Der Landvermesser – Björn Kuhligk

AutorBjörn Kuhligk
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 5. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten176
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650790

„Ja, vielleicht könnte auch er, wenn er wollte, den Rest seines Lebens in der U-Bahn sitzend in seinen Erinnerungen spazieren gehen, wie durch eine seit langem verlassene und doch vertraute Stadt.“ (Zitat Seite 96)

Inhalt

Alexander Müller, vierundvierzig Jahre alt, führt ein geordnetes Leben, ereignislos, farblos, ein Tag reiht sich im immer gleichen Ablauf an den nächsten, weil er es so will. Bis aus einem gerade begonnenen Urlaub, zwei Tage auf der Insel Hiddensee, plötzlich dreißig Tage in Cartagena, Kolumbien, werden. Kolumbien, seit Jahren die neue Heimat seines um ein Jahr älteren Bruders Thomas. Schon lange haben die Brüder keinen Kontakt mehr und nun ist Thomas tot. Durch Laura, die Freundin seines Bruders und José, den besten Freund seines Bruders, lernt er eine ihm unbekannte Seite seines Bruders kennen. Thomas, von Beruf Botaniker, wird in seiner neuen Heimat „El topógrafo“ genannt, der Landvermesser, doch womit hat er das Vermögen verdient, das er hinterlassen hat?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Gefühle und Ängste, Verlust, Distanz, Nähe, Entscheidungen und neue Möglichkeiten. Ein Thema sind auch die politische Situation und das alltägliche Leben in Kolumbien.

Charaktere

Alexander ist die Hauptfigur in diesem Roman und ist in seiner geordneten, ängstlichen, zögerlichen Biederkeit und deutschen Gründlichkeit der Antiheld im Gegensatz zu seinem unangepassten Bruder, der sich nie untergeordnet hat und sein Leben so gelebt hat, wie er es für richtig hielt.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt und durch viele Erinnerungen Alexanders an prägende gemeinsame Erlebnisse der beiden Brüder Thomas und Alexander ergänzt. Die Spannung ergibt sich sich vor allem aus den vielen Gedanken und der Zögerlichkeit des Hauptprotagonisten Alexander. Seine Selbstzweifel, seine Ängste und für ihn überraschende Gefühle führen zu Konflikten. Alexander hatte zuvor noch nie Europa verlassen und findet sich nun plötzlich mitten in den lauten, farbenfrohen, extremen Eindrücken Kolumbiens wieder, die sich in diesen Tagen mit den Schilderungen von Laura und José über das Leben, das Tomás in Kolumbien geführt hat, zu einer völlig neuen Geschichte verbinden. Die intensiven Beschreibungen der Schönheiten der Natur und der lebhaften, pulsierenden Stadt Cartagena runden diesen Roman zu einem lesenswerten Ganzen ab.

Fazit

Eine vielseitige Geschichte, in der es um die Überraschungen in einem bisher ereignislosen Leben geht und die Schwierigkeit, die eigenen Ängste zu überwinden und sich auf Veränderungen und neue Möglichkeiten einzulassen.

Herz der Finsternis – Joseph Conrad

AutorJoseph Conrad
Verlag Penguin Verlag
Erscheinungsdatum 13. Oktober 2022
FormatTaschenbuch
Seiten173
SpracheDeutsch
ÜbersetzerFritz Güttinger
ISBN-13978-3328109228

„Die einzelnen Abschnitte des Stroms taten sich vor uns auf und schlossen sich hinter uns, als sei der Urwald gemächlich über die Ufer getreten, um uns den Rückweg abzuschneiden. Immer tiefer drangen wir in das Herz der Finsternis ein.“ (Zitat Seite 74)

Inhalt

Während sie auf einer Kreuzerjacht auf der Themse die Flut abwarten, erzählt der Seemann Charlie Marlow seinen Freunden, die Berufe ausüben, wie sie auch in kolonialen Handelsgesellschaften typisch sind, von seiner Reise als Kapitän eines Flussdampfers auf dem Kongo. Der bekannte und äußerst erfolgreiche Agent Kurtz leitet einen wichtigen Handelsstützpunkt, weit abgelegen im Zentrum des Elfenbeingebietes. Nun jedoch sind diese Station und somit auch die wirtschaftlichen Erträge aus dem Handel mit Elfenbein gefährdet, denn Kurtz ist krank und Marlow soll ihn mit dem Dampfer holen. Doch je weiter diese Reise auf dem Fluss führt, hinter dessen Ufern sich der dunkle, unwegsame Dschungel ausbreitet, desto  dunkler werden auch die Eindrücke, die Marlow nicht nur in der Natur, sondern auch im menschlichen Verhalten sammelt.

Thema und Genre

Diese Erzählung, 1899 zunächst als Serie in einem Magazin veröffentlicht, 1902 als Buch, ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus im späten neunzehnten Jahrhundert, der damit verbundenen Menschenverachtung und Grausamkeit gegenüber den ursprünglich dort lebenden Menschen und ihre Ausbeutung.

Charaktere

Neben einem namenlosen Ich-Erzähler der Rahmenhandlung ist es der Seemann Charlie Marlow, der seine eindrücklichen Erlebnisse auf seiner Reise zu einer abgelegenen Handelsstation schildert. Doch im Mittelpunkt seiner Geschichte steht Kurtz als zunächst omnipräsenter Schatten.

Handlung und Schreibstil

Der Seemann Charlie Marlow schildert Erlebnisse, Erfahrungen und auch Eindrücke, die ihn auch heute noch verfolgen. Chronologisch erzählt er von dieser abenteuerlichen Reise auf dem Kongo, beschreibt seine vielseitigen Gedanken über die Eindrücke der ihm fremden Natur und über den ihm vorerst noch unbekannten Agenten Kurtz, der ein besonderer Mensch sein soll.

Auch diese Geschichte des Schriftstellers Joseph Conrad hat autobiografische Hintergründe, seine Erfahrungen aus seiner aktiven Zeit bei der französischen und britischen Handelsmarine und vor allem die Erlebnisse seiner Kongo-Reise als Kapitän eines kleinen Dampfbootes.

Diese Ausgabe ist neu als Penguin Edition der Klassiker erschienen und in der editorischen Notiz am Buchende wird begründet, warum man die Sprache nicht unserem heutigen Verständnis angepasst hat, sondern die deutsche Übersetzung in der Sprache der ursprünglichen englischen Originalausgabe belassen hat. Dem kann ich persönlich nur zustimmen, denn Klassiker sind immer auch zeitlos gültige Dokumente der Zeit, in der sie verfasst wurden.

Fazit

Die Romane und Erzählungen von Joseph Conrad zählen zu den wichtigsten Werken der englischen Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese Erzählung, längst ein Klassiker, war 1899 einerseits einer der ersten Beiträge zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, gleichzeitig ist es ein spannend zu lesender Abenteuerroman.

Die geheimste Erinnerung der Menschen – Mohamed Mbougar Sarr

AutorMohamed Mbougar Sarr
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH
Erscheinungsdatum 24. November 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten448
SpracheDeutsch
ÜbersetzerHolger Fock
ÜbersetzerinSabine Müller
ISBN-13978-3446274112

„Elimane hatte sich dort hingesetzt und die drei stärksten Trümpfe ausgespielt, die man haben konnte: Zuerst hat er sich einen Namen mit geheimnisvollen Initialen zugelegt; dann hat er nur ein einziges Buch geschrieben; und zuletzt ist er spurlos verschwunden.“ (Zitat Seite 16)

Inhalt

Das Labyrinth des Unmenschlichen“, ein ebenso umjubeltes wie kritisiertes Buch von T.C. Elimane, wurde 1938 in Paris veröffentlicht. Kurz darauf verschwindet der Autor und auch das Buch ist seither unauffindbar. Diégane Latyr Faye kennt den Namen T.C. Elimane schon seit seiner Zeit auf dem Gymnasium in Senegal. Er träumt davon, Dichter zu werden, interessiert sich für Literatur und entdeckt 2008 im Handbuch der schwarzafrikanischen Literatur einen Artikel über T.C. Elimane und sein Buch. Inzwischen studiert Diégane in Paris, hat seinen ersten Roman veröffentlicht und schreibt an seiner Doktorarbeit. Er hat Elimane und das verschwundene Buch nicht vergessen, aber seine Nachforschungen bleiben erfolglos, bis er eines Tages im Juli 2018 die die senegalesische Schriftstellerin Siga D. kennenlernt. Denn diese besitzt eine Ausgabe von „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ und gibt es ihm zu lesen. Das Buch zieht ihn sofort in seinen Bann und er will wissen, was damals wirklich passiert ist. Entschlossen folgt er den Spuren des geheimnisvollen Autors T.C. Elimane.

Thema und Genre

Dieser Roman gleicht einer mit einer Fülle von Ideen, vielseitigen Themen, unterschiedlichen Sprach- und Erzählformen gefüllte Schatztruhe, es geht um Literatur, Literaturkritik, das Schreiben, um den Umgang mit Werken aus anderen Sprachräumen und Kulturkreisen. Ein Thema ist die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen der eigenen Identität, der persönlichen Geschichte, den Erinnerungen der Familie und der Vorfahren, und der Geschichte, die man als Schriftsteller erzählen will. Auch die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit spielt in diesem Roman eine wichtige Rolle.

Charaktere

Die Namen der Figuren sind fiktiv, doch die Bezüge zur Realität sind deutlich. Jede der einzelnen Figuren, deren Geschichte wir folgen, fügt sich nach Irrwegen und Überraschungen in das Ganze ein. Das Leben der beiden Hauptfiguren Diégane und Elimane weist zudemde utliche Parallelen auf, wenn auch durch Jahre getrennt.

Handlung und Schreibstil

Diéganes aktuelle Geschichte und die intensive Suche nach T.C. Elimane finden innerhalb eines kurzen Zeitraumes statt, es sind die einzelnen Geschichten innerhalb dieser Geschichte, die ein faszinierendes Labyrinth von Menschen und ihren Schicksalen bilden. Der Autor wechselt zwischen Erzählformen, Perspektiven und Sprache, wir finden Auszüge aus Tagebüchern, Zeitungsartikeln, Abhandlungen, Briefen und Biografien. Der Autor nimmt sich Zeit für die Schilderung der Konflikte, der Gefühlsebene seiner Figuren, für die Beziehungen und natürlich auch für die Liebe, wo die Sprache zur Poesie wird. Handlung und Sprache entfalten so eine Vielseitigkeit, die sich jedoch nie verliert und auch offene Fragen beantwortet, die Dinge langsam zusammenfügt und wichtigen Anliegen verbindet.

Fazit

„Eines zumindest kann man über einen Schriftsteller und sein Werk mit Gewissheit sagen: Beide gehen zusammen durch das denkbar vollkommenste Labyrinth, ein langer Rundweg, auf dem ihr Ziel und ihr Ausgangspunkt ineinander übergehen: die Einsamkeit.“ (Zitat Seite 13) Für mich ist dieser Roman einer der Höhepunkte meines Lesejahres 2022, denn hier stimmt einfach alles, die Sprache, die vielen unterschiedlichen Geschichten und Figuren, und immer wieder die Literatur und die Suche von Schriftstellern nach der eigenen Ausdrucksform. Nach dem Lesen der Beschreibung auf der Buchrückseite und des Klappentextes wusste ich nicht genau, was mich erwartet, ich war auf jeden Fall sofort neugierig auf diesen Roman. Was auch immer ich erwartet hatte, es wurde auf jeden Fall übertroffen: ein faszinierendes Leseerlebnis.

Die Nacht, in der Jesus herabstieg – Sherzad Hassan

AutorSherzad Hassan
Verlag Klingenberg
Erscheinungsdatum 18. November 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten280
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinUte Cantera-Lang
ÜbersetzerRawezh Salim
ISBN-13978-3903284135

„Wir alle warten auf einen Fetzen Papier, um zu beweisen, dass auch wir das Recht auf Leben haben. Auf dem Papier steht geschrieben, warum, wie und wann wir geflüchtet sind – ein Haufen Geschichten, zusammengesetzt aus Wahrheiten und auch Lügen.“ (Zitat Seite 13)

Inhalt

Der nun sechsundvierzig Jahre alte Ich-Erzähler mochte schon als Kind keine Menschenmassen und alle hielten ihn für einen Einzelgänger. Diese Einsamkeit in ihm bleibt bestehen, auch als er längst erwachsen ist. Besonders tief sind die Einsamkeit und eine erdrückende Traurigkeit während der Weihnachtszeit. So auch in dieser Neujahrsnacht, in der er über sein Leben, seine ferne Heimat und Familie, über die Menschen und das endlose Warten auf seine Aufenthaltsbewilligung hier in Finnland nachdenkt. Genau diese Nacht wählt Jesus für seine Rückkehr auf die Erde und der kurdische Flüchtling, der allein bei Kerzenschein in seinem Zimmer in einem Flüchtlingsheim in Finnland sitzt, lädt ihn in sein Zimmer und auf ein Glas Wein ein. Aus dem Glas werden mehrere, aus dem Augenblick Stunden. Jesus ist gekommen, um alle Menschen an seine Botschaft zu erinnern, einander zu lieben. Doch seinem kritischen Gegenüber scheint der Zeitpunkt an diesem Tag, wo alle in Feierlaune sind und sicher keinen Prediger hören wollen, denkbar ungünstig. Andererseits ist er doch gespannt auf die Reaktion der Menschen.

Thema und Genre

Dies ist ein philosophischer, religionskritischer Roman mit zeitlos aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen. Anders als der Titel vermuten lässt, handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung allen Weltreligionen in unserer modernen Zeit. Der Ich-Erzähler steht der Hoffnung vieler Menschen auf eine neue Erlöserfigur kritisch gegenüber und auch dem Erlöser selbst. „Was gibt dir die Gewissheit, mich zu einem Fantasiegebilde degradieren zu können, und mich nicht als den anzuerkennen, der ich bin?“ (Zitat Seite 39)

Charaktere

Ein kurdischer Flüchtling in Finnland, Jesus Christus, für eine Nacht ebenfalls in Finnland, und viele Fragen.

Handlung und Schreibstil

1997 begann der Autor am Manuskript für diesen Roman zu schreiben, welcher im Jahr 2012 in kurdischer Sprache erschienen ist. Der Ich-Erzähler zeigt deutlich den autobiografischen Hintergrund. Die Geschichte spielt in einer einzigen Nacht, wird jedoch ergänzt durch Kindheitserinnerungen und die Erinnerungen an prägende Ereignisse, die der Ich-Erzähler seinem Gast schildert. Natürlich spielt auch das Leben Jesu vor beinahe zweitausend Jahren auf der Erde eine Rolle. Starke philosophische und metaphorische Momente lassen unserer Phantasie als Lesende viel Spielraum für eigene Gedanken und Überlegungen. Den beiden Übersetzenden ist es gelungen, die blumige, sehr poetische orientalische Ausdrucksweise auch in dieser deutschsprachigen Ausgabe beizubehalten.

Fazit

Ein interessantes, intensives Leseerlebnis, das viel Raum zum Nachdenken lässt. Mich hat die Inhaltsangabe auf diese Geschichte neugierig gemacht und ich wurde nicht enttäuscht. Es sind gerade die kleinen, unabhängigen Verlage, die bewusst und persönlich entscheiden, welche Titel sie herausbringen. Dieses überzeugte Engagement ermöglicht es uns Lesenden, die persönliche Lese-Wohlfühlzone öfter mal zu verlassen und dadurch völlig neue Eindrücke und Welten zu erkunden.

Das Eis-Schloss – Tarjei Vesaas

AutorTarjei Vesaas
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 20. Oktober 2021
FormatTaschenbuch
Seiten208
SpracheDeutsch
ÜbersetzerHinrich Schmidt-Henkel
ISBN-13978-3423148184

„Alles war Eis, und das Wasser spritzte dazwischen hervor und baute weiter, Stränge des Wasserfalls wurden vom Eis abgelenkt und schossen in neuen Betten dahin und bildeten neue Formen.“ (Zitat Seite 50)

Inhalt

Die elfjährige Unn ist Waise und erst vor kurzem zu ihrer Tante in das Dorf gezogen. Die gleichaltrige Siss fühlt sich von der scheuen Einzelgängerin angezogen. Doch am Tag, nachdem Siss Unn zum ersten Mal zu Hause besucht hat, verschwindet Unn auf dem Schulweg spurlos. Es ist erst Spätherbst, aber die klirrende Kälte hat den Wasserfall beim nahe gelegenen See zu einem gewaltigen Eis-Schloss gefrieren lassen. In der Schule hatten alle darüber gesprochen, wie großartig der Anblick war, ein Ausflug war geplant – war Unn an diesem Morgen schon alleine zu diesem gefrorenen Wasserfall gegangen?

Thema und Genre

In diesem 1963 entstandenen Roman des norwegischen Schriftstellers geht es um die beginnende Freundschaft zwischen zwei Mädchen. Als eines der Mädchen plötzlich verschwindet, prägt dieses Ereignis das zweite Mädchen und die gesamte Dorfgemeinschaft nachhaltig.

Charaktere

Unn ist eine scheue Einzelgängerin und als sie verschwindet, führen die Erinnerungen an Unn auch Siss in eine tiefe, selbst gewählte Isolation.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb eines knappen Zeitraums von wenigen Monaten. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht die elfjährige Siss und wir erleben, wie tief sie durch das Verschwinden ihrer neuen Freundin aus der Bahn geworfen wird. Täglich denkt sie an Unn, verspricht ihr in Gedanken, sich in eine ähnliche innere Einsamkeit zurückzuziehen, die auch Unn umgeben hatte. Die leise Sprache schildert einfühlsam die Gedankenwelt und Gefühle der jungen Siss, verbindet sie gleichsam mit der einprägsamen Beschreibung der unterschiedlichen Naturschauspiele des norwegischen Winters. Im Anhang an den Roman finden wir ein Nachwort, geschrieben von einer beeindruckten, begeisterten Doris Lessing.

Fazit

Eine magische, poetische Geschichte über Freundschaft, Verlust und Trauer, in der ein gewaltiges Naturschauspiel im kalten Winter Norwegens eine wichtige Rolle spielt, real und metaphorisch.

Winterkalt – Catherine Shepherd

AutorCatherine Shepherd
Verlag Kafel Verlag
Erscheinungsdatum 21. Oktober 2018
FormatTaschenbuch
Seiten340
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3944676210

„Es glitzert und strahlt. Das Licht bricht sich tausendfach und erschafft eine atemberaubende Zauberwelt, einen Palast aus Eis.“ (Zitat Seite 1)

Inhalt

Kriminalkommissar Florian Kessler erhält in einer kalten Winternacht einen Anruf. Er muss zu einem Tatort und bald danach bittet er die Rechtsmedizinerin Julia Schwarz, zu diesem großen Platz an dem kleinen, künstlich angelegten See mitten in Köln zu kommen. Zunächst sieht sie nur eine prächtige Eisskulptur, etwa zwei Meter hoch. Sie wird von extra aufgestellten Scheinwerfern angestrahlt. Dann erkennt Julia es: in der Statue schwebt eine tote Frau, eingefroren. Ein ungewöhnliches Kunstwerk, entsetzlich und gleichzeitig wunderschön. Eine Eiskönigin und ein Eiskünstler, der gerade erst begonnen hat …

Thema und Genre

Dieser Thriller ist Teil der Serie um die Kölner Rechtsmedizinerin Julia Schwarz, ist jedoch ein in sich abgeschlossener Fall und kann unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden. Starke psychologische Momente verbinden sich mit Themen aus dem Kunstbereich.

Charaktere

Julia Schwarz, in ihrem Institut wegen ihrer Unnahbarkeit heimlich „Eislady“ genannt, ist nicht nur eine brillante Rechtsmedizinerin, sondern auch eine hervorragende Ermittlerin. Ihr Chef lässt ihr zum Glück freie Hand, eng mit der Kriminalpolizei zusammenzuarbeiten. Zunächst etwas skeptisch ihrer neuen Assistentin Lenja Nielsen gegenüber, erkennt Julia rasch, dass diese ihr ähnlich ist, was Einsatz und rasche Auffassungsgebe betrifft und zudem sofort bereit ist, sie bei ihren gefährlichen Alleingängen zu begleiten.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung beginnt mit einem kurzen Prolog und verläuft chronologisch. Auch der Prolog passt bereits in die Abfolge der Ereignisse. Parallel zu den Ermittlungen werden weitere Geschichten abwechselnd geschildert, die zunächst keinen Bezug zu diesem Fall zu haben scheinen. Dazu kommen noch Szenen, in denen die Tatperson mit Gedanken und Handlungen im Mittelpunkt steht. Dies erlaubt eine Fülle von eigenen Überlegungen und  Vermutungen betreffend die Täterschaft, denn es gibt eine Reihe von Verdächtigen und alle könnten auch ein Motiv und das entsprechende Fachwissen über den Umgang mit Eis haben. Auch für persönliche Konflikte der Hauptfiguren nimmt sich die Autorin Zeit. Die Sprache passt zum Genre und zu dieser rasanten Geschichte.

Fazit

Ein spannender Thriller, sympathische Hauptfiguren und eine sehr gut entwickelte Geschichte mit Überraschungen und unvorhersehbaren Wendungen.

Mein Herz so weiß – Javier Marías

AutorJavier Marías
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 5. April 20212
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinElke Wehr
ISBN-13978-3596194599

„Jeder zwingt jeden, nicht so sehr, etwas zu tun, was er nicht will, als etwas zu tun, von dem er nicht weiß, ob er es will, denn fast niemand weiß, was er nicht will, es ist nicht möglich, das zu wissen.“ (Zitat Seite 217)

Inhalt

„Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe es erfahren …“ so beginnt dieser Roman. Juan, der nun erwachsene, seit weniger als einem Jahr selbst verheiratete Ich-Erzähler, wächst mit Andeutungen auf, die Ehefrauen seines Vaters Ranz betreffend. Es geht um Teresa, die kurz nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise gestorben ist. Teresa war Juans Tante, denn sein Vater hat später deren jüngere Schwester Juana geheiratet, Juans Mutter. Nach Juans Heirat mit Luisa mehren sich in Juans Bekanntenkreis Andeutungen an die Geschehnisse in der Vergangenheit und vor allem Luisa möchte wissen, was damals wirklich passiert ist. „Vielleicht hat er all diese Jahre darauf gewartet, dass in deinem Leben jemand wie ich auftaucht, jemand, der zwischen ihm und dir vermitteln kann, ihr Väter und Söhne seid sehr ungeschickt miteinander.“ (Zitat Seite 169)

Thema und Genre

In diesem Roman, heute ein moderner Klassiker, geht es um die Möglichkeiten der Sprache als Ausdrucksmittel und Kommunikationsform, um Beziehungen, Familie, um Geheimnisse der Vergangenheit, die auch in der Gegenwart präsent sind und diese prägen und um die Frage, ob Verschweigen bereits eine Lüge ist. Wird eine Schuld durch ein Geständnis geringer, oder aber, indem man darüber schweigt und sie eines Tages dann weit zurück in der nicht mehr veränderbaren Vergangenheit liegt?

Charaktere

Juan arbeitet als Dolmetscher und Übersetzer, wie auch Luisa, mit der er seit knapp einem Jahr verheiratet ist. Sogar seine Gedanken sind von der Kraft der Sprache und der Worte durchdrungen. Am Tag seiner Hochzeit fragt ihn sein Vater: „was nun?“ und genau diese Frage stellt sich auch Juan bereits während der Hochzeitsreise und immer wieder in den Monaten danach.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb einer Gegenwart, die nicht ganz ein Jahr umfasst, und einer erinnerten nahen und ferneren Vergangenheit. Die Handlung besteht aus einzelnen Episoden, deren Zusammenhänge man erst gegen Ende der Geschichte erfährt, oder auch nicht. Juan schildert seine Geschichte als Ich-Erzähler, wobei seine Gedanken, Überlegungen, Befindlichkeiten und Ängste den größten Raum dieses Romans einnehmen. Es ist bekannt, dass bei Javier Marías die Sprache im Vordergrund steht, die genauen, sehr ausführlichen Beschreibungen der Gedanken seiner Hauptfiguren in langen Satzgebilden. Auch die Konflikte hinterfragen das Verhalten der Menschen in familiären Beziehungen und beobachten es aus unterschiedlichen psychologischen Blickwinkeln und Fragenstellungen.

Fazit

Sowohl die Problematik, die Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt, als auch die kraftvolle Sprache mit langen Sätzen und Satzfolgen, noch ergänzt durch weitere Gedankensprünge und Einschübe in Klammern, machen aus diesem Roman keine Lektüre, die man eben mal so zwischendurch liest, dieses Buch verlangt die Aufmerksamkeit der Lesenden von der ersten bis zur letzten Seite. Diese Zeit sollte man sich nehmen.

Kai & Kiki: Your plurilingual sticker story – Vanessa Käpel und Oystar

AutorVanessa Käpel
IllustratorLukas Philippovich
Verlag Oystar
Erscheinungsdatum 14. September 2022
FormatJP Oversized, Softcover
Seiten40
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3991420002

„Mein Sohn ist ein Wunder der Natur, wie alle Kinder, und ich liebe ihn genau so, wie er ist.“ (Zitat Seite 5)

Inhalt

Kai ist ein Krähenjunge und er lebt in Finnland. Doch etwas ist bei ihm anders, sein Bauch ist nicht schwarz, wie es sich für Krähen gehört, sondern weiß. Als ihm eine Küstenseeschwalbe erzählt, dass in der Antarktis Pinguine leben, die einen weißen Bauch haben wie er, will er die Pinguine besuchen. Damit beginnt das große Abenteuer. Was er erlebt, wem er auf seiner Reise begegnet, und wo und wie er das Tukanmädchen Kiki trifft, müsst ihr selbst lesen …

Thema und Genre

Dieses Konzept eines mehrsprachigen Bilderbuches, besonders geeignet für Kinder bis etwa zwölf Jahre, ist neu, großartig und trotzdem im Grunde einfach. Das Buch in deutscher Sprache kann mit Stickern in einer anderen Sprache ergänzt werden. Dem ersten Band der Serie, der in Finnland beginnt, werden weitere Geschichten folgen. Zurzeit sind die Stickersets in dreizehn Sprachen erhältlich, es werden weitere Sprachen hinzukommen.

Umsetzung

Schon das Motto der Herausgeber „The world is your oyster and you’re the star”, der Hintergrund des Namens “Oystar”, zeigt auch die sprachliche Kreativität des Teams hinter dieser genialen Idee, die Illustrationen zeigen die künstlerische Qualität.

Das großformatige Buch ist in gebundener Form, besonders für das Kindergartenalter, und in einer Softcover-Ausgabe verfügbar. Da das junge Herausgeberteam noch dabei ist, die Vertriebswege aufzubauen, sind das Buch und alle Sprachstickersets, wenn nicht in der Buchhandlung vor Ort, dann auf jeden Fall über den Shop https://kaikiki.shop/ erhältlich.

Die Geschichte ist poetisch und spannend, die Texte sind sprachlich dem Alter von Kindern angepasst und der Art, wie Kinder die Welt erleben, ohne jedoch die Ausdrucksform zu vereinfachen, oder gar zu verniedlichen.

Der Originaltext oberhalb eines Bildes wird durch ein ebenso großes, an den Ecken markiertes Feld unterhalb des jeweiligen Bildes ergänzt, wo dann der Text in der gewählten Fremdsprache als Sticker eingefügt wird. So erhält man ein zweisprachiges Buch. Die Ausstattung ist hochwertig und garantiert eine lange „Haltbarkeit“ des Buches, das wohl rasch zum vielgelesenen Lieblingsbuch wird.

Fazit

Ich habe dieses Buch zufällig auf der BuchWien entdeckt, der Rabe hat mich sofort angezogen und neugierig gemacht. Das Gesamtkonzept, die Ideen und Kreativität haben mich begeistert. Ich habe ein Exemplar mit englischen Stickern erworben und selbst gelesen, bevor ich es auf die Reise buchstäblich an das andere Ende der Welt geschickt habe, es folgt beinahe der Reise von Kai dem Raben, und wird dann von den englischen Stickern zum deutschsprachigen Original, also umgekehrt, gelesen werden.

Das Buch (Dinge des Lebens) – Jochen Jung

AutorJochen Jung
Verlag Residenz Verlag
Erscheinungsdatum 13. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten64
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3701735648

„Ich fahre immer gerne auf Buchmessen, denn mehr überraschende Angebote als auf Buchmessen kann einem keine Bibliothek und kein Buchhändler vorlegen.“ (Zitat Seite 10)

Thema und Inhalt

Ein kleines Buch aus der Serie „Dinge des Lebens“. Hier schreibt jemand, für den Bücher tatsächlich zum täglichen Leben gehörten und auch heute noch gehören. Der Germanist, Schriftsteller und Verleger Jochen Jung war zunächst Lektor, später Geschäftsführer des Residenz-Verlages und gründete im Jahr 2000 den eigenen Jung-und-Jung-Verlag. Hier nun schildert er seine persönliche Beziehung zum Buch, in diesem Fall aus Überzeugung zum gedruckten Buch.

Umsetzung

In kurzen Essays erzählt Jochen Jung aus seinem Leben als Verleger und Leser, schreibt über Bücher, die ihn geprägt haben und über Begegnungen mit Autoren und Autorinnen. Es geht um die Vielfalt der Themen, Geschichten, um die unterschiedlichen Figuren und die Textsprache von Romanen, auch der Lyrik widmet er ein Kapitel. Doch wir erfahren auch Interessantes über die praktische Seite des Verlagswesens, zum Beispiel eine sachliche Erklärung zur Preisgestaltung von Büchern. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Vielfalt der Bücher, den Erfahrungen beim Lesen und der besonderen Vorfreude und Neugier, die uns erfasst, wenn wir die erste Seite eines neuen Buches aufschlagen und zu lesen beginnen.

Fazit

Dieses kleine Buch birgt eine Fülle von Anregungen und klugen Aussagen für jeden und jede Lesebegeisterte. So schreibt er über Autoren und Autorinnen: „Es versteht sich: Das Herz eines Buches ist immer eines, das vorerst in einem Menschen schlägt.“ (Zitat Seite 25). Ich selbst habe dieses Buch durch Zufall auf einer Buchmesse, der BuchWien entdeckt und mir selbst geschenkt, denn es ist das perfekte Geschenk für alle Lesenden.

Das mangelnde Licht – Nino Haratischwili

AutorNino Haratischwili
Verlag Frankfurter Verlagsanstalt
Erscheinungsdatum 25. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Hörbuch gelesen vonSimone Kabst
Seiten832
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3627002930

„Ich spürte, dass dieser Moment magisch war, und das nicht, weil etwas im eigentlichen Sinne Besonderes geschah, sondern weil wir in unserem Zusammenhalt eine unzerstörbare Kraft bildeten, eine Gemeinschaft, die vor keiner Herausforderung mehr zurückschrecken würde.“ (Zitat Seite 10)

Inhalt

Die Fotografie aus dem Jahr 1987 ist das einzige Bild, auf dem sie zusammen zu sehen sind, jung, voller Hoffnung auf die Zukunft. Es ist der Nachmittag vor ihrem großen Abenteuer, denn in der Nacht brechen sie durch ein Loch im Zaun in den Botanischen Garten ein. Damit ist die Freundschaft Dina, Keto, Ira und Nene, vier Mädchen aus dem Sololaki-Viertel, einem der buntesten Stadtteile von Tbilissi, endgültig besiegelt und die Lebensgeschichten scheinen untrennbar miteinander verbunden, bis Dinge passieren, die auch ihre Freundschaft zerstören. Erst 2019, viele Jahre später, treffen drei von ihnen in Brüssel wieder zusammen, als eine Retrospektive des fotografischen Gesamtwerkes von Dina eröffnet wird. Dina, die bekannte Fotografin, Ketos beste Freundin, fehlt. Sie ist tot, doch in ihren Bildern lebt sie weiter. Für Keto, Nene und Ira wird dieser Abend ein langer Weg zurück in die Vergangenheit, durch die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, an Dina, zurück zu den Ereignissen, die ihr Leben für immer geprägt haben, verbunden mit der wechselvollen Geschichte von Georgien. Zu viel ist geschehen, mit diesen Erinnerungen ist keine intakte Gegenwart möglich, oder doch?

Thema und Genre

Dieser Roman ist die Geschichte Georgiens in den politisch unsicheren Jahren der Umbrüche, Aufstände, Gewalt. Gleichzeitig ist es die Geschichte einer Generation, deren Leben durch diese Jugendjahre für immer geprägt wird. Themen sind Freundschaft, Träume und Liebe, aber auch Macht, Gewalt und Verlust. Es geht um traditionelle gesellschaftliche Strukturen, das Patriarchat der Vätergeneration, das von den Brüdern der vier Freundinnen in Bezug auf das Wertesystem übernommen wird, obwohl die jungen Männer selbst, zornig und selbstbewusst, aus genau diesem System ausbrechen wollen.

Charaktere

Dina war schon als Kind unangepasst und rebellisch, Ira dagegen vernünftig und pragmatisch, besorgt, die vorsichtige, romantische Nene zu beschützen. Keto, als Kind angepasst und zurückhaltend, war schon immer die ausgleichende Schlichterin zwischen Dinas Freiheitsdrang, Iras Vernunft und Nenes Träumereien. Die Autorin hat ein unglaubliches Einfühlungsvermögen für jede einzelne der zahlreichen Figuren, die in dieser Geschichte leben, für ihre Konflikte, Überzeugungen, Zweifel und Gefühle.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung beginnt im Jahr 1987 in Tbilissi, verläuft jedoch nicht chronologisch, sondern in Episoden, an die sich die Ich-Erzählerin Keto bei ihrem langsamen Rundgang durch die Austellung und beim Betrachten der einzelnen Fotografien erinnert. So erfahren wir die prägenden Erlebnisse und Ereignisse im Leben der vier Frauen, die, wie sie selbst feststellen, in den ersten fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens mehr erlebt haben, als die meisten Menschen nicht einmal in einem gesamten, langen Menschenleben. Der zweite Handlungsstrang umfasst diesen einen langen Abend in Brüssel im Jahr 2019 und verläuft chronologisch. Nino Haratischwili ist eine wunderbare Erzählerin mit einem offenen, genauen Blick auf die Geschichte ihres Geburtslandes Georgien, vor allem aber auf die Menschen. Besonders ihre Frauenfiguren sind, bei allen Zweifeln, starke Frauen, die in einem von männlicher Gewalt und Konflikten dominierten Umfeld in den späten Jahren des 20. Jahrhunderts ihren eigenen Weg gegen alle Widerstände gehen.

Fazit

Ein großartiger Roman, bewegend, episch, facettenreich und packend, auch die Sprache zieht uns sofort in den Bann der Geschichte und lässt uns nicht mehr los. Ich habe mit dem Hörbuch begonnen, dann jedoch auf Grund der eindrücklichen Sprache und Komplexität der Geschichte diese im Buch weitergelesen. So kann ich auch das Hörbuch empfehlen, gelesen von Simone Kabst, deren angenehme Stimme und einfühlsame, lebhafte Art zu lesen ebenfalls überzeugen.

Geschändet: Ein Cold-Case-Team Thriller – Patrick Burow

AutorPatrick Burow
Verlag Independently published
Erscheinungsdatum 16. November 2022
FormatTaschenbuch
Seiten328
SpracheDeutsch
ISBN-13979-8363998812

„Die Fledermaus lag auf dem Flachdach im Dunkeln und spähte zu der Wohnung seines Opfers. Den Namen hatte sich der Mann gegeben, weil er nachts zuschlug.“ (Zitat Seite 1)

Inhalt

Er nennt sich selbst „die Fledermaus“, denn er schlägt nur in der Nacht zu. Geduldig hat er die junge Frau, Lara Roosen, beobachtet, hat herausgefunden, dass sie allein lebt. In dieser warmen Sommernacht in Hamburg steht ihre Balkontüre offen. Zuerst denkt Lara an einen Albtraum, als sie aus dem Schlaf aufschreckt und die schwarze Gestalt neben ihrem Bett stehen sieht. Doch dies ist Realität. Fünf Jahre später betritt eine junge Frau die Kellerräume des Cold-Case-Teams. Nach fünf Jahren hat sich der Täter telefonisch wieder bei ihr gemeldet und sie will, dass das Team ihren Fall neu aufrollt und den Täter endlich findet. Schon die ersten Ermittlungen zeigen, es ist nicht ein Fall, es sind insgesamt vierzehn Fälle, die nie aufgeklärt werden konnten. Der ehemalige Ermittler, inzwischen in Rente, rät ihnen, sich einen anderen Fall zu suchen, dieser sei aussichtslos. Doch er kennt das Cold-Case-Team nicht.

Thema und Genre

Auch in diesem dritten Thriller der Cold-Case-Team Serie geht es um nie aufgeklärte Verbrechen. Die Fakten in Verbindung mit der Tat selbst spielen bei der Suche nach dem Täter natürlich eine wichtige Rolle, doch der Autor verzichtet auf unnötig ausführliche Details. Denn ebenso wichtig ist für ihn der psychologische Aspekt, welche Auswirkungen ein derartiges Erlebnis auf die Opfer und das gesamte nachfolgende Leben der Opfer hat, vor allem, so lange Täter nicht gefasst worden sind.

Charaktere

Das Cold-Case-Team hat den letzten Fall erfolgreich gelöst, doch dies ändert an ihrer Situation nichts. Polizeipräsident Beesten warnt sie ausdrücklich vor weiteren Alleingängen, ihre Aufgabe sei es, die Aktenberge zu sichten und zu sortieren. Aber davon lassen sie sich nicht aufhalten, denn der ehemalige Staatsanwalt Michael Thomforde, die Polizeipsychologin Renate Krayenberg, die Computerexpertin Sasha Petrowa und Jan Erikson, der ehemalige Leiter eines Sondereinsatzkommandos, sind bei aller Individualität längst ein Team geworden.

Handlung und Schreibstil

Nach dem Prolog, der fünf Jahre vor der aktuellen Handlung in Hamburg spielt, wird der Fall chronologisch erzählt. Im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel stehen abwechselnd das Team, einzelne Mitglieder des Teams und dazwischen auch „die Fledermaus“. Die vielen unterschiedlichen Informationen und überraschenden Wendungen laden zum Mitdenken ein, lassen Platz für eigene Überlegungen. Das Cold-Case-Team steht unter Zeitdruck, nach fünf Jahren droht die Verjährung und der Täter kennt sich aus, er hat keine Spuren hinterlassen. Daraus ergibt sich eine rasante, trotzdem präzise, Ermittlungstätigkeit, mit vielen kleinen, neuen Details, die nach und nach auftauchen. Dies macht die Geschichte sehr interessant und packend. Auch dieser Fall ist in sich abgeschlossen, die Hintergründe und Mitglieder des Cold-Case-Teams werden kurz vorgestellt, einige Rückblicke auf den letzten Fall bilden den Übergang. Daher lässt sich dieser Band drei der Serie auch sehr gut lesen, wenn man die beiden anderen Fälle nicht kennt. Die Sprache ist so vielseitig, wie dieser Fall: sachlich und präzise bei den Einsätzen, witzig in einigen Dialogen und Szenen, nimmt der Autor sich auch Zeit für die Beschreibung der Hintergründe und für die Schilderung der Konflikte der einzelnen Figuren.

Fazit

Auch dieser dritte Fall des Cold-Case-Teams enttäuscht nicht. Ein eigenwilliges, sympathisches Ermittlerteam, facettenreiche Ermittlungen, sowie ein zeitlos brisantes Thema machen diesen Thriller zu einem spannenden Page-Turner.

Die Familien der anderen: Mein Leben in Büchern – Christine Westermann

AutorChristine Westermann
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 3. November 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462003017

„Das Leben der anderen, da möchte ich reingucken, das ist es vielleicht auch, was mich zu Büchern hinzieht. Lesen, wie es auch gehen kann mit dem Leben.“ (Zitat Pos. 129)

Thema und Inhalt

In fünfzehn Kapiteln, von denen jedes als Überschrift ein Zitat von einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerinnen zum Thema Bücher trägt, schreibt Christine Westermann über ihr Leben. Ihre Geschichte beginnt mit den zwei sehr unterschiedlichen Bücherregalen ihrer Kindheit und Jugend, eines in der Wohnung ihrer Mutter und das andere in der Wohnung ihres Vaters. Sie schildert ihren Werdegang als Journalistin, wobei sie ursprünglich nicht damit gerechnet hatte, dass ihre beruflichen Wege sie zu den Büchern führen würden und dass es ihr gelingen würde, Menschen für Bücher zu begeistern. Ihr Schwerpunkt waren immer Romane, in denen es um Menschen, Familien, Beziehungen ging und siebenundvierzig davon stellt sie in diesem Buch vor. Sie hat nie negative Bewertungen geschrieben, ihr war und ist es wichtig, Bücher zu empfehlen und dabei zu erklären, warum ihr ein Roman gefallen hat und ihre Gedanken und Eindrücke während des Lesens zu schildern.

Umsetzung

Mir gefällt die ungewöhnliche Art, wie Christine Westermann ihr Buch aufgebaut hat. Viele Jahrzehnte lang hat sie sich buchstäblich um den dicken Wälzer hinter Glas im Regal herumgeschlichen, „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Als sie begonnen hat, an diesem Buch zu schreiben, hat sie auch begonnen, „Der Zauberberg“ zu lesen, in kleinen Schritten, mit Unterbrechungen, knapp vor dem Scheitern und dies ist so etwas wie eine Rahmenhandlung zu den Geschichten ihres Lebens in Büchern. Christine Westermann berichtet über Erlebnisse während ihrer Lesereisen, über die vier Jahre als Mitglied des „Literarischen Quartett“, über ihre Sendungen in Radio und Fernsehen, ihre Kolumnen. Sehr spannend und interessant ist das Kapitel über ihre Teilnahme am Deutschen Literaturpreis als Mitglied der Jury. Ich konnte mir nie vorstellen, wie es funktioniert, im ersten Durchgang Hunderte von Büchern zu lesen, hier bekommt man einen Einblick und sieht die Arbeit der Jury und die komplizierten Auswahlverfahren der einzelnen Listen nun mit anderen Augen.

Die siebenundvierzig in diesem Buch besprochenen Romane sind je nach Stichwort in die Texte eingebunden, im Anhang findet sich eine Liste aller Romane, geordnet in der Reihenfolge, in der sie im Buch vorgestellt werden. Das Kapitel fünfzehn beginnt mit folgendem Zitat: „Wenn der Funke nicht überspringt, ist nichts zu machen. Die Klassiker liest man nicht aus Pflicht oder Respekt, sondern nur aus Liebe.“ Italo Calvino (Zitat Pos. 2159). Damit schließt sich der Kreis zu Thomas Mann und dem Zauberberg.

Fazit

Eine unterhaltsame, interessante Zeitreise durch die Geschichten eines Lebens als Journalistin, Moderatorin, Autorin, Leserin und Vorleserin. Die Art, wie sie Bücher vorstellt, macht neugierig auf jene Romane, die man noch nicht kennt, die persönliche Wunschliste wird auch mit diesem Buch wieder länger – und bei mir der Vorsatz, trotzdem, den Zauberberg auch aus meinem Regal zu nehmen und endlich zu lesen.

Du kannst alles lassen, du musst es nur wollen – Torsten Sträter

AutorTorsten Sträter
Verlag Ullstein extra
Erscheinungsdatum 27. Oktober 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3864932274

„Denn geben Sie es ruhig zu: In den letzten Minuten, in denen Sie dies lasen, waren Sie nicht in der Lage, einen einzigen strukturierten Gedanken zu fassen – und das ist gut so. Es entspannt das Gehirn.“ (Zitat Seite 166)

Thema und Inhalt

Torsten Sträter ist  Autor, Satiriker und auf Grund seiner Vielseitigkeit auch noch vielen weiteren Genres zuordenbar, eine ungewöhnliche, facettenreiche Mischung, wie auch seine mit Preisen ausgezeichneten Bücher, Fernsehsendungen und Tourneen. Dieses Buch enthält eine Zusammenstellung von mehr als vierzig Geschichten des Autors, die in den letzten drei Jahren entstanden sind. Eine aktuelle Zeitreise vom Nibelungenlied über den Highlander bis zu Omikron, dazu im Januar 2022 die Anleitung für mehr Ruhe und Gelassenheit. „Nichts erwarten, viel bekommen. Weil man auch bei wenig bekommen viel bekommt, wenn man nix erwartet.“ (Zitat Seite 90)

Umsetzung

Das Buch ist in neun große Abschnitte und übergeordnete Themen unterteilt, darin die jeweils passenden Geschichten. Beginnend von Stories, über die Pandemie-Papiere, von sinnlosen Redewendungen, über Sträters Ansprachen ans Volk bis zu seinen speziellen Filmempfehlungen in Teil neun. Diese Sammlung von kurzen Texten ist kein Buch, das man unbedingt von der ersten bis zur letzten Seite lesen muss, man kann, muss aber nicht. Man kann es immer wieder zur Hand nehmen, einzelne Texte, oder Kapitel lesen. Denn eines funktioniert immer: man hat sofort das Bild von Sträters Fernsehauftritten und Live-Programm im Kopf, mit einem Unterschied, während man bei diesen Auftritten vor Lachen wohl immer mal die nachfolgenden Sätze verpasst, kann man beim Lesen in Ruhe lachen, noch mehr lachen und dann, ebenfalls in Ruhe, die Stelle nachlesen. Das alles kann man beliebig oft wiederholen, oder weiterlesen, perfekt.

Fazit

Diese Geschichten sind unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse während der letzten drei Jahre entstanden und zu einer speziellen Situation oder einem besonderen Thema, um mit vielen Schleifen und Umwegen dann bei einem oder auch mehreren völlig anderen Themen zu landen. Das alles zwischen sehr witzig, ziemlich schräg und satirisch-böse, aber immer auch sehr menschlich.

Ins Unbekannte: Die Geschichte von Sabina und Fritz – Lukas Hartmann

AutorLukas Hartmann
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257072051

„Menschen sind und bleiben unterschiedlich. Man kann sie zu Gutem erziehen, aber nicht zurechtstutzen wie Nutzpflanzen.“ Zitat Seite 118)

Inhalt

Sabina Spielrein, eine junge Russin aus begüterten Verhältnissen, wird 1904 von ihren Eltern in eine psychiatrische Privatklinik in Zürich gebracht. Dort wird sie von Carl Gustav Jung, damals Oberarzt, behandelt. Er ermutigt sie, ihrem Wunsch zu folgen und Medizin zu studieren. Die Psychoanalyse wird ihr Fachgebiet. Der junge Schweizer Fritz Platten ist begabt und interessiert, er möchte lernen, aber die Armut seiner Eltern macht den Besuch des Gymnasiums unmöglich. 1918 ist er einer der Initiatoren des Schweizer Landesstreiks, kämpft für eine gerechtere Gesellschaft. Sabina gerät in eine Demonstration und für einige Augenblicke kreuzen sich zufällig ihre Wege. „Einer, der zuvorderst ging, fiel ihr besonders ins Auge. Er trug einen weit geschnittenen Mantel, sein ungewöhnlich langes Haar wehte im Wind.“ (Zitat Seite 117)

Thema und Genre

In diesem Roman mit einem realen geschichtlichen und biografischen Hintergrund geht es um die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit Schwerpunkt Russland und Schweiz. Es geht um Fortschritt, Forschung und den Beginn der Psychoanalyse, um Bindungen, Familie, um persönliche Ziele, Träume, Ideologien, Gewalt, Unterdrückung, Aufbruch und Scheitern.

Charaktere

Bis auf einen kurzen, zufälligen Augenblick kennen die beiden Persönlichkeiten, um deren Biografie es in diesem Roman geht, nicht. Sabina Spielrein, Russin, Ärztin, eine der ersten Frauen, die sich auf das Fachgebiet Psychoanalyse spezialisiert, in langjährigem Kontakt und Gedankenaustausch mit C.G. Jung und Siegmund Freud. Fritz Platten, Schweizer, Nationalrat, zunächst Sozialdemokrat, dann überzeugter Kommunist, Revolutionär. Zwei Persönlichkeiten mit Zukunftsvisionen, eigenwillig und unangepasst.

Handlung und Schreibstil

Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei konträre Lebensgeschichten, die der Autor abwechselnd erzählt. Während er dem Leben von Sabina Spielrein chronologisch folgt, schildert er die wichtigen Ereignisse und Stationen im Leben von Fritz Platten rückwirkend und nicht immer chronologisch, sondern je nach dessen jeweiligen Erinnerungen und gedanklichen Dialogen während der Nachtstunden seiner späten Lebensjahre. Die einzelnen Kapitel tragen als Überschrift die Ortsangabe und die Jahreszahl, wodurch die Zuordnung beim Lesen übersichtlich bleibt. Der ruhige Erzählstil nimmt sich Zeit und das Vernetzen der fiktiven Romanhandlung mit den biografischen Fakten wirkt logisch und gelingt wunderbar, ohne je konstruiert zu wirken. Der Autor nimmt sich Zeit für beide Persönlichkeiten, es sind nicht nur Ereignisse und Erfahrungen in deren Leben, sondern ebenso viel Raum nehmen ihre Entwicklung, ihre Gedanken, Überzeugungen, aber auch Zweifel und widersprüchliche Entscheidungen ein. So ergibt sich ein packendes, lebendiges Gesamtbild.

Fazit

Diese beiden Biografien zu lesen fand ich sehr spannend, dieses immer wiederkehrende Auseinandersetzen mit dem eigenen Lebensweg und den Entscheidungen, auch das Hinterfragen, ergibt für mich einen sehr vielseitigen Roman, interessant zu lesen. Gerade bei Romanen mit biografischem Hintergrund, mit Personen, die wirklich gelebt haben und deren Biografien man nachlesen kann, ist es nicht einfach, den richtigen und glaubhaften Weg zwischen Fakten und Fiktion zu finden, für mich ist es Lukas Hartmann perfekt gelungen.

Senf mit Safran: Deutschland für Anfänger – Kaveh Ahangar

AutorKaveh Ahangar
Verlag Kampenwand Verlag
Erscheinungsdatum 25. Oktober 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten148
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3986600747

„Ich war bereit, in die Freiheit zu fliegen. Ich war bereit, mich selbst und die neue Welt zu entdecken.“ (Zitat Seite 59)

Inhalt

 „Für mich beginnt mein Leben mit der ersten Erinnerung an den ausgehungerten, trockenen Boden unseres Gartens am Stadtrand von Abadan, im Südwesten des Iran.“ (Zitat Seite 11) Dieses Zitat ist ein Teil der Einleitung zum ersten Teil dieses Buches, in dem die Kindheitsjahre des Jungen in Iran geschildert werden. Wir lernen seine Familie und seinen besten Freund Kurosh kennen. Er erlebt den Sturz des Schahs mit, die Rückkehr von Ayatollah Khomeini und die damit verbundenen Veränderungen. Dann beginnt der erste Golfkrieg und seine Kindheit ist zu Ende. Mit seinem Vater flieht er über die Türkei nach Deutschland.

„Ich roch förmlich ihre Stärke in der disziplinierten Organisation. Wirtschaftlich standen die Deutschen ebenfalls ganz weit oben. Ein Industrieland, das mir alle Türen öffnete.“ (Zitat Seite 64). Dies sind die ersten Eindrücke, als der Junge mit seinem Vater in Frankfurt gelandet ist, neugierig und bereit für ein neues Leben in Deutschland. Doch so einfach ist es nicht, sein Vater muss bald darauf nach Iran zurückkehren, der Junge hat Glück, bekommt die Aufenthaltserlaubnis und eine verständnisvolle Gastfamilie. Es folgen Jahre, die geprägt sind von neuen Erfahrungen, Missverständnissen und der Suche nach der eigenen Balance zwischen den Kulturen.

Umsetzung

Die Geschichte dieses Jungen aus Iran wird in zwei großen Teilen erzählt, die in kurzen Kapiteln Alltagsepisoden zu vielen wichtigen Themen, Ereignissen und Erfahrungen schildern. Es geht um die dauernde Konfrontation mit völlig unbekannten Alltagsdingen, alles muss neu gelernt werden, es gibt viele verwirrende Situationen. Themen sind Schule, Unterricht, die deutsche Sprache, die gewaltigen kulturellen Unterschiede, Pubertät, Sexualität, Integration und die Erfahrungen, dass „Refugees Welcome“ manchmal nur schöne Worte sind, es geht um Einsamkeit, Freundschaft und die Liebe. Hinter allem die Frage nach der eigenen Identität und Heimat. Es sind wahre Geschichten, teilweise eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Eindrücke, die in diesem Buch geschildert werden, teilweise Erlebnisse von Freunden und Bekannten, ebenfalls aus Iran. Die vielen unterschiedlichen Erfahrungen und manchmal durchaus lustigen Missverständnisse werden in tagebuchähnlichen Kapiteln erzählt, in einer klaren, schnörkellosen Sprache. So kommt dieses Buch mit relativ wenigen Seiten für einen so dichten, breit gefächerten Inhalt aus und lässt beim Lesen Platz für eigene Gedanken.

Fazit

Wer bin ich und wo ist meine Heimat? Um diese Frage geht es in diesem leisen, nachdenklichen Buch über einen Jungen, der im ersten Golfkrieg aus Iran nach Deutschland flüchtet, um hier ein neues Leben zu beginnen.

Lektionen – Ian McEwan

AutorIanMcEwan
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten720
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBernhard Robben
ISBN-13978-3257072136

„Die Zeiten seiner wilden Reisen waren zwar vorbei, aber der Wunsch nach Abenteuern und einer unmöglichen Freiheit verdarb ihn immer noch für die Gegenwart, die doch die meisten Befriedigungen des Lebens bereithielt. Es war eine Frage der inneren Einstellung. Sein wahres Leben, das grenzenlose Leben, fand anderswo statt.“ (Zitat Seite 237)

Inhalt

Im Spätsommer 1959 kommt Roland Baines, elf Jahre alt, mit seinen Eltern aus Libyen nach England. Für ihn beginnt, dreitausend Kilometer von seinen Eltern entfernt, das Internatsleben. Die Erfahrungen dieser Jahre verändern sein ganzes weiteres Leben. Er hat viele Pläne, reist, vermeidet Bindungen. Doch dann trifft er Alissa, verliebt sich, heiratet. Wenige Monate nach der Geburt seines Sohnes Lawrence verlässt Alissa völlig überraschend ihn und das Baby. Er ist fassungslos, sucht nach Alissa, doch sie will nicht gefunden werden. Gleichzeitig bringt das Leben mit seinem Sohn auch Routine und Ordnung in sein eigenes Leben. Mit den Jahren beginnt er, über sein Leben nachzudenken, über wichtige Entscheidungen, die er getroffen hat und die Konsequenzen. „Die Vergangenheit war nicht mehr zu retten, aber die Gegenwart konnte er vor dem Vergessen bewahren.“ (Zitat Seite 477)

Thema und Genre

Dieser Roman schildert ein Menschenleben von der Kindheit bis ins Alter, die Ereignisse und Entscheidungen, gleichzeitig ist es ein zeitpolitischer Roman und ein Familien- und Generationenroman. Es geht um Lebenspläne, um das Leben als Schriftsteller, um Träume, Enttäuschungen, Beziehungen, Liebe, Fragen und die Suche nach dem Platz im eigenen Leben.

Charaktere

In jungen Jahren träumt Roland Baines von einem Leben in Freiheit, ohne Verpflichtungen. Auch nach der Zeit im Internat macht ihn dies ruhelos, voller Ideen, die er rasch wieder vergisst, nie zu Ende bringt. Er lässt sich durch sein Leben treiben, reagiert, aber agiert nicht. Die Charaktere und die Geschichten der Hauptfiguren enthüllen sich langsam, zunächst fehlen viele Details, doch  im Laufe der Handlung gewinnen wir immer mehr Einblicke in die Vergangenheit. Entscheidungen sind nachvollziehbar, erklärbar, auch wenn man selbst unterschiedlicher Meinung ist.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung schildert das Leben der Hauptfigur Roland Baines chronologisch über viele Jahre, Zeitsprünge sind durch die entsprechenden Jahreszahlen oder Altersangaben leicht zu erkennen. Doch dies ist nur eine Seite dieser facettenreichen Geschichte, denn einen wichtigen Teil machen seine Erinnerungen, Gedankengänge, Überlegungen aus und werden durch viele Gespräche zwischen den Hauptfiguren ergänzt. Die Geschichten der Elterngeneration ergeben sich zum Teil aus Tagebüchern und aus Erzählungen. Chronologisch ist jedoch nur Rolands Geschichte, alle diese ergänzenden Episoden tauchen plötzlich auf, wenn Roland sich daran erinnert, darüber nachdenkt, nach Antworten für sein Leben sucht. Diese Art des Erzählens, des Schilderns und die genauen Beobachtungen, so vielseitig wie die sprachliche Umsetzung, machen das Lesen dieses Romans zu einem packenden Erlebnis.

Fazit

Ein epischer Roman über das Leben, als Wienerin fällt mir der Songtitel „mei potschertes Leb’n“ ein, denn es ist kein einfaches Leben, das Roland führt. Held, Antiheld, gar kein Held, irgendwie doch ein Held, das alles in einer Figur. Gleichzeitig ein politisch-kritischer Roman über eine Generation, die den Fall der Mauer bereits im Erwachsenenalter erlebt hat, die damit verbundenen Hoffnungen, Erwartungen und dann in nur dreißig Jahren  erleben musste, dass immer mehr neue Mauern errichtet wurden und werden. Ich wollte mich während dieser Lesestunden mehrmals überreden, Roland Baines nicht zu mögen, sein Zaudern, seine Antriebslosigkeit – und doch ist es mir in keiner Minute gelungen, dieses Buch nicht großartig zu finden. „Es gab Strömungen, Handlungsstränge, Entwicklungen, die niemand hätte vorhersehen können, auf den nun verbrannten Seiten hatte er nicht einmal die entsprechenden Fragen gestellt.“ (Zitat Seite 696). Hier schreibt ein Autor, der nicht nur alle Facetten der Sprache kennt, sondern auch alle Facetten des Lebens.

Wo vielleicht das Leben wartet – Gusel Jachina

AutorGusel Jachina
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 18. August 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten591
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHelmut Ettinger
ISBN-13978-3351038984

„Die Jagd nach Seife, Verpflegung und Kohle für die Lok brachte nichts, doch Dejew hatte das wichtigste Gesetz des Jägers verstanden, Augen und Ohren stets weit offen zu halten.“ (Zitat Pos. 4387)

Inhalt

Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, der Aufstände und des Bürgerkrieges, verbunden mit Ernteausfällen und politischen Entscheidungen, führen in Russland zu einer katastrophalen Hungersnot, bei der Millionen Menschen sterben. Kinder landen in Kinderheimen und Sammelstellen. Fünfhundert dieser Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren soll der Zugführer Dejew von Kasan nach Samarkand bringen, unterstützt von der Kinderkommissarin Belaja. Den Auftrag erhält Dejew am 9. Oktober 1923, doch es gibt keinen Zug, so muss er zuerst eine Lokomotive und Waggons finden. Die Zeit drängt, sollen die Kinder eine Chance haben zu überleben. Die Strecke beträgt mehr als 4.000 Kilometer, die Reise wird mindestens vierzehn Tage dauern und er hat Verpflegung für genau drei, maximal vier Tage bekommen. Doch nicht nur das Essen fehlt, er braucht auch Kleidung, Medikamente für die Kinder, Kohle und Holz für die Lokomotive – es fehlt einfach alles. Doch Dejew, der ehemalige Soldat, der bisher nur Waren transportiert hat, ist fest entschlossen, die Kinder nach Samarkand zu bringen, durch den Bürgerkrieg und unwegsames Gelände, dorthin, wo es genug zu essen geben soll. Seine Ideen und sein persönlicher Einsatz sind waghalsig, kreativ und sehr gefährlich.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem Hintergrund geht es um die Hungersnot in Russland in den 1920er Jahren, das Leben der Menschen, vor allem der Kinder. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen, Obrigkeit, Mut, Zusammenhalt, Menschlichkeit und Liebe, aber auch um Bürgerkrieg, Gewalt und Vorurteile und auch um Schuld und Sühne.

Charaktere

Als ehemaliger Soldat ist der junge Dejew von seinen Erinnerungen traumatisiert. Er ist mutig, scheut keine Gefahren, verzweifelt, wütend und zornig, wenn es ihm nicht gelingt, die dringend notwendigen Dinge zu erhalten. Er beugt sich keiner Obrigkeit und seine beinahe Vorurteile bleiben auch dort bestehen, wo er auf Menschlichkeit trifft.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, in sieben großen Kapiteln, die als Überschrift jeweils die Anzahl der Menschen tragen, die im Mittelpunkt stehen, und dazu den betreffenden Teil der Strecke. Im Laufe der Handlung ergänzen Erinnerungen der einzelnen Figuren die aktuellen Ereignisse. Diese Vorgeschichten der Figuren zeigen jeweils die eigene Entwicklung, Vergangenheit, prägende Erlebnisse und erklären ihren Charakter näher, ihre Einstellung und Handlungen in der Hauptgeschichte. So wird Verhalten, über das man sich beim Lesen zuvor manchmal gewundert hat, erklärt und nachvollziehbar. Spannende Situationen wechseln ab mit Schilderungen von politischen Hintergründen, des Umfeldes und der Natur, die dieser Zug auf seiner langen Reise durchquert, sowie der Gedanken und Befindlichkeiten der einzelnen Hauptfiguren. Diese ausführlichen Schilderungen und die sich wiederholenden ähnlichen Beschreibungen des Zustandes der hungernden Kinder führen trotz der erschütternden Eindrücklichkeit zu Längen. Denn die Sprache spart nicht mit allen grausamen Details, um dann wieder extrem gefühlsbetont ins Schwülstige zu wechseln. Hier wäre meiner Meinung nach weniger mehr gewesen.

Fazit

Eine eindringlicher, beklemmender Roman, geschrieben gegen das Vergessen. Eine packende Geschichte, interessante Hauptfiguren und faktische Hintergründe, lebhafte, sprachgewaltige Schilderungen, obwohl ich mir gerade hier manchmal eine leisere Sprache gewünscht hätte, machen dieses Buch lesenswert.

Raben: Das Geheimnis ihrer erstaunlichen Intelligenz und sozialen Fähigkeiten – Thomas Bugnyar

AutorThomas Bugnyar
Verlag Brandstätter Verlag
Erscheinungsdatum 26. September 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3710606373

„Es ist übrigens auch eine Geschichte des Staunens: Denn sosehr ich in all den Jahren versucht habe, Raben zu verstehen – am verblüffendsten fand ich stets die Situationen, in denen ich bemerkte: Sie verstehen mich.“ (Zitat Seite 9)

Thema und Inhalt

Seine Diplomarbeit hatte der weltweit bekannte Rabenforscher und Kognitionsbiologe Thomas Bugnyar, Professor an der Universität Wien, noch über Primaten geschrieben, seine Dissertation jedoch galt bereits den Raben und seither stehen Raben und Krähen im Mittelpunkt seiner Forschung. Über sein Studium der Biologie und Zoologie kam er zur Verhaltensbiologie. Sein Forschungsansatz ist ganzheitlich, Verhaltens- und Kognitionsbiologie, also die Frage nach der Wahrnehmung der Tiere, Lernfähigkeit, Aufnahme von Informationen, Erinnerungsvermögen. Denn durch die Beobachtungen, was ein Rabe in welcher Situation warum tut, können sich auch Erklärungen für das menschliche Verhalten ergeben. Um seine Arbeiten, Erkenntnisse und Erlebnisse mit Rabenvögeln, sowohl mit handaufgezogenen, als auch mit wildlebenden Kolkraben und Krähen, geht es in diesem Buch.

Gestaltung

In zehn Kapiteln, die in Abschnitte unterteilt sind, schildert der Autor zu Beginn in Kapitel 1 seinen persönlichen Werdegang und Weg in dieses besondere Forschungsgebiet und endet im Kapitel 10 mit neuen Erkenntnissen darüber, was wir von den Raben lernen können. Die Forschungserkenntnisse in der niederösterreichischen Forschungsstation Haidlhof in Bad Vöslau und auch in der von Konrad Lorenz gegründeten Forschungsstelle Naturtierpark Grünau im oberösterreichischen Almtal ergeben sich einerseits durch genaue Beobachtungen der einzelnen Tiere und vor allem durch Experimente. Da die Rabentiere durchaus unterschiedliche Eigenheiten haben und immer je nach Situation kognitiv flexibel reagieren, muss das jeweilige Experiment zuvor genau ausgetüftelt und exakt geplant werden, um aussagekräftige Resultate zu erhalten. Diese Beobachtungen und Experimente zu den unterschiedlichsten Themen von der Ernährung bis zu den Bewegungsmustern und zurückgelegten Entfernungen, ihre Tricks, Beziehungen, soziale Rollen und die vielfältigen Arten der Kommunikation untereinander werden in den einzelnen Kapiteln vom Entwurf der Idee bis zu den Resultaten und Erkenntnissen geschildert. Dabei gibt es immer wieder Überraschungen und erstaunliche Beobachtungen. Diese und die Geschichten über die besonderen Eigenheiten der einzelnen Tiere machen dieses Buch, das von Thomas Bugnyar bewusst populärwissenschaftlich verfasst wurde, nicht nur interessant und informativ, sondern auch sehr unterhaltsam zu lesen.

Fazit

Mit diesem Buch gelingt dem Rabenforscher und Kognitionsbiologen Thomas Bugnyar eine perfekte Mischung zwischen einem wissenschaftlichen Fachbuch und einem mit Staunen, Interesse und Vergnügen zu lesenden Sachbuch. Ab sofort werde ich Rabenvögel, in meinem Fall besonders Nebelkrähen, noch genauer beobachten und auf ihre unterschiedlichen Rufe und Verhalten achten.

Leben im Schatten der Stürme: Erkundungen auf der Krim – Landolf Scherzer

AutorLandolf Scherzer
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 20. September 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten318
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3351039783

„Wir Tataren wissen: Wenn du die Erinnerung tötest, tötest du dich. Die Russen sagen: Dem Volk, das nicht über seine Vergangenheit spricht, bleiben auch die Wahrheit über die Gegenwart und die Träume von der Zukunft verschlossen.“ (Zitat Pos. 733)

Thema und Inhalt

Der Schriftsteller und Publizist Landolf Scherzer reist 2019 auf die Krim, er stellt Fragen und hört vor allem zu. So erfährt er die Lebensgeschichten von Krimtataren. Mit dieser Reportagereise erfüllt er den Wunsch seines Freundes Wassja, selbst Krimtatar, der Ende 2018 mit seiner Frau nach Australien auswandert und ihn bittet, für ihn auf die Krim zu fliegen und die Geschichten der Krimtataren aufzuschreiben, damit die Vergangenheit nicht vergessen wird und damit die Deutschen verstehen, was heute auf der Krim geschieht. Auf Wassjas Empfehlung kann er privat bei einer Familie in der Nähe der Stadt Saki wohnen. Als er Babuschka Gulnada fragt, ob sie Ukrainerin, Tatarin, Usbekin oder Russin sei, erhält er die Antwort, sie seien Usbeken und Russen und Ukrainer, zuerst jedoch Tataren, Krimtataren. Darum geht es in dieser Reportage, einerseits um die Vergangenheit, andererseits um das Leben der Menschen auf der Krim und die Veränderungen seit 2014.

Umsetzung

Landolf Scherzer besucht die besten Freunde von Wassja, sechs Brüder, die auf einige seiner Fragen antworten, auf andere nicht, sondern statt dessen ihm Geschichten und Erlebnisse aus ihrem Alltag erzählen. Unterwegs spricht der Autor auch selbst unterschiedliche Menschen an, oder wird von ihnen angesprochen. Alle diese Begegnungen notiert er täglich, dazu die Gespräche, die Geschichten, die er erfährt, die Gastfreundschaft, die er überall antrifft, und ergänzt diese Notizen mit seinem eigenen Tagesablauf und den persönlichen Eindrücken und Erfahrungen, ungewöhnlichen, ernsten, nachdenklichen und skurrilen, erheiternden Erlebnissen. Dennoch bleiben viele offene Fragen. Daher reist er knapp neun Monate später mit einem Freund, der durch seinen Handel mit Heimtextilien Kontakte in die Ukraine hat, ein zweites Mal auf die Krim. Diesmal füllen sich die Lücken in seinen Notizen und er schreibt an Wassja: „Alles, was ich erkunden konnte, werde ich nun versuchen aufzuschreiben. Wie und wann und was, weiß ich noch nicht.“ (Zitat Pos. 3644) Nun ist es aufgeschrieben, in den einzelnen Kapiteln sind jeweils mehrere Geschichten zusammengefasst. Die langen Überschriften skizzieren bereits, worum es im jeweiligen Kapitel geht, so sieht eine der Überschriften aus: „Von Bauern, die auf der Krim tiefe Brunnen bohren, dem Geschichtsbruder, der nach 2014 den Fehler gemacht hat, so viel Knoblauch wie zuvor anzubauen, und dem Zaren, der 1867 Alaska an die USA verkaufen musste.“ (Kapitelüberschrift, Pos. 563, 564)

Fazit

„Ich stehe am Fenster“ – so beginnt diese interessante, abwechslungsreiche, eindrückliche Reportage über die Halbinsel Krim, die wechselvolle Geschichte und die Menschen, die dort leben. Auch wenn man sich in den letzten Monaten bereits durch Sachbücher und Berichte über die Ukraine informiert hat, findet man hier breit gefächerte, vertiefende Einblicke, informatives Wissen und Hintergrundwissen, das man so noch nicht gelesen hat. „Doch Patrioten werden nicht als Patrioten geboren. Patrioten müssen sich die Herrschenden erst durch Ideologie Formen.“ (Zitat Pos. 2613). Dieses Zitat, die Aussage des Chefredakteurs einer Zeitung, ist wohl die beste Erklärung  dafür, warum man dieses Buch, das der Autor den Ukrainern und Russen widmet, die sich für ein friedliches Zusammenleben aller Völker einsetzen, unbedingt lesen sollte.

„In 80 Büchern um die Welt. Abenteuerliche Reisen von Marco Polo, Anna Seghers, Paulo Coelho, Wolfgang Herrndorf u.v.a.“

EinleitungJohn McMurtrie
Verlag wbg Theiss
Erscheinungsdatum 12. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ÜbersetzungAndreas Schiffmann
Alan Tepper
ISBN-13978-3806244298

„Das Buch will ein Reisebegleiter in verschiedene Ecken der Welt sein und zugleich eine Art Zeitmaschine mit chronologisch verlaufenden Einträgen. Es präsentiert über 75 Werke der internationalen Belletristik, die bis zur Odyssee (um 750 v. Chr.) zurückreichen und mit Lincoln Highway (2021) enden.“ (Zitat aus der Einleitung von John McMurtrie, Seite 10)

Thema und Inhalt

In vier Abschnitten: 1 Expeditionen und Reisen, 2 Zeitalter des Reisens, 3 Postmoderne. Neue Wege und 4 Reisen in der Gegenwart, werden 78 Romane beschrieben. 55 Autor*innen stellen einen oder mehrere Titel auf zwischen zwei und vier Seiten vor. Die Überschrift zeigt die Route an, es folgt die Angabe von Autor, Buchtitel, Entstehungsjahr. In ein bis zwei Sätzen wird präzisiert, worum es in dem Buch geht. Dann folgt der eigentliche Text, zuerst eine Inhaltsangabe, dann Interpretationen der Themen und Charaktere, dazu Hintergrundinformationen und Zitate. Die Texte werden mit vielen Abbildungen, Fotos und Landkarten ergänzt. Besonders ansprechend sind die großflächigen Reproduktionen von bekannten Gemälden, die einen Bezug zu der jeweiligen Reise haben. Im Anhang finden sich Kurzbiografien aller 55 Autoren und Autorinnen, welche die einzelnen Buchbeschreibungen verfasst haben und die von ihnen jeweils vorgestellten Bücher.

Umsetzung

Der Aufbau dieses Buches, fortlaufend nach dem Jahr, in dem der jeweilige Text entstanden ist, macht diese Sammlung übersichtlich. Es sind lange und kurze Reisen, die in den einzelnen Werken beschrieben werden.

Der erste Abschnitt, beginnend mit Homer, Die Odyssee, und endend mit Bram Stokers Dracula, ist auch eine lange Reise durch die Zeit, von ca. 700 vor Christus bis in das Jahr 1897, von der jahrelangen Irrfahrt über das Meer, bedroht von mythischen Ungeheuern, bis zu einer der bekanntesten klassischen Gothic Novels. Der zweite Abschnitt umfasst die Jahre zwischen 1899 und 1953 und auch hier geht es noch überwiegend um tatsächliche Reisen und Abenteuer. Dies ändert sich mit dem dritten Abschnitt, der einen Zeitraum von 1955 bis 1998 umspannt und mit Lolita von Vladimir Nabokov beginnt. Die beiden Autofahrten quer durch Amerika nehmen in diesem Roman nur wenige Seiten ein und dies ist gleichsam ein Wendepunkt. Bücher über Reisen als Abenteuer werden ergänzt durch Bücher über spirituellen Reisen als Suche nach dem eigenen Ich, Reisen in die eigenen Erinnerungen, gedankliche Umbruch, das Reisen als Selbstfindung. Im vierten und letzten Teil finden wir bekannte Titel der letzten Jahre, erschienen zwischen 2000 und 2021. Es geht um die brisanten Themen der Gegenwart, Reisen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben angetreten werden, um Flucht, Flüchtlingsrouten, Migration.

Fazit

Leider ist der gerade für Entdeckungsreisen und Abenteuer interessante Norden Europas kaum vertreten, viele der Reisen sind Fahrten innerhalb der USA und Reisen im metaphorischen Sinn. Besonders in den beiden letzten Abschnitten werden überwiegend Bücher vorgeschlagen, die bereits Preise erhalten haben, daher schon oft besprochen wurden und bekannt sind. Dennoch ist es ein sehr schönes Buch für Bücherfreunde und Bücherfreundinnen, die Ideen für neuen Lesestoff suchen und auch für Lesende wie mich, die Bücher über Bücher, über Buchhandlungen, Sachbücher und Romane, in denen es um Bücher und Buchhandlungen geht, sammeln.

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