausdrucksformen, Künstlerleben und den Kunstmarkt. Wichtige Themen sind Psychologie und Gefühlswelten, Beziehungen zwischen Liebe und Obsession, Verlust, Trauer, Hoffnung und Enttäuschungen.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird ausgehend von der Gegenwart rückblickend erzählt, wobei ein chronologischer Zeitablauf, beginnend fünfundzwanzig Jahre zuvor, eingehalten wird. Dieser Rahmen wird jedoch durch viele weitere Ereignisse unterbrochen, an die sich der Ich-Erzähler Leo Hertzberg spontan erinnert. Da geht um um prägende Erlebnisse aus der Kindheit, Erinnerungen an die Eltern, aber auch einzelne Situationen und die damit verbundenen Gefühle. Im Mittelpunkt stehen zwei Familien: Leo Hertzberg, seine Ehefrau Erica Stein, Anglistin, der gemeinsame Sohn Matthew, und Bill Wechsler, seine erste Ehefrau, die Lyrikerin Lucille Alcott, der gemeinsame Sohn Mark, sowie Bills zweite Ehefrau, die Historikerin Violet Blom. Dazu kommen weitere wichtige Figuren, die durch ihr Verhalten das Leben der beiden Familie entscheidend beeinflussen. Ergänzt wird die Handlung durch eine lebhafte Schilderung der New Yorker Künstlerszene und kritische Betrachtungen des Kunstsektors. Siri Hustvedts Figuren zeichnen sich durch eine starke Präsenz und eine intensive Gefühlswelt aus, was diesen Roman eindrücklich und packend macht, zusammen mit gekonnt eingesetzten Spannungselementen. Diese Intensität spiegelt sich auch in der Sprache wider. Ich habe den Roman in der Originalsprache gelesen, die deutschsprachige Ausgabe trägt den Titel „Was ich liebte“.

Fazit

Eine komplexe, intensive und menschlich sehr kluge Geschichte, auch sprachlich überzeugend – keine Neuerscheinung, aber zeitlos lesenswert.

Alle ungezählten Sterne – Mirko Bonné

AutorMirko Bonné
VerlagSchöffling
Datum27. Juli 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten332
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895613487

„Ich hatte eine junge Marsianerin bei mir zu Gast, nach einer Bruchlandung bei mir untergekrochen. Sobald Gefühle ins Spiel kamen, wurde alles, was sie von sich gab, kryptisch, und ich fragte mich, ob das Absicht war, fragte mich aber zugleich, zu welchem Zweck ich mich überhaupt auf sie einließ.“ (Zitat Seite 32, 33)

Inhalt

Der Ingenieur Benno Romik, ist beinahe siebzig Jahre alt und trotz seiner Pensionierung noch fallweise als sachverständiger Brückenkommissar in Hamburg tätig. Soeben hat er erfahren, dass seine Krankheit ihm nur mehr eine in Tagen abzählbare Restlebenszeit gewährt. Es ist in einer sternenklaren Julinacht, als Benno Romik auf seinem Balkon schläft, um dies ein Mal in seinem Leben getan zu haben, als um exakt 2 Uhr 48 ein geparktes Auto in Flammen aufgeht und die darauffolgende Explosion Hollie Magenta, einundzwanzig Jahre alt, unangepasst, tough, zornig und abweisend, in sein Leben wirbelt. Brücken begleiten sein Leben, er bewundert sie, begutachtet sie, doch er hat keine gebaut, nur in seinem Flur steht ein riesiges Modell. Nun muss er eine Brücke zu bauen, von Mensch zu Mensch, um alle gegenseitigen Vorurteile und das Unverständnis zwischen den Generationen zu überbrücken, eine Brücke, die auch ihm neue Wege eröffnen könnte

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben in den Unsicherheiten und Brüchigkeiten unserer aktuellen Zeit, von der älteren Generation teilweise schwer zu verstehen und um die Unterschiede zwischen den Generationen, die intensiver und unüberbrückbarer scheinen, als je zuvor. Im Zentrum stehen Brücken, real, oft Symbole, das Universum mit der Vielfalt an nicht zu fassenden Sternen und die ebenso schwer zu fassende Vielfalt an zwischenmenschlichen Beziehungen.

Erzählform und Sprache

„Das Gute an jedem Ende: Alles ist Vergangenheit. Auf mich kommt nichts mehr zu, ich habe die Zukunft hinter mir.“ (Zitat Seite 18) Mit diesem Argument bricht der Ich-Erzähler Benno Romik aus der Chronologie seiner Lebensgeschichte aus, er will nicht mehr schildern, sondern spontan erzählen. Sein Leben teilt er gedanklich in fünf Teile ein, beginnend mit der Kindheit und endend mit Hollie Magenta. Er folgt dem Ablauf der aktuellen Ereignisse, deren Zeitrahmen wenige Wochen umfasst, doch unterbricht er diese durch seine Erinnerungen und weit gefächerten Gedankenflüge, ungeordnet, wie sie sich ergeben. Er ist immer noch ein Suchender in seinem Leben, und diese Tage mit Hollie, die Gespräche und Auseinandersetzungen, stellen auch sein bisheriges Leben in Frage. Einfühlsam, aber mit einer geradlinigen Offenheit, geht Mirko Bonné mit seinen zwei Hauptfiguren um, und ebenso präzise umgibt er sie mit einem Kreis von ihnen nahestehenden Figuren, die zumindest in den Gedanken immer präsent sind und ihr Leben geprägt haben und immer noch prägen. Er ist ein poetischer Erzähler, der uns mit dieser Geschichte und seiner Sprache sofort in seinen Bann zieht. Er spielt mit Anlehnungen an literarische Vorbilder, schafft metaphorische Gedankenbilder, doch er lässt es uns frei, ob wir auch diesen, oder nur der Handlung folgen wollen.

Fazit

Ein großartiger Roman, literarische Magie, die mich zunächst sprachlos machte. Eine Geschichte, der man von der ersten bis zur letzten Seite gebannt und ohne Unterbrechungen folgen will und es gleichzeitig bedauert, schon auf der letzten Seite angelangt zu sein.

Irgendwo. Aber am Meer – Arnold Stadler

AutorArnold Stadler
VerlagS. Fischer
Datum29. März 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3100751317

„Ich hatte den Verdacht, dass sie auf Schloss Sayn eigentlich Greta Thunberg hatte hören wollen und mir übelnahmen, dass ich nicht Greta Thunberg war, sondern ein weißer Alter, der für alles verantwortlich gemacht werden konnte.“ (Zitat Seite 13)

Inhalt

Seit etwa zwanzig Jahren verbringt ein Schriftsteller mehrere Wochen im Sommer auf der griechischen Insel Lefkada, als Gast im Haus seines Schwagers Micha und mit nachdenklichem, sehnsüchtigen Blick auf die Insel Ithaka. Diesmal freut er sich noch mehr als sonst auf diese Reise, denn er fährt mit seinem neuen Auto, einem nicht unbedingt klimafreundlichen SUV. Doch vor diesen glücklichen Sommertagen liegt eine Lesung aus seinem nächsten neuen Buch, auf Schloss Sayn im Westerwald, am Himmelfahrtstag. Die anschließende Diskussion, im Programm modern als „Talk“ bezeichnet, wird für ihn zum Fiasko, denn plötzlich dreht sich die Diskussion nicht um sein Buch, sondern um die Energiekrise und Greta Thunberg und aus dem Publikum tönt der Ruf „Altmännergeschwätz“. So wird Sayn zu einem Fixpunkt in seinen Gedanken, der ihn auch auf seiner Reise nach Lefkada begleitet, zusammen mit der Frage, wo sein Platz im Leben ist und ob jemand, der wie er schon viele Jahre durch das Leben wandert, unbedingt ein Ziel haben muss.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Romans steht ein älterer Schriftsteller mit seinen Gedanken zu aktuellen Themen unserer Zeit, mit seinen Fragen, Lebenserfahrungen, und Erinnerungen, mit seiner Sehnsucht nach einem Ort, wo er dem Leben zuschauen kann.

Erzählform und Sprache

Die Handlung verläuft chronologisch während der Sommermonate, im Mittelpunkt stehen Reisen, die Rückreise von einer Lesung, und einige Wochen später die Reise nach Griechenland, und dann die Wochen auf Lefkada. Doch dies ist nicht mehr als eine Art Rahmen, der die Vielfalt der Gedanken und Überlegungen des Schriftstellers als Ich-Erzähler umfasst. Wer wissen möchte, wie sich eine moderne, immer wieder überraschende Interpretation der Erzähltechnik „stream of consciousness“ (Bewusstseinsstrom) liest, wird in diesem Buch fündig. Da genügt ein Satz, um die Überlegungen zu einem bestimmten Gedanken oder Ereignis einzuleiten, und etwas später beginnt mit genau dem gleichen Satz eine neue Gedankenreihe, diesmal jedoch eine völlig andere Sichtweise. Es ist dieses scheinbar so Ungeordnete im Bewusstsein des Ich-Erzählers und die gekonnte Umsetzung, dazu die Ausdruckskraft der Sprache, die den Sog dieses Romans ausmachen.

Fazit

„Und so schöne Fragen, die mir auch nicht weiterhalfen, drängten sich schon wieder in meinem verqueren Inneren. Würde ich als Mann der schönen Sätze enden?“ (Zitat Seit 151) Diese Sorge des selbstkritischen Ich-Erzählers ist unbegründet, auch wenn er für die Fülle seiner Fragen, die er an sich selbst und an das Leben stellt, nicht immer Antworten findet und wenn, dann mehr als eine. Ein literarisches, poetisches, aber auch herausforderndes Leseerlebnis.

Ein Winter in Istanbul – Angelika Overath

AutorAngelika Overath
Verlagbtb Verlag
Datum12. April 2023
AusgabeTaschenbuch
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3442773220

„Es war dieser eine Winter in Istanbul, der bald vorbei sein würde. Warum sollte er nicht einen Winter haben! Einen Winter nur für sich.“ (Zitat Seite 169)

Inhalt

Cla, fünfundvierzig Jahre alt, Religionswissenschaftler, ist Gymnasiallehrer an einer internationalen Schule im Engadin. Sein Spezialthema ist der Dialog zwischen den Religionen und als ihm die Stiftung einer Schweizer Privatbank ein Forschungsstipendium in Istanbul anbietet, nimmt er dieses an. Während ihn sein Cusanus-Projekt zurück in den Winter 1437/38 führt, entdeckt er durch Baran, einen jungen Kellner, Stadtführer, Schauspieler, Übersetzer mit türkisch-griechischen Wurzeln, das heutige Istanbul im Winter abseits der Touristenwege. Er verliebt sich in diese lebhafte, bunte, vielseitige Stadt, und nicht nur in die Stadt. Seit zwei Jahren lebt er in einer festen Beziehung mit Alva, doch nun fragt er sich, ob er dabei ist, sich zu verlieren, oder ob er sich gerade erst wirklich findet.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es einerseits um mögliche Dialoge zwischen den Religionen, um das vor sechshundert Jahren gespaltene Konstantinopel und um das heute ebenso gespaltene Istanbul. Gleichzeitig geht es um wichtige persönliche Entscheidungen, Selbstfindung, mögliche neue Lebenswege und die Liebe in vielen Facetten.

Erzählform und Sprache

Angelika Overath schildert abwechselnd die Begegnungen, Entdeckungen und Erlebnisse von Cla während der Wintermonate in der heutigen Zeit und die geschichtlichen Ereignisse einer Reise, die vor beinahe sechshundert Jahren, ebenfalls im Winter, stattfand. Die Handlung ist eingebettet in poetische, lebhafte und eindrückliche Beschreibungen der ungemein vielfältigen Schönheit der Stadt Istanbul. Diese Geschichte von Cla, Alva und Baran wird in dem Roman „Unschärfen der Liebe“, erschienen am 12. April 2023, fortgesetzt. Ich habe die beiden von der Art des Erzählens her völlig unterschiedlichen Bücher in umgekehrter Reihenfolge gelesen und es hat mein Lesevergnügen nicht geschmälert.

Fazit

Angelika Overath ist eine wunderbare, vielseitige Erzählerin, deren Sprache alle Facetten zwischen einfühlsam, poetisch, nachdenklich, kritisch und lebhaft, spannend umfasst.

Der graue Peter – Matthias Zschokke

AutorMatthias Tschokke
Verlag Rotpunktverlag
Erscheinungsdatum 15. März 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3858699770

„Es gibt solche, die spannende Geschichten zu erzählen haben, und solche, die nichts zu erzählen haben. Oder die möglicherweise viel zu erzählen hätten, das aber nicht von sich wissen, weil sie nichts in sich eindringen, sondern alles an sich abperlen lassen wie an einer Regenhaut.“ (Zitat Seite 12)

Thema

Es geht um einen Mann, Peter, unauffällig, ein introvertierter Einzelgänger, ein grauer Peter in einem grauen Leben, der sich auf einer Bahnfahrt von Nancy nach Basel plötzlich um einen alleinreisenden Jungen kümmern muss, der in Basel von seinem Onkel erwartet wird.

Meine Meinung

Hans Ulrich Probst bezeichnet Zschokke als einen Meister der Gestaltung der Ereignislosigkeit und ich stimme nur teilweise zu, ich fand nichts Meisterhaftes und Poetisches, dafür aber die Ereignislosigkeit in einem gleichförmiges Dahinplätschern der Handlung mit einigen irritierenden Momenten zwischen einem alten Mann und einem achtjährigen Jungen.

Sich lichtende Nebel – Christian Haller

AutorChristian Haller
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Datum15. Februar 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten128
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630877334

„Der junge Wissenschaftler spürte, dass diese konkrete und anschauliche Beobachtung in einer Verbindung zu den besprochenen theoretischen Problemen stand. Von welcher Art diese war, blieb ihm unklar, und er war auch zu müde, um weiter darüber nachzudenken.“ (Zitat Seite 8)

Inhalt

Im Frühjahr 1925 beobachtet der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg, Gastdozent am Kopenhagener Physik-Institut, zu später Stunde im Faelledparken interessiert eine schattenhafte Gestalt. Ein Mann, der im Lichtkreis der Straßenlaterne auftaucht, dann unsichtbar im Dunkel verschwindet und kurz darauf im nächsten Lichtkreis wieder auftaucht. Die Gedanken des Wissenschaftlers beginnen um die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens im nächsten Lichtkreis zu kreisen. Noch ahnt er nur vage, dass diese Beobachtung kurz darauf, während eines Aufenthaltes auf Helgoland, eine wichtige Rolle bei der Entwicklung seiner Quantentheorie spielen wird. Der einsame Spaziergänger dagegen ahnt nichts von seinem Beobachter. Helstedt ist ein emeritierter Professor für Geschichte, und sein Leben ist von Trauer, Einsamkeit und Erinnerungen geprägt.

Thema und Genre

In dieser Novelle geht es um die Fragen des Lebens, um Verlust, Trauer, Alter, Einsamkeit, um Quantenphysik, Philosophie. Ein Thema sind die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung, verbunden mit der Frage, ob wirklich nur existiert, was man auch mit Worten beschreiben kann.

Charactere

Die beiden Hauptfiguren, den jungen Wissenschaftler Heisenberg und den  Geschichtsprofessor im Ruhestand, verbinden zwei Dinge, eine kurze, zufällige Begegnung, die allerdings nur von Heisenberg wahrgenommen wird, und die persönliche Einsamkeit. Doch während sich diese bei Helstedt durch die Trauer über den Tod seiner Ehefrau nach dreißig gemeinsamen Ehejahren ergibt, sucht Heisenberg die Einsamkeit der Natur auf der Insel Helgoland, um in Ruhe über seine physikalischen Fragen im Zusammenhang mit dem Atommodell nachzudenken.

Erzählform und Sprache

Es sind zwei unterschiedliche Lebenswege und Schicksale, die in dieser Novelle abwechselnd erzählt werden und die Christian Haller durch eine kurze Momentaufnahme, eine zufällige und unbewusste Begegnung, verbindet. Doch dieser Moment hat Auswirkungen auf beide Männer, denn auch in Helstedts Leben bahnen sich Veränderungen an. Die klare, genau beobachtende Sprache vertieft die besondere Art dieser Geschichte.

Fazit

Eine dichte, komplexe Geschichte auf verhältnismäßig wenigen Seiten, die gerade deshalb fasziniert und viel Platz für einige Überlegungen lässt.

Der Kartograf des Vergessens – Mia Couto

AutorMia Couto
VerlagUnionsverlag
Datum11. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinKarin von Schweder-Schreiner
ISBN-13978-3293006119

„Wie gern würde ich vor den Erinnerungen fliehen, aber jetzt liegt die Vergangenheit vor mir ausgebreitet auf meinem Bett.“ (Zitat Seite 16)

Inhalt

Der Dichter und Literaturprofessor Diogo Santiago kehrt nach vielen Jahren in seine Geburtsstadt Beira zurück. Liana Campos moderiert die Veranstaltung, die zu seinen Ehren stattfindet. Später, als er schon wieder in seinem Hotelzimmer ist, erhält er einen Karton voller alter Dokumente, Fotografien und Notizblätter. Die Unterlagen sind von Liana Campos, ihr Großvater Óscar Campos war jener Inspektor der PIDE, der Diogos Vater, den Dichter Adriano Santiago, vor etwa vierzig Jahren verhaftet hatte. „Es ist ungerecht, eine Vergangenheit zu erben. Als würde uns die Zeit an den Füßen festgebunden.“ (Zitat Seite 17) Liana, bei Pflegeeltern aufgewachsen, ist auf der Suche nach ihrer Mutter, sie braucht Geschichten, um die Lücken in ihrer Vergangenheit zu füllen. Auch Diogo will sich seinen Erinnerungen stellen, hat gleichzeitig Angst davor. „Mich lähmt die Befürchtung, meine Vergangenheit nicht wiederzufinden, vor allem aber die Vorstellung, eine Stadt zu erleben, die ich letztlich nicht kenne.“ (Zitat Seite 21) Gemeinsam beginnen Diogo und Liana nach Antworten zu suchen, doch zunächst tauchen viele neue Fragen auf.

Thema und Genre

Dieser Roman spielt in Mosambik, in der Zeit der Befreiungskriege und aktuell im Jahr 2019. Themen sind die Geschichte Mosambiks als portugiesische Kolonie, vor allem jedoch die Schicksale der Menschen und Familiengeheimnisse. Es geht um das Erinnern und das Vergessen der Vergangenheit.

Charactere

Mia Couto unterstreicht seine Geschichte durch unterschiedliche, in ihren Konflikten, Gefühlen, Beweggründen und Handlungen authentische Figuren, welche die Handlung mit Leben füllen.

Erzählform und Sprache

Die aktuelle Handlung umfasst einen knappen Zeitraum zwischen dem sechsten und vierzehnten März 2019 und hier ist Diogo der Ich-Erzähler, dadurch erhalten wir auch Einblick in seine persönlichen Erinnerungen. Die aktuelle Handlung wird durch Erzählstränge in Form von Dokumenten, Aufzeichnungen und Schilderungen von wichtigen Eeignissen ergänzt, die bis ins Jahr 1951 zurückreichen, hauptsächlich jedoch im Jahr 1973 stattfanden. Die einander abwechselnden Kapitel fügen sich im Lauf der Geschichte zusammen, manchmal als Antworten auf Vermutungen, dann wieder mit überraschenden neuen Fragen und Möglichkeiten. Diese Art des Erzählens, die Varianten der Erzählform und Sprache ergeben eine eindrückliche, packende Geschichte.

Fazit

Ein Roman für interessante, spannende Lesestunden, der durch die Poesie der Sprache, die Vielfalt der Erzählformen und Figuren und die überaus gekonnt sich langsam aus vielen Einzelteilen verknüpfenden Geschichten überzeugt.

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