Auf der Straße heißen wir anders – Laura Cwiertnia

AutorLaura Cwiertnia
Verlag Klett-Cotta
Erscheinungsdatum 19. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608981988

„Seit ihrer Kindheit legte sie ihren Vornamen an der Türschwelle ab wie einen Mantel. Zuhause hieß sie Maryam, draußen, Meryem.“ (Zitat Pos. 2369)

Inhalt

Karlotta wächst in Bremen-Nord als Kind einer deutschen Mutter und eines armenischen Vaters auf. Heute nennt sie sich längst Karla, studiert, schreibt an ihrer Dissertation. Als ihre Großmutter stirbt, hinterlässt sie eine Liste mit genauen Anweisungen über den Ablauf ihres Begräbnisses, sie will eine traditionelle armenische Beerdigung. Die Großmutter hinterlässt Karla Ohrringe, doch in einer Ecke der Kommode finden sie einen Armreif aus Gold mit einem Zettel. „Lilit Kuyumcyan, Yerevan, Armenien. In Karlas Familie wurde nie über die Vergangenheit gesprochen, doch nun reist sie nach Armenien, auf der Suche nach ihren Wurzeln und nach Lilit. Ihr Vater Avi, aufgewachsen in Istanbul, bevor er mit siebzehn Jahren nach Deutschland kam, begleitet sie.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Heimat, Fremde, Familie, Zusammengehörigkeit und die Geschichte der Armenier in der Türkei.

Charaktere

Als Kind gehörte Karla nie dazu, so sehr sie sich auch bemüht, und weiß nicht, warum. Sie und ihr Vater Avi sind die Hauptfiguren, doch es sind die Frauen dieser großen Familie, die Großmütter, Mütter, Töchter, die diese Geschichte mehrerer Generationen tragen.

Handlung und Schreibstil

Die Haupthandlung beginnt mit dem Tod der Großmutter. Im Mittelpunkt steht die Reise durch Armenien und sie wird chronologisch von Karla als Ich-Erzählerin geschildert. Kindheits- und Jugenderinnerungen Karlas an die Zeit, als sie noch Karlotta war, ergänzen diesen Handlungsstrang. Unterbrochen wird die aktuelle Handlung durch die Geschichten von Avi, seiner Mutter Maryam und deren Mutter Armine, Karlas Urgroßmutter. Diese Geschichten werden abwechselnd und in Episoden personal erzählt und ergeben so langsam die Geschichte dieser Familie.

Fazit

Ein einfühlsamer Generationenroman mit auf ihre unterschiedliche Art starken Frauen, der interessante Einblicke in das Leben einer Familie mit armenischen Wurzeln gibt.

Eine verdächtig wahre Geschichte – Antoine Laurain

AutorAntoine Laurain
Verlag Atlantik Verlag
Erscheinungsdatum 2. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheDeutsch
ÜbersetzungClaudia Kalscheuer
ISBN-13978-3455012026

„Vor langer Zeit ist etwas geschehen. An diesem Winternachmittag in der großen Stadt, auf der Terrasse dieses Cafés, unter diesem mondgrauen Himmel beschließe ich: Bald wird alle Schuld beglichen sein.“ (Zitat Pos. 609)

Inhalt

Zehn bis fünfzehn Manuskripte treffen täglich in diesem Pariser Verlag ein. Pro Jahr werden zwei bis drei davon angenommen. „Die Zuckerblume“ von Camille Désencres ist einer dieser Romane und ist nun auch für den Prix Goncourt nominiert. Als Violaine Lepage, Cheflektorin und Leiterin der Manuskriptabteilung, nach einem Unfall aus dem Koma erwacht, hat sie ein paar persönliche Fakten aus ihrem Leben vergessen, das jedoch nicht. Denn der Autor ist verschwunden. Ein berühmter Literaturpreis für ein von ihr veröffentlichtes Buch, bei dem sie nicht in der Lage ist, den Autor zu präsentieren, würde das Ende ihrer beeindruckenden Karriere bedeuten. Nun interessiert sich auch Sophie Tanche, Kommissarin der Kriminalpolizei Rouen, für die bekannte Lektorin und für diesen Roman. Vor einem Jahr hat die Kommissarin in einem immer noch ungelösten Fall mit zwei Toten ermittelt, deren Ermordung genau der Beschreibung in diesem Buch entspricht. Nun ist auch die Kommissarin auf der Suche nach dem Autor, denn in dem Roman sind streng vertrauliche Details erwähnt, die nie an die Öffentlichkeit gelangt sind, und es geht um insgesamt vier Morde.

Thema und Genre

Dieser Roman spielt in der Literaturszene. Themen sind Verlage, Bücher, Manuskripte und Buchpreise. Doch es geht auch um persönliche Entscheidungen und Geheimnisse, die tief in der Vergangenheit begraben sind.

Charaktere

Die Figuren sind authentisch, zeigen viele menschliche Facetten und ziehen uns Lesende sofort in ihren Bann.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in drei Teilen erzählt, wobei der zweite, mittlere Teil zwanzig Jahre früher spielt, die berufliche Entwicklung von Violaine schildert, und so die aktuelle Handlung unterbricht, gleichzeitig jedoch mit wichtigen Informationen ergänzt. Dieser interessante Aufbau der Geschichte macht sie packend und erhöht das intensive Vergnügen, sich Seite um Seite durch diese geheimnisvolle Suche nach einem unbekannten Autor zu lesen und gleichzeitig der ermittelnden, misstrauischen Kommissarin zu folgen.

Fazit

Eine Geschichte, deren Manuskript auch die strenge Lektorin Violaine sofort mit einer Sonne, dem internen Zeichen der Manuskriptabteilung für „angenommen“, versehen und veröffentlicht hätte. Denn dieser unterhaltsame, facettenreiche und überraschende Roman ist pures, großartiges Lesevergnügen.

Mama – Jessica Lind

AutorJessica Land
Verlag Kremayr & Scheriau
Erscheinungsdatum 16. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten192
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3218012805

„Und da ist dieses vertraute Gefühl, gemeinsam einen Augenblick zu erleben, den sie gleich empfinden, anstatt Menschen auf zwei verschiedenen gedanklichen Kontinenten zu sein.“ (Zitat Pos. 100)

Inhalt

Josef und Amira verbringen einige Tage in einer einsamen Hütte im Wald. Josef hat dort die Sommer seiner Kindheit verbracht. Drei Tage Urlaub in der Natur, völlig abgeschieden, Zeit füreinander. Der Zeitpunkt ist von Amira bewusst gewählt, sie hofft, dass es endlich mit dem lang ersehnten Kinderwunsch klappt. Tatsächlich wird Amira schwanger und sechs Wochen vor der Geburt fahren die beiden wieder zur Hütte, Babymoon, der letzte Urlaub ohne Kind. Die nächsten Ferien folgen mehr als drei Jahre später, diesmal mit Tochter Luise, ihr Vater will ihr die Natur zeigen. Doch immer öfter gleitet Amira in unterschiedliche Zeit- und Wahrnehmungsebenen ab, die Grenzen zwischen Einbildung und Realität verschwinden.

Thema und Genre

In diesem Roman mit starken psychologischen Themen wie Ängsten, Realitätsverlust und Zwängen, geht es im die Veränderungen im Leben einer Frau, wenn sie Mutter wird, um den Schritt von Beziehung und Partnerschaft zur Familie. Im Laufe der Geschichte gleiten die Ereignisse durch übernatürliche, unerklärbare Wahrnehmungen ins Horrorgenre ab.

Charaktere

Amira ist keine sympathische Figur. Sie ist besessen von ihrem Kinderwunsch, was auch die Beziehung zu ihrem Ehemann Josef belastet. Dann wird sie zur Übermutter, will eine perfekte Mutter sein, gleichzeitig belasten sie Zweifel und Ängste, Andeutungen weisen auf das Gegenteil hin. Ständig hinterfragt sie sich selbst zwanghaft in ihrer Mutterrolle, ihre Tochter wird zum Mittelpunkt ihres Lebens, um den sich alles dreht.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in vier übergeordneten Teilen erzählt. Im personalen Mittelpunkt steht immer Amira; ihr Ehemann Josef und ihre Tochter Luise bleiben Nebenfiguren. Weitere Hauptprotagonisten sind eine einsame Hütte am Waldesrand, der Wald selbst, ein altes Märchenbuch, das Josefs Vater vor vielen Jahren geschrieben hat, und eine Hündin, vor der Amira panische Angst hat. Was zunächst leise und alltäglich beginnt, wird rasch durch kurze Episoden und viele unterschiedliche Andeutungen surreal und beklemmend. Wir folgen der Hauptfigur Amira durch einige Jahre, wobei sie selbst immer öfter hinterfragt, in welcher Zeit- und Wahrnehmungsebene sie sich befindet, und wir Lesende fragen uns das ebenso. Das Leben ein Traum, der Traum ein Leben, die Autorin lässt uns mit dieser etwas wirren, unglaubwürdigen Geschichte und vielen losen Enden zurück, gibt uns damit jedoch viel Stoff zum Nachdenken. Ich habe diesen Roman mit dem Gefühl beendet, dass sich nicht nur die Hauptfigur Amira im dichten Gedankenwald dieser Geschichte verirrt hat, sondern irgendwann auch die Autorin.

Fazit

Eine beklemmende, packende, etwas wirre Geschichte, ein Beziehungsroman mit starken psychologischen Themen und Elementen aus dem Horrorgenre.

Der rote Raum: Ein Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss – Roman Voosen, Kerstin Signe Danielsson

AutorRoman Voosen
AutorinKerstin Signe Danielsson
Verlag KiWi-Taschenbuch
Erscheinungsdatum 7. Oktober 2021
FormatTaschenbuch
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462001631

„Einen vergleichbaren Fall kenne ich nicht und ich habe nicht die geringste Ahnung, womit wir es hier zu tun haben.“ (Zitat Pos. 637)

Inhalt

Ingrid Nyström, Hauptkommissarin in Växjö und für die Region Kronoberg zuständig, ermittelt in einem beklemmenden Mordfall: Adam Arlemark, Unternehmensberater, alleinstehend, wird in seinem Appartement tot aufgefunden. Im Brustkorb der Leiche fehlt das Herz, es wurde durch einen besonderen Stein ersetzt. Ein neuer Fall von Kannibalismus? In diesem Fall müsste man mit einem Serientäter rechnen, doch wie passt der Stein ins Bild? Stina Forss, Stockholm, wird nach einem kritischen Alleingang in einem Einsatz ein neuer Fall zugeteilt. In Kiruna, im hohen Norden, wurde Matti Leinonen von einer Hebebühne zerquetscht. Ein Arbeitsunfall, denn die Hebebühne war alt, schlecht gewartet und der Mechaniker war allein in der von innen verschlossenen Werkstätte. Doch dann beweist ein Indiz, dass es kein Unfall, sondern Mord war, ein Mord, der Stina Forss und der Polizei Kiruno eine Reihe von Rätseln aufgibt.

Thema und Genre

Dieser Kriminalroman spielt in Schweden und ist der neunte Fall der Serie „Die Kommissarinnen Nyström und Forss ermitteln“.

Charaktere

Die Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss, die früher ein Team waren, ermitteln nun voneinander unabhängig, denn Stina Forss hatte sich nach Stockholm versetzen lassen. Es sind Ermittlerinnen, die auch in ihrer eigenen Geschichte gefangen sind, besonders Stina ist eine unangepasste Einzelgängerin.

Handlung und Schreibstil

Die beiden Ermittlungen verlaufen unabhängig voneinander und werden in zwei Handlungssträngen abwechselnd geschildert. Parallel dazu wird eine dritte Geschichte erzählt, andere Personen, ein anderes Setting und man ist gespannt, wann sich hier ein Zusammenhang ergeben wird. Sehr interessant sind die Schilderungen der Landschaft und Menschen in und um Kiruna am nördlichsten Teil von Schweden. Die straffe, knappe Zeitrahmen, eine Woche von Samstag bis Samstag, wird durch Rückblicke erweitert. Die vielen unterschiedlichen Themen wie verstörende Morde, persönliche Befindlichkeiten, Spuren in die Red Rooms des Darknet, Psychologie und Sozialkritik machen sie facettenreich, obwohl gerade diese Vielschichtigkeit manchmal den Spannungsbogen unterbricht. Die Intention, weiterhin beide Ermittlerinnen in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen, ist im Rahmen der Serie verständlich, führt aber zu etwas konstruiert wirkenden überraschenden Wendungen und Zusammenhängen.

Fazit

Dieser facettenreiche, düstere Kriminalroman ist der neunte Fall einer Serie, die in Schweden spielt und in deren Mittelpunkt zwei eigenwillige Ermittlerinnen stehen.

Die wärmste aller Farben – Grégoire Delacourt

AutorGrégoire Delacourt
Verlag Atlantik Verlag
Erscheinungsdatum 1. November 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ÜbersetzungKatrin Segerer
ISBN-13978-3455011715

„Er lebt in einer Welt, in der wir beide, du und ich, unseren Platz haben. Einer Welt der Bäume und des Winds, der klugen Worte, einer Welt, in der Wut, Gewalt, das Böse nicht existieren.“ (Zitat Pos. 897)

Inhalt

Geoffrey Delatte lebt in seiner eigenen Welt, in die er sich zurückzieht, weil ihm der Lärm und die Einflüsse um ihn herum zu viel werden. Seine Mutter Louise liebt ihn, versucht ihn zu verstehen, seine eigene, präzise Ordnung, sein Weltbild aus Zahlen und aus Farben, seine Liebe zur Natur. Sein Vater Pierre war, als die Welt noch in Ordnung war, Maschinenführer in einer Papierfabrik, dann wurde er arbeitslos, bekam eine Teilstelle als Nachtwächter. Als die Gelbwestenproteste beginnen, ist Pierre Delatte dabei. Sein stiller Sohn Geoffrey ist in der Schule ein gemobbter Außenseiter, bis sich eines Tages in der Pause die zwei Jahre ältere Djamila neben ihn setzt und Geoffreys Leben sich für immer verändert. Ihre Freizeit verbringen sie im Wald des alten Einzelgängers Hagop Haytayan, wo Geoffrey Djamila die Natur erklärt, ein stiller, magischer Ort, doch kann er die drei Außenseiter vor der Realität dieser Tage schützen?

Thema und Genre

Dieser Roman ist vielseitig, es ist ein Familienroman, Gesellschaftsroman, Coming-of-Age-Roman. Themen sind Ausgrenzung, ASS, Migration, Radikalisierung, Sozialkritik aber auch Freundschaft, die stille Schönheit der Natur und die Liebe.

Charaktere

Geoffrey ist dreizehn Jahre alt und lebt seit seiner Geburt in seiner eigenen, genau geordneten Welt.  Man müsste nur zuhören, um ihn zu verstehen, und die zwei Jahre ältere Djamila und der alte Hagop Haytayan hören ihm zu. Der Autor zeichnet seine Figuren mit Empathie, auch die zornigen Gelbwesten, erklärt ihre Hintergründe, zeigt ihnen aber auch neue Möglichkeiten, lässt ihnen eine Wahl in ihren Entscheidungen.

Handlung und Schreibstil

Diese Geschichte ist ein Zeitbild von Frankreich und Paris während der intensiven Phase der zornigen Gelbwesten-Proteste. „Siebzehn Jahre später streifte sich die Verzweiflung neongelbe Warnwesten über. Jetzt bemerkte man sie schon von Weitem.“ (Zitat Pos. 149) Einfühlsam schildert der Autor die Hintergründe, seine Figuren stehen für Schicksale, die keine Einzelschicksale sind. Er erzählt das Leben seiner Hauptprotagonisten chronologisch, parallel, denn die Ereignisse finden gleichzeitig statt. In dieser Welt der Radikalisierung in alle Richtungen und Aufstände finden wir eine zweite, kleine Welt, leise und poetisch durch die Liebe zur Natur und das tiefe Verständnis zwischen drei Menschen, alle eine Form von Außenseitern. Der Autor ist ein wunderbarer Erzähler, dessen Sprache beeindruckt. Jedes Kapitel trägt als Überschrift eine bestimmte Farbe, die auch den Inhalt widerspiegelt.

Fazit

Eine facettenreiche, gesellschaftskritische, aktuelle Geschichte, einfühlsam, eindringlich und poetisch erzählt.

Der Silberfuchs meiner Mutter – Alois Hotschnig

AutorAlois Hotschnig
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 9. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462002133

„Unsere gemeinsame Welt war aus ihrem Koffer gekommen, aus einem Buch und aus einer Geschichte über eine Mutter und ihren verlorenen Sohn. Diese Welt war von nun an unser Versteck, und eine ganze Welt als Versteck, das war schon nicht nichts.“ (Zitat Pos. 220)

Inhalt

Gerd Hörvold ist Norwegerin, verlobt mit dem deutschen Soldaten Anton Halbleben. Als sie schwanger wird, ist sie in ihrer Heimat nicht mehr sicher, sie ist die Nazi-Hure und muss Norwegen verlassen. Über Oslo und Berlin kommt sie nach Hohenems, wo sich Antons Familie um sie kümmern soll, so lange er noch im Krieg ist. Doch auch die Menschen hier lehnen sie ab, Anton behauptet, das Kind sein von einem unbekannten Russen und verbietet sich jeden Kontakt. Ende 1942 kommt ihr Sohn Heinz zur Welt, es folgen Kinderheim und Pflegefamilie. 1946 findet die Mutter Heinz durch das Rote Kreuz und sie ziehen nach Lustenau, immer wieder gibt es Unterbrüche durch die Epilepsie seiner Mutter. Die Frage, was damals wirklich geschehen ist, lässt Heinz nicht los, immer wieder begibt er sich auf der Suche nach Antworten auf die Frage, wer er wirklich ist, während er im Leben immer wieder ein eine neue Rolle gleitet. Als Kind und Jugendlicher flieht er in die Geschichten, die er selbst erfindet, später auf der Theaterbühne und im Film als Schauspieler.

Thema und Genre

Dieser Roman erzählt die Suche nach der Wahrheit über die eigenen Wurzeln, über die Geschichte seiner Mutter und die Frage, warum sein Vater und dessen Familie seine Mutter und ihn plötzlich ablehnen. Es geht um das Aufwachsen im ländlichen, engen Vorarlberg nach dem Krieg, um Armut und Vorurteile, um das beharrliche Schweigen einer Generation. Diese Geschichte handelt von den vielen möglichen Varianten von Erinnerung und Wahrheit.

Charaktere

Um von den Menschen, die ihn umgeben, Ruhe zu haben, hat Heinz schon früh gelernt, sich selbst als Rolle zu spielen.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman ist der Monolog eines nun alten Ich-Erzählers, seine Erinnerung in Verbindung mit den Erinnerungen anderer, die sie ihm erzählt haben. Es ist die Geschichte seiner Mutter und zugleich die Geschichte seines eigenen Lebens. Dies verbindet sich mit seinen Gedanken, Gefühlen, den Fragen, die er sich immer wieder stellt, warum er von seinem Vater und dessen Familie plötzlich verleugnet wurde. Seine Erfahrungen vernetzt er später mit den Rollen, die er im Theater und im Film spielt. Es sind harte, raue Bedingungen, unter denen er aufwächst und so ist es auch ein harter, rauer Text, in dem die schönen Erinnerungen und glücklichen Momente rasch von der Realität des Alltags überdeckt werden. Daran ändert sich für mich auch nichts, als gegen Ende noch ein Schwenk in eine mögliche, zweite Variante auftaucht, denn dies bleibt ein Fragment, lose Enden, offene Fragen zwischen Schein und Wirklichkeit. Auch die Sprache ist eine direkte und raue Umgangssprache, manchmal ausufernd, langatmig, wenn das erzählende Ich in den eigenen Gedanken und Geschichten versinkt.  

Fazit

Die als Monolog geschilderte Suche nach der Wahrheit im Leben des 1942 geborenen Ich-Erzählers Heinz Fritz und seiner norwegischen Mutter Gerd. Eine tragische, harte Geschichte eines Lebens voller Lücken, die sich von Heinz trotz seiner intensiven Fragen nicht füllen lassen.

Das Haus auf dem Wasser – Emuna Elon

AutorEmuna Elon
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 20. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten360
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBarbara Linner
ISBN-13978-3351038410

„Ich selbst hoffe, dass mein Schreiben nicht im Sumpf der Vergangenheit gründet, sondern meine Seele und die Seelen meiner Leser zu dem trägt, was gegenwärtig ist, und was in Zukunft sein wird.“ (Zitat Pos. 122)

Inhalt

Joel Blum, ein preisgekrönter, international erfolgreicher israelischer Schriftsteller, reist mit seiner Frau Bat-Ami nach Amsterdam. Sein holländischer Verleger hat ihn eingeladen und seine Frau überzeugt ihn von der Wichtigkeit dieser Reise, obwohl Joel damit den letzten Willen seiner verstorbenen Mutter missachtet. Diese hatte ihn eindringlich gebeten, nie nach Amsterdam zurückzukehren. Bei dem Empfang, den der Amsterdamer Verlag ihm zu Ehren gibt, fragt plötzlich ein Journalist, ob es wahr sei, dass Joel Blum hier in Amsterdam geboren sei. Damit deckt er ein Geheimnis auf. Denn Joel Blum ist tatsächlich der Sohn einer alteingesessenen Amsterdamer Familie, die im zweiten Weltkrieg nach Israel ausgewandert ist. Damals war Joel ein Baby. Er selbst hat keine Erinnerungen an diese Zeit und seine Mutter hatte auf alle Fragen geschwiegen. Jetzt fliegt er, eine Woche nach diesem Vorfall, wieder nach Amsterdam, diesmal allein. Denn im Jüdischen Museum hatte er einen Film gesehen, eine kurze Sequenz, wenige Minuten, die alles verändert haben. Er begibt sich auf die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit und arbeitet gleichzeitig an einem neuen Roman, der dies zum Thema hat.

Thema und Genre

In diesem Roman, der in Amsterdam und Tel Aviv spielt, geht es um die Zeit der Besatzung und Judenverfolgung in Holland, um Familiengeheimnisse und um die Suche nach der eigenen Identität. Gleichzeitig ist auch das Schreiben, die Entstehung einer Geschichte und ihrer Figuren ein Thema.

Charaktere

Joel Blum ist ein bekannter Schriftsteller, ein genauer Beobachter mit vielen offenen Fragen, auf die er nun Antworten sucht. „Doch etwas in ihm sagt ihm, sollte ihm das alles gelingen, würde dieses Buch der Roman seines Lebens werden – nur um diesen Roman zu schreiben, sei er überhaupt ein Schriftsteller geworden.“ (Zitat Pos. 227)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte ist in vier übergeordnete Kapitel gegliedert, jedes davon ein Notizheft, denn Joel Blum pflegt seine Eindrücke immer in Notizheften festzuhalten, wenn er an einem neuen Romanstoff arbeitet. Seine Tage in Amsterdam füllen sich mit Recherchen, dazwischen schildert er das Leben von Sonia, seiner Mutter, und ihrer Familie in diesen Tagen, an denen immer mehr Juden verhaftet und abtransportiert werden. Immer wieder füllen sich die Straßen, Plätze und Häuser, die er in der Gegenwart aufsucht, für ihn mit den Menschen aus seiner Vergangenheit und auch seine Notizhefte füllen sich. Diese Art des Erzählens macht diese besondere, eindrückliche Geschichte spannend. Ergänzt wird die Handlung durch lebhafte Schilderungen Amsterdams damals und heute, in einer wunderbar zu lesenden Sprache

Fazit

Eine überzeugend erzählte, einfühlsame, packende Geschichte über Familiengeheimnisse und die Suche nach der eigenen Identität als Resultat von Vergangenheit und Gegenwart.

Blaue Frau – Antje Rávik Strubel

AutorAntje Rávik Strubel
Verlag S. FISCHER
Erscheinungsdatum 11. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3103971019

„Ich frage die blaue Frau, ob es sich nicht umgekehrt verhalte. Ob nicht das Erzählen vor dem Leben geschützt werden müsse, vor dem Gewöhnlichen, dem Vergessen, dem Vergehen der Zeit.“ (Zitat Pos. 1650)

Inhalt

Adina, geboren 1984 wächst in einem Dorf im tschechischen Riesengebirge auf, in einem im Winter von Touristen besuchten Schigebiet. Am 18. September 2006, sie ist einundzwanzig Jahre alt, fährt sie nach Berlin. Sie besucht Deutschkurse, denn sie will Geowissenschaften studieren. Durch die Fotografin Rickie erhält Adina eine Praktikumsstelle auf einem Landgut in der Uckermark. Razlav Stein hat das verfallene Anwesen gekauft und will ein Kulturzentrum errichten. Den Namen Adina kann er sich nicht merken, er nennt sie Nina. Es ist ein Abend mit wichtigen Investoren, der ihr Leben völlig verändert. Sie flieht nach Helsinki, wo sie den estnischen Professor Leonides Siilmann, der sie liebevoll Sala nennt, kennenlernt. Eines Abends nimmt dieser sie auf einen Empfang mit, wo ihre Vergangenheit sie einholt. Wer ist diese junge Frau mit den drei Namen, die sich selbst jedoch „Mohikaner“ nennt und wer ist die blaue Frau, die ihre Geschichte begleitet und die Ilse Aichinger zitiert?

Thema und Genre

In diesem komplexen Roman geht es um die auch nach dreißig Jahren noch bestehenden mentalen und wirtschaftlichen Grenzen zwischen Ost und West, wobei Finnland das Bindeglied ist. Themen sind Gewalt an Frauen, Traumata, das Wegsehen der Gesellschaft, Ausbeutung, und die Lebensumstände der aus Osteuropa stammenden Menschen im Westen.

Charaktere

Die Autorin formt ihre Figuren, sie geht hart und realistisch mit ihnen um. Es geht ihr die tatsächlichen Umstände, Entscheidungen, Handlungen, Befindlichkeiten, die sie genau beobachtet und präzise beschreibt. Adina ist Opfer, weil es die Geschichte einer Frau ist, die durch ein einschneidendes Erlebnis zum Opfer wurde, die Autorin lässt ihrer Hauptfigur keine Wahl für mögliche andere Entscheidungen. Adinas Stärke zeigt sich, wenn der Mohikaner auftaucht, der in ihrer Jugend irgendwann plötzlich da war, eine Art Alter-Ego und ihr vierter Name.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt in Helsinki, wir folgen Adina als Mittelpunkt der personalen Erzählform, sehen durch ihre Augen die Umgebung, die Gegenstände ihrer Wohnung, aber auch Helsinki und die weiteren Orte der Handlung, immer wieder die genauen Beobachtungen der Natur, der Bäume, präzisiert durch Licht und Schatten. Sie erinnert sich an die Zeit mit Leonides, den sie gerade verlassen hat. Der zweite Teil geht in der Zeit zurück und schildert Adinas Ankunft und Neubeginn in Berlin. Es folgt der dritte Teil mit den Ereignissen in dem Landhaus an der Oder, der vierte Teil beschreibt ihren Weg aus der Uckermark bis nach Helsinki und verbindet sich hier mit der Gegenwart. Ergänzt wird die Geschichte durch Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend. In einem eigenen Erzählstrang taucht immer wieder die blaue Frau auf, sie trägt einen hellen Mantel und ein blaues Tuch. „Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten.“ (Zitat Pos. 146). Die Momente dieser Begegnungen werden von einer Ich-Erzählerin geschildert. Die Autorin überlässt es uns Lesenden, diese Figur zu interpretieren, für mich ist es die Idee zu diesem Roman, zur Figur der Adina und zum gesamten Schreibprozess.

Fazit

Ein vielschichtiger, packender Roman mit brisanten aktuellen Themen, mit spannenden Varianten der Erzählperspektiven, mit trotz kleiner Längen sprachlich beeindruckenden Schilderungen, der nachdenklich stimmt und einige wichtige Aspekte der eigenen Interpretation der Lesenden überlässt.

Der Schattenkönig – Maaza Mengiste

AutorMaaza Mengiste
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 17. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten576
ÜbersetzerinBrigitte Jakobeit
ÜbersetzerinPatricia Klobusiczky
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423282925

„Er ist ein stiller Mann, der einst eine Nation gegen ein stählernes Ungeheuer anführte, und sie war seine treueste Soldatin: die starke Wächterin des Schattenkönigs. Erzähle es ihnen, Hirut. Jetzt oder nie.“ (Zitat Pos. 85)

Inhalt

Geley und Fasil, die Eltern der jungen Hirut, sind tot. Kidane, ein hoher Offizier des Kaisers Haile Selassie hat ihren Eltern versprochen, sich um ihre Tochter zu kümmern. Er nimmt Hirut als Dienstbotin für seine Frau Aster in sein Haus auf. Mussolinis Truppen sind unterwegs nach Äthiopien, um das Land zu kolonialisieren. Anfang Oktober 1935 rücken die Italiener mit einhunderttausend Mann und stark bewaffnet an. Der Kaiser flieht mit seiner Familie nach England, doch er befiehlt Kidane, trotz des übermächtigen Gegners weiterzukämpfen. Da schreitet Aster ein und ruft alle Frauen auf, ihre Männer als Soldatinnen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln im Kampf zu unterstützen. Auch die Köchin und Hirut erhalten wichtige Aufgaben bei der Versorgung der kämpfenden Männer und der Verwundeten. Als Hirut den Musiker Minim sieht, hat sie eine Idee, doch der Gegner ist einer der grausamsten, brutalsten Offiziere Italiens.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um den Abessinienkrieg Mussolinis von 1935 bis 1941, Rassismus, Völkermord, chemische Massenvernichtungswaffen. Vor allem jedoch geht es um die Solidarität mutiger Frauen aus allen Bevölkerungsschichten, die bereit waren, die Männer als Soldatinnen zu unterstützen. Wichtige Themen sind die Unterdrückung der Frauen durch die Männer, ihre Rechtlosigkeit, aber auch die Frage nach der Mitschuld am Beispiel eines Kriegsfotografen.

Charaktere

Aster, die als junges Mädchen zur Ehe mit dem älteren Kidane gezwungen worden war, ist herrisch und launenhaft, durch den frühen Tod ihres kleinen Sohnes aus der Bahn geworfen. Doch dieser Krieg verändert sie, sie wird zur Soldatin und ruft alle Frauen zum Widerstand gegen die übermächtigen Feinde auf, zeigt ihnen, wie man kämpft, selbst Patronen herstellt. Hirut ist eine Dienstmagd, der Herrschaft ausgeliefert. Doch mutig kämpft auch sie für die Freiheit Abessiniens. „Foto“ Ettore Navarro dokumentiert als Fotograf der italienischen Truppen alle Ereignisse, er sieht nicht die Menschen, sondern die künstlerische Ausdruckskraft seiner Fotografien.

Handlung und Schreibstil

Eingebettet in einen Prolog und Epilog 1974 werden die Ereignisse der Jahre 1935 bis 1941 chronologisch erzählt, ergänzt durch klassische Kommentarstimmen eines Chors im Hintergrund. Sprachlich ist die Geschichte eine Mischung aus Legenden, wie man sie den Nachkommen erzählt, und einem Heldinnenepos. Die Sprache bewegt sich zwischen blumig ausgeschmückt und kantig, knapp in den Schilderungen der brutalen  Szenen, obwohl immer eine tiefe Empathie mitschwingt. Wem es möglich ist, sollte diesen Roman „The Shadow King“ in der englischen Originalsprache lesen. Es liegt nicht an der Übersetzung, aber die englische Sprache kann mit wenigen Worten unendlich viel aussagen und erklären, wo die deutsche Sprache mehrere Sätze braucht und das liest sich dann manchmal holprig. Dies umso mehr, da die Autorin für ihre Geschichte ungewohnte Erzählformen wählt.

Fazit

Eine extrem intensive Geschichte über den brutalen Angriff auf Abessinien durch das faschistische Italien, den mutigen Widerstand der generell unterdrückten Frauen, die hier nicht mehr Opfer sind, sondern zu Soldatinnen werden.

Der perfekte Kreis – Benjamin Myers

AutorBenjamin Myers
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 17. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ÜbersetzungUlrike Wasel
ÜbersetzungKlaus Timmermann
ISBN-13978-3832181581

„In diesen Momenten zerbröckelt die Moderne, und eine Art Zeitreise findet statt. Und heute Nacht, wie in allen vorangegangenen Nachten und jenen, die noch folgen werden, versetzt diese Reise die beiden Männer in die Lage, in nur wenigen schweißtreibenden Stunden etwas zu vollenden, das verblüffen, betören, provozieren und verwundern wird.“ (Zitat Pos. 667)

Inhalt

Seit etwa zehn Jahren kennen Redbone, Anarcho-Punk-Musiker, und der Falkland-Kriegsveteran Calvert einander und sind Freunde. Beide leben im Heute, doch beide sind immer noch dabei, die Erfahrungen ihrer Vergangenheit zu verarbeiten, auch wenn diese aus völlig unterschiedlichen Ereignissen entstanden sind. Es ist ihr dritter Sommer, in dem sie in langen Nächten diese besonderen, mythischen Gebilde schaffen, die Kornkreise, angetrieben durch Verrücktheit, Angst, Spaß, die Wertschätzung der Natur, die Suche nach uneingeschränkter Freiheit und dem Wunsch, den Menschen etwas Besonderes zu zeigen. In diesem Jahr 1989 arbeiten sie auf den Höhepunkt ihres Schaffens hin, ihr Opus Magnum, die Honigwabe-Doppelhelix, ein kompliziertes Muster von perfekter Schönheit, geplant für das Ende des Sommers.

Thema und Genre

Dieser poetische Roman spielt 1989 im ländlichen Südengland. Es geht es um die Achtung vor der Natur, Träume, den Umgang mit der eigenen Vergangenheit, Freundschaft und natürlich um die heimliche Schaffung von Kornkreisen.

Charaktere

„Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit“ ist Redbones Lebensziel. Er tüftelt das Design der Kornkreise aus, ist fantasievoll, visionär, kreativ. Calvert ist ein sehr ruhiger Mensch, pragmatisch, diszipliniert, hat langjährige Kampferfahrung aus Auslandseinsätzen. Die wichtigsten Kriterien ihrer nächtlichen Tätigkeit sind für beide absolute Verschwiegenheit unter allen Umständen und die perfekte Schönheit der Kreise.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt im Sommer 1989 und wird chronologisch geschildert. Die Erzählform ist personal und Redbone und Calvert stehen im Mittelpunkt. In diesem Sommer entstehen zehn Kornkreise und jedes Kapitel trägt als Überschrift den Namen des jeweiligen Kornkreises, der in diesem Kapitel entsteht. Doch auch wenn sie versteckt arbeiten und darauf achten, auf keinen Fall entdeckt zu werden, sind sie nicht allein in der Nacht. Sie begegnen sonst kaum sichtbaren Tieren und beobachten nächtliche Partys, Zusammenkünfte, esoterische Gruppen, unterschiedliche Menschen auf ihren nächtlichen Wegen und Abenteuern.

Großartige Schilderungen der Natur und interessante Beschreibungen der einzelnen Kornkreis-Strukturen ergänzen die spannende Frage, ob ihnen dieser eine ganz besondere Kornkreis gelingen wird.

Fazit

Eine poetische, packend und einfühlsam erzählte Geschichte, ein überzeugendes Leseerlebnis.

Drei Kameradinnen – Shida Bazyar

AutorShida Bazyar
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 15. April 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462052763

„Ihr werdet alles, was ich sage, ein wenig anzweifeln und euch vergewissern, dass ihr es besser wisst. Ihr habt vielleicht recht, genauso wie ich. Ich habe recht, und ich habe beim Schreiben manchmal gelogen, okay, aber ich habe trotzdem recht, denn lügen und recht haben, das schließt sich nicht aus, auch bei mir nicht.“ (Zitat Pos. 4193)

Inhalt

Kasih kennt Hani und Saya schon seit ihrer Kindheit und Jugend in einer hauptsächlich von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnten Problemsiedlung am Stadtrand. Inzwischen haben sie studiert, Saya ist beruflich viel auf Reisen, doch ihre Freundschaft ist beständig. Nun treffen sie einander nach sechs Jahren wieder, Saya kommt für einige Tage zu Kasih auf Besuch, da eine gemeinsame Freundin heiratet. Dann kommt diese besondere Nacht, in der Kasih alles niederschreibt, wie es ist, als Deutsche mit den täglichen Diskriminierungen und Vorurteilen zu leben, die sich allein durch das Aussehen ergeben. Es sind Erinnerungen und aktuelle Ereignisse in einer Zeit, in welcher Ausländerhass und Rassismus stärker werden, statt zu verschwinden.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Kraft der Freundschaft, den Alltag von Frauen und Familien mit Migrationshintergrund, um Alltagsrassismus, Rechtsruck in der Politik, Vorurteile und Missverständnisse.

Charaktere

Kasih ist studierte Soziologin, arbeitslos, kritisch und dennoch der Ruhepol zwischen der pragmatischen Hani und der zornigen, aufbrausenden Saya, deren innere Wut und Solidarität dazu führen, dass sie keine Konfrontation auslässt. „Damit war die Diskussion beendet und erst Jahre später, wirklich viele Jahre später, sagen wir, in diesem Jahr, war Saya aufgefallen, dass sie in solchen Diskussionen nie eine Chance gehabt hatte, denn alle, auch sie selbst, sahen ihre Rolle lediglich darin, provozierende Dinge in die Runde zu werfen und allen inbrünstig zu widersprechen, aber ihre Rolle sah nicht vor, recht zu haben.“ (Zitat Pos. 702)

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman besticht neben Inhalt und Handlung durch seine moderne Erzählform, in Verbindung mit einer modernen, aber gleichzeitig eindrücklichen Sprache. Wir Lesende sind „Ihr“, viele von uns sicher die „Weißen“, während die drei Frauen Kasih, Hani und Saya „wir“ sind. Es sind Episoden, Ereignisse, kurze Szenen, die hauptsächlich Kasih als Ich-Erzählerin schildert, Erinnerungen an die Kindheit und Jugend, an ihre Beziehungen als Erwachsene. Eingebettet sind diese Rückblicke, in die ebenfalls knapp und rasch aufeinanderfolgend skizzierten aktuellen Ereignisse innerhalb von wenigen Tagen. Wenn es sich um Situationen handelt, in denen Kasih nicht anwesend ist, wechselt die Autorin in eine personale Erzählperspektive. Diese Vielfalt, die raschen Gedankensprünge, die geballte, zornige Kraft der Aussagen und Inhalte der Ich-Erzählerin machen diesen Roman packend, intensiv, und gleichzeitig regt jede Seite zu neuem Nachdenken an, zu Änderungen der eigenen Erfahrungen und Sichtweisen. Auch ich musste ein persönliches Vorurteil revidieren, denn ich hätte dieses Buch längst lesen können, aber die für mich negative Wortwahl des Titels schreckte mich ab, bis ich durch die Longlist-Broschüre eine längere Leseprobe lesen konnte, zusammen mit mehr Informationen.

Fazit

Eine intensive Geschichte über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, bewusst, oder im Alltag unbewusst, über gegenseitige Vorurteile und Missverständnisse, die einen normalen, unverkrampften Umgang miteinander verhindern. Es geht um eine einfach Frage: Jobsuche, Wohnungsnot, Beziehungen – es sind Probleme, die wir alle kennen, egal, ob unsere Haut etwas heller oder dunkler ist. Warum aber macht das immer noch einen Unterschied?

Besichtigung eines Unglücks – Gert Loschütz

AutorGert Loschütz
Verlag Schöffling
Erscheinungsdatum 20. Juli 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895611575

„Es ist die Liste, die am nächsten Tag in der Genthiner Zeitung abgedruckt wurde, die erste einer ganzen Reihe von Listen, die bereits den Namen enthielt, der mich lange beschäftigen würde, weil es der einzige ausländische war. Buonomo Giuseppe aus Neapel.“ (Zitat Pos. 600)

Inhalt

An diesem 22. Dezember 1939, um 0 Uhr 53, sind die Wetterverhältnisse extrem schlecht und knapp vor dem Bahnhof Genthin prallen zwei Züge aufeinander. Vier entscheidende Sekunden führen zu einem Trümmerfeld mit hunderten Toten und Verletzten und dennoch ist dieses schwere Zugunglück durch die deutsche Geschichte der darauffolgenden Jahre in Vergessenheit geraten. Der Journalist Thomas Vandersee hat seine Kindheit in Genthin verbracht. Als er von einem alten Herrn, der Lisa, die Mutter von Thomas, aus Schultagen vom Sehen kannte, einen Zeitungsartikel über dieses Zugunglück erhält, ist er zunächst nicht interessiert. Doch eine Bemerkung über eine der beiden Unglückslokomotiven, die unter einer geänderten Nummer wieder in Betrieb genommen wurde, ändert alles. Er beginnt zu recherchieren, doch während er versucht, anhand der Akten den Unglückshergang zu rekonstruieren, tauchen eine Reihe weiterer Fragen auf. Carla Finck war in diesem Zug, warum steht ihr Name auf keiner Opferliste? Immer tiefer taucht er in Einzelschicksale ein und gleichzeitig auch in die Vergangenheit der eigenen Familie, in die Geschichte seiner Mutter.

Thema und Genre

Was als Recherche zu einem tragischen Eisenbahnunglück beginnt, erweitert sich in diesem Roman rasch zu den Geschichten von irgendwie mit diesem Zugunglück in Verbindung stehenden Menschen mit ihren Beziehungen, Träumen, Geheimnissen. Es geht um Entscheidungen, Zufälle und den Faktor Zeit, denn es sind immer wenige Sekunden, die alles verändern.

Charaktere

Der Autor nimmt sich Zeit für seine Figuren, er schildert ihr Verhalten und Entscheidungen im Kontext mit der damaligen Zeit. Thomas Vandersee erkennt, dass es die Familiengeheimnisse seiner Kindheit und Jugend sind, die ihn prägen.

Handlung und Schreibstil

Der Roman umfasst fünf große Teile und Thomas Vandersee als Ich-Erzähler ergänzt die Geschichte noch mit seinen persönlichen Erinnerungen. Der erste Teil führt uns in die Gegenwart, in das Leben und den Alltag des Journalisten Thomas Vandersee als Ich-Erzähler, unterbrochen von minutiösen Schilderungen möglicher Hergänge des Zugunglücks, wie auch die Akten unterschiedliche Versionen zur Klärung der Schuldfrage darstellen. Im zweiten Teil geht es um das Leben von Carla Finck, im personalen Mittelpunkt des dritten Teils steht Lisa, die Mutter von Thomas, der vierte Teil trägt den Titel „Aus den Notizheften“, denn Thomas macht sich zu allen Alltagsereignissen Gedanken und füllt damit Notizhefte, die er alle aufbewahrt, weil sie seine Vergangenheit dokumentieren. Der letzte, fünfte Teil bringt nochmals ergänzende Details zu Carlas Leben, einige Fragen werden gelöst, andere bleiben offen und überlassen es uns, darüber nachzudenken. Die poetische, klare Sprache schildert und beschreibt eindrücklich.

Fazit

Dieser facettenreiche Roman ist nicht nur die Besichtigung eines Unglücks, sondern vielmehr eine vielschichtige, intensive Besichtigung von Lebenswegen und folgenreichen Entscheidungen, von Sekunden, die das Leben eines Menschen verändern können.

Schnittbild – Anna Felnhofer

AutorAnna Felnhofer
Verlag Luftschacht
Erscheinungsdatum 30. März 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903081864

„Nun ja, jedes dieser Bilder trägt seine eigene Wahrheit, aber zugleich auch das Prinzip der anderen in sich und wirkt so auf zweifache Weise: Mit einer Wahrheit, die für sich stehen kann und mit einer, die über diese in sich geschlossene, segmentierte Wahrheit hinausweist.“ (Zitat Pos. 3995)

Inhalt

Fünfunddreißig Jahre trennt Fabjans Geschichte, der die Welt durch die Linse seiner Leica betrachtet und auch an diesem Silvester 2016 noch nicht darüber hinweggekommen ist, dass Lena ihn verlassen hat, und die Geschichte der jungen Rahel, die als selbstmordgefährdete Vierzehnjährige im Frühling 1981 in die Psychiatrie eingewiesen wird. Eriks Geschichte liegt dazwischen, seine Frau ist 1997 bei einem Familienurlaub an der Adria spurlos verschwunden und genau an diesem Tag, sieben Jahre später, ist er im Auftrag seiner Fakultät auf dem Weg zum Forum Alpbach 2004. Sie haben eine Gemeinsamkeit: die Therapeutin, die sie in der kritischen Zeit betreut.

Thema und Genre

In insgesamt vier Episoden erzählt dieser Roman vier unterschiedliche Schicksale, Probleme und Konflikte von vier Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Immer wieder verschieben sich Bilder der Wirklichkeit, werden zur Iteration, zu unterschiedlichen, möglichen Versionen der jeweiligen Geschichte.

Charaktere

Die Autorin schreibt über Figuren in besonderen Konfliktsituationen, über die Gefahr von zu engen Beziehungen zwischen Patient und Therapeut, doch was mich irritiert, ist diese harte, analytische Sachlichkeit, mit denen sie ihre Figuren schildert, das Fehlen von Empathie mit der realen Ausweglosigkeit der Situation, in die sie ihre Figuren entlässt.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin erzählt die Handlung in vier Episoden, die durch die Therapeutin miteinander verbunden sind. In der vierten Episode verschieben sich die Bilder zwischen möglicher Realität und möglicher Scheinwelt nochmals und es ergeben sich neue Sichtweisen, aber auch neue Fragen. Der Schreibstil ist analytisch, wissenschaftlich, klar und emotionslos, man erkennt darin die wissenschaftliche Qualifikation der Autorin, die selbst Psychologin ist und ihr Fachgebiet virtuelle Realitäten. Dies führt dazu, in Verbindung mit der intensiven Dichte der Problematik, der Themen und vor allem der an sich selbst scheiternden Therapeutin, dass die Handlung des Romans teilweise beklemmend, verstörend wirkt und in ihrer Vielschichtigkeit viele Fragen unbeantwortet lässt, unter anderem die Frage, was uns die Autorin mit diesem Roman sagen will, „traue keiner Therapeutin, keinem Therapeuten“?

Fazit

Die Grundidee der Autorin, bekannte literarische Vorbilder in psychologischen Ausnahmesituationen für die facettenreichen Konflikte ihrer Episoden heranzuziehen, aus dem ursprünglichen Zusammenhang in neue Bilder von unterschiedlichen Realitäten und scheinbaren Realitäten einzusetzen, ist genial. Die Umsetzung jedoch konnte mich nicht überzeugen.

Der versperrte Weg: Roman des Bruders – Georges-Arthur Goldschmidt

AutorGeorges-Arthur Goldschmidt
Verlag Wallstein
Erscheinungsdatum 28. Juni 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten111
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3835350618

„Es ist ein sonderbares Gefühl, so nahe aneinander gelebt zu haben und so wenig vom älteren Bruder zu wissen.“ (Zitat Pos. 166)

Inhalt

Erich Goldschmidt ist fast fünf Jahre alt ist, als am 2. Mai 1928 sein Bruder Jürgen-Arthur geboren wird und dieses schreiende Baby ist für Erich ein Eindringling. Dennoch fühlt er sich später für seinen Bruder verantwortlich. Besonders ab diesem 18. Mai 1938, an dem die Eltern sie beide zu Verwandten nach Italien schicken, um sie in Sicherheit zu bringen, denn plötzlich sind sie keine Deutschen mehr, sondern Juden. Da ist Erich vierzehn Jahre alt, Jürgen-Arthur zehn. Bald ist auch Italien nicht mehr sicher und am 17. März 1939 werden sie nach Frankreich geschickt, wo sie die nächsten Jahre im Internat einer Privatschule verbringen. Nach dem Abitur ist Erich für die Résistance tätig, um seine neue Heimat Frankreich im Kampf gegen die Nationalsozialisten zu unterstützen. Dennoch wird Erich immer das Gefühl haben, irgendwo zwischen Deutschland und Frankreich zu stehen, in Deutschland verfolgt, weil er Jude ist, in Frankreich nach Kriegsende verfolgt, weil er Deutscher ist.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses autobiografischen Romans steht diesmal der ältere Bruder des Autors. Es geht darum, wie sehr die Verfolgung, Lebensgefahr und Flucht aus Deutschland das Leben eines jungen Menschen, im konkreten Fall das Leben von Erich, nachhaltig prägen.

Charaktere

Erich ist Deutscher, protestantisch erzogen und als er plötzlich aus dem Freundeskreis des Gymnasiums ausgeschlossen wird, weil er Jude ist, bricht für ihn die Welt zusammen, er versteht das nicht. Dieser Verlust der Heimat prägt sein ganzes Leben, obwohl er sich rasch in Frankreich zu Hause fühlt, bleibt eine innere Zerrissenheit.

Handlung und Schreibstil

Der Autor erzählt die Geschichte seines Bruders chronologisch, wobei Kindheit und Jugend im Mittelpunkt stehen, vor allem die Ereignisse ab dem Jahr 1938. Immer wieder müssen sie fliehen, entkommen nur knapp, werden versteckt und im Jahr 1943 trennen sich ihre Wege. Während Jürgen-Arthur bei Bauern untertaucht, beginnt Erich, für die Résistance tätig zu sein. 1947 treffen sich die Brüder kurz, aber die hier erzählte Geschichte erfährt der Autor von seinem Bruder erst, als sie sich Ende der siebziger Jahre in Deutschland wiedersehen. In leiser, eindringlicher Sprache schildert der Autor das Leben eines Menschen, der von seiner persönlichen Vergangenheit geprägt ist und sich selbst damit den eigenen Lebensweg zu versperren scheint.

Fazit

„Warum bin ich gerade der, der ich bin?“ (Zitat Pos. 812). Diese autobiografische Geschichte erzählt von einer Generation, die in Deutschland aufwuchs, um über Nacht plötzlich als Jude verfolgt, bedroht zu werden und gerade noch durch Flucht aus dem Land entkommt, das für sie bisher Heimat war.

Österreichischer Buchpreis – Longlist 2021 und Shortlist Debüt 2021

HerausgeberHauptverband des Österreichischen Buchhandels, Wien
Erscheinungsdatum 2. September 2021
FormatTaschenbuch
SpracheDeutsch

Shortlist Debüt 2021

„Das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport, der Hauptverband des Österreichischen Buchhandels und die Arbeiterkammer Wien richten 2021 gemeinsam den jährlich zu vergebenden Österreichischen Buchpreis aus.

Ziel des Wettbewerbs ist es, die Qualität und Eigenständigkeit der österreichischen Literatur zu würdigen und ihr im gesamten deutschsprachigen Raum die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen.“ (Originalzitat https://oesterreichischer-buchpreis.at/der-buchpreis/Österreichischer Buchpreis, Ausschreibung 2021)

Inhalt

Das Lesebuch „Österreichischer Buchpreis und Debütpreis 2021“ stellt die zehn nominierten Titel der Longlist 2021 und die drei Titel der Shortlist Debüt 2021 vor. Heuer waren 122 Bücher von 57 Verlagen eingereicht worden.

In österreichischen Buchhandlungen erhält man die Broschüre in gedruckter Form kostenlos, sie ist jedoch rasch vergriffen. NetGalley Deutschland stellt diese in elektronischer Form ebenfalls kostenlos zum Download bereit.

Dieses Lesebuch beginnt mit einer Auflistung der nominierten Bücher in alphabetischer Reihenfolge der Namen der Autorinnen und Autoren. Es folgen ausführliche Leseproben. Anschließend werden die Autorinnen und Autoren vorgestellt, wieder in alphabetischer Reihenfolge, mit Foto, kurzem Lebenslauf und zusätzlichen Informationen zur schriftstellerischen Tätigkeit. Eine Liste der nominierten Bücher mit Coverfoto, Titel, Verlag, Seitenzahl und Preis schließt die Präsentation der österreichischen Longlist und Shortlist Debut 2021 ab.

Fazit

Eine perfekte Alternative zur gedruckten Broschüre. Ein interessanter Überblick über die nominierten Romane mit ausführlichen Leseproben. Auf die Angaben zum Inhalt der einzelnen Romane, von denen einige ohnedies schon aus den Medien und Verlagspublikationen bekannt sind und auch auf der deutschen Longlist 2021 stehen, wurde verzichtet, doch diese findet man auf der Homepage des Österreichischen Buchpreises und natürlich auf den Seiten der Verlage. Mich machte besonders ein Titel der Shortlist Debütpreis neugierig: „Schnittbild“ von Anna Felnhofer.

Deutscher Buchpreis 2021: Die Nominierten – Herausgeber: Fachmagazin Börsenblatt / MVB

AutorDeutscher Buchpreis 2021
HerausgeberFachmagazin Börsenblatt
Erscheinungsdatum 24. August 2021
FormatTaschenbuch
SpracheDeutsch

Jurysprecher Knut Cordsen, Kulturredakteur beim Bayerischen Rundfunk: „Als Jury hatten wir in diesem Jahr so viele Titel zur Auswahl wie bisher nie beim Deutschen Buchpreis. Ein Viertel davon waren belletristische Debüts, ein breites Bouquet neuer literarischer Stimmen. Die Jury freut sich, mit der Longlist eine Auswahl getroffen zu haben, die das erzählerische Experiment ebenso würdigt wie den realistischen Roman, das Komische wie das Surreale. Diese 20 Bücher nehmen Herkunft und Geschichte ebenso in den Blick wie zentrale Fragen der Gegenwart.“ (Originalzitat Pressemitteilung 24. August 2021)

Inhalt

Das Lesebuch „Deutscher Buchpreis 2021: Die Nominierten“ stellt die zwanzig für den Deutschen Buchpreis 2021 nominierten Romane vor. In vielen Buchhandlungen erhält man die Broschüre in gedruckter Form kostenlos.

Die zwanzig Autorinnen und Autoren werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt, mit zusätzlichen Informationen wie Foto, Lebenslauf und künstlerischer Werdegang. Daran schließt eine Beschreibung des Themas des jeweiligen Romans an, gefolgt von einer ausführlichen Leseprobe. Ein Bild der Titelseite mit den Angaben über Verlag, Erscheinungsdatum, Seitenzahl und Preis schließt die jeweilige Präsentation ab.

Fazit

NetGalley Deutschland stellt die Broschüre in elektronische Form, herausgegeben vom „Börsenblatt“, kostenlos zum Download bereit, in dieser Form habe ich sie gelesen. Eine perfekte Alternative zum gedruckten Lesebuch, das nicht in allen Buchhandlungen erhältlich und auch dort rasch vergriffen ist. Ein interessanter Überblick über die nominierten Romane mit ausführlichen Leseproben. Auf dieser Longlist 2021 finden sich mehrheitlich bekannte Bücher, die man bereits seit dem Erscheinen aus Werbung und diversen Besprechungen in den Medien kennt, das Hauptthema scheint weiterhin die Aufarbeitung in Romanform der eigenen Familiengeschichte der Autorinnen und Autoren zu sein, entspricht somit dem allgemeinen Trend. Mich haben die ausführlichen Leseproben nun auf einige Titel neugierig gemacht, die ich bisher nicht auf meiner „Will-ich-lesen-Liste“ hatte.

Die Nominierten – Longlist 2021

Seht ihr es nicht? – Georg Haderer

AutorGeorg Haderer
Verlag Haymon Verlag
Erscheinungsdatum 24. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3709981252

„Herumzutapsen, durch einen treibenden Fluss an Informationen zu waten, einen Datenhaufen verstehen zu wollen, den ein gutes Dutzend an Ermittlern laufend vergrößerte. Gab es eigentlich irgendjemanden unter ihnen, der sich die laufend aktualisierten Berichte komplett durchlas?“ (Zitat Pos. 3363-3369)

Inhalt

In Unterlengbach werden in der Nacht vom 23. auf den 24. August 2019 vier Mitglieder einer Familie ermordet, Helena Sartori, ihr Sohn und ihre Eltern. Nur die Tochter Karina, elf Jahre alt, kann entkommen, doch sie ist seither verschwunden und niemand weiß, ob sie noch am Leben ist. Philomena „Philli“ Schimmer, vormals Polizistin, nun Mitglied des KAP „Kompetenzzentrum für abgängige Personen“, eine Sondereinheit des BKA, soll Michael Muster, Kriminalpolizist beim LKA Niederösterreich und auch ihr Exfreund, in diesem schwierigen Fall unterstützen. Bis vor zwei Jahren war Helena Sartori als Molekularphysikerin in der Nanobots-Forschung sehr erfolgreich tätig, nun lebte sie zurückgezogen auf dem Land. Hängen die Morde mit ihrer Forschungstätigkeit zusammen, oder ist Franz Morell, ihr Exmann, der Täter?

Thema und Genre

In diesem vielschichtigen Kriminalroman geht es um moderne Technologien, Psychologie, Familie und alle Facetten von zwischenmenschlichen Beziehungen.

Charaktere

Philli Schimmer, die mittlere von drei Schwestern, ist eine hartnäckige, eigenwillige Ermittlerin, erkennt kleinste Details und scheut sich nicht, auch ungewöhnlichen Vermutungen nachzugehen. Als Mensch ist sie sehr speziell und unangepasst. An ihre besonderen Besucher, die unvermutet auftauchen und die nur sie sehen kann, hat sie sich auch schon beinahe gewöhnt. Alle Charaktere dieses Kriminalromans sind mit Einfühlungsvermögen für menschliche Schwächen und viel Humor entwickelt und sie sind großartig.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung, in deren Mittelpunkt meistens die Ermittlerin Philli Schimmer steht, wechselt durchaus unvermutet die Erzählperspektive. Dies führt zu Überraschungen und neuen Vermutungen beim Lesen, bis sich auch diese Überlegungen durch weitere Wendungen als falsch erweisen. Der Fall bleibt ungewöhnlich und spannend bis zum Schluss. Rückblenden ergänzen die aktuelle Handlung. Dadurch lernen wir Philli besser kennen, vor allem, als sich Parallelen zu einem ihrer alten Fälle ergeben, Erinnerungen, die sie auch heute noch beeinflussen. Die Sprache ist lebhaft, in vielen Facetten zwischen sachlich und locker, und humorvoll.

Fazit

Ein Kriminalroman mit aktuellen Themen, überraschend, vielschichtig und herrlich schräg. Spannendes Lesevergnügen mit der speziellen Ermittlerin Philomena „Philli“ Schimmer, die wir hoffentlich in Zukunft bei weiteren packenden Fällen begleiten dürfen.

Der Panzer des Hummers – Caroline Albertine Minor

AutorCaroline Albertine Minor
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 25. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinUrsel Allenstein
ISBN-13‎978-3257071788

„In letzter Zeit hat Ea zunehmend Angst davor, die falschen Entscheidungen zu treffen. Sie läuft mit dem bedrückenden Gefühl umher, die Jahre wären wie ein Trichter angeordnet, und der weiteste, offene Teil des Lebens läge schon hinter ihr.“ (Zitat Pos. 558)

Inhalt

Aufgewachsen sind die Geschwister Ea, Sidsel und Niels Gabel mit einem Vater, der meistens irgendwo auf der Erde unterwegs und daher abwesend war, während sich ihre Mutter Charlotte „Lotta“ bis zu ihrer Krankheit und frühem Tod um alles gekümmert hat. Heute lebt Ea in den USA, Sidsel in Kopenhagen und Niels, der jüngste der drei Geschwister, lebt heute überall und nirgends, zurzeit jedoch in der Nähe von Kopenhagen. Die Lebenswege der Geschwister sind unterschiedlich verlaufen und immer noch sind sie, unabhängig voneinander, auf der Suche nach dem Platz im eigenen Leben.

Thema und Genre

In diesem modernen Familienroman geht es um unterschiedliche Lebensformen, den Verlust vertrauter Strukturen, Patchwork-Familien und die Frage, wie wir im heutigen Gesellschaftsgefüge unser Leben gestalten wollen. Auch spirituelle und philosophische Elemente spielen eine Rolle.

Charaktere

Die einzelnen Figuren des Romans werden am Beginn der Geschichte vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen die Mitglieder der Familie Gabel und der Familie Wallens, wobei sich die Wege einzelner Personen der beiden Familien zufällig kurz kreuzen. Es sind schwierige Charaktere, die Frauen unsicher zwischen ihrer Rolle als Mütter und der eigenen Lebensplanung. Niels ist ein moderner Job- und Wohnungsnomade.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb von fünf Tagen im April, die Ereignisse sind Momentaufnahmen, Rückblenden zeigen ergänzende Details der persönlichen Entwicklung der einzelnen Figuren als mögliche Erklärung für die jeweilige aktuelle Situation. Die Chancen auf Veränderungen und Neubeginn klingen im Hintergrund an, bleiben jedoch offen. Der gesamte Handlung wirkt beim Lesen wie ursprünglich unabhängig voneinander geschriebene Erzählungen, die für dieses Buch nachträglich in kurze Kapitel unterteilt und neu zusammengefügt wurden, abwechselnd, mit jeweils einer der Hauptfiguren im Fokus, und ergänzt durch verbindende Elemente. Vorbild der Autorin war, wie in einem Interview bestätigt, die „Carrier Bag Theory of Fiction“ („Tragbeutel-Theorie“) von Ursula K. Le Guin, wonach es im Roman nicht nur einen Helden und einen Konflikt geben soll, sondern viele verschiedene Teile, deren Verhältnis zueinander ebenfalls unterschiedlich, aber möglichst gleich gewichtet sein sollte. Leider nimmt diese bewusste Konstruktion, dieses Schreiben nach Anleitung,  der vorliegenden Geschichte die lebensnahe Lebendigkeit.

Fazit

Ein moderner Familienroman über die Vielfältigkeit der Strukturen abseits der traditionellen Familiengefüge, mit Figuren in existenziellen und emotionalen Krisensituationen.

Mein Helgoland (Meine Insel) – Isabel Bogdan

AutorIsabel Bogdan
Verlag Mare Verlag
Erscheinungsdatum 27. Juli 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten112
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3866486546

„Ich werde wiederkommen müssen. Immer wieder. Und schreiben werde ich auch wieder.“ (Zitat Pos. 1239)

Thema

Dieses Buch von Isabel Bogdan ist eine interessante, sehr persönliche Mischung aus unterhaltsamen Schilderungen ihrer Tage auf Helgoland, der besonderen Eigenheiten dieser Insel und des Schreibprozesses, der Arbeit an ihrem Roman. Zitate aus dem Gesprächen zwischen Boy und seinem Urgroßvater, dem besten Geschichtenerzähler der Welt, aus dem zeitlosen Buch „Mein Urgroßvater und ich“ von James Krüss, ergänzen den Text.

Inhalt

Wenn die Schriftstellerin und Übersetzerin Isabel Bogdan an ihrem eigenen Buch schreibt, zieht sie sich auf die Nordseeinsel Helgoland zurück, denn nirgendwo sonst kann sie so kreativ über das Schreiben und die Unterschiede zwischen dem Übersetzen eines bereits bestehenden Romans und dem Schreiben eines eigenen Buches nachdenken. In ihren Gedanken diskutiert sie ihre Überlegungen, wie man eine Geschichte am besten erzählt, mit dem berühmten Helgoländer Schriftsteller James Krüss. Gleichzeitig wandert sie auf ihr seit Jahren vertrauten Wegen über die Insel und entdeckt trotzdem immer wieder Neues, lernt neue Menschen kennen. Wir erfahren viel über die Probleme des Insellebens, die vielfältige Vogelwelt und Natur dieser Insel, was es mit der einzigen Ampel Helgolands auf sich hatte und wissen nun auch, was „Sturmwichteln“ ist. Bei dieser Schilderung hatte ich sofort Bilder vor Augen und musste laut lachen, denn die Autorin erzählt lebendig und humorvoll.

Natürlich besucht sie bei jedem Aufenthalt auch die der Hauptinsel vorgelagerte kleine Insel Düne mit den Seehunden und Kegelrobben. Doch es gibt noch viel mehr zu erkunden, für den nächsten, den übernächsten Besuch, für irgendwann. „Man ist nämlich doch nicht so schnell fertig mit dieser Insel, wie man meint, wenn man zum ersten Mal sieht, wie klein sie ist.“ (Zitat Pos. 1226)

Fazit

Eine wunderbare, unterhaltsame Mischung aus Inselfeeling auf der manchmal rauen Nordseeinsel Helgoland und persönlichen Einblicken in den kreativen Schreibprozess der Schriftstellerin. Ein Buch für Lesebegeisterte, Reiselustige, Naturbegeisterte, Inselfans, Neugierige und Träumer.

Wir für uns – Barbara Kunrath

AutorBarbara Kunrath
Verlag FISCHER Krüger
Erscheinungsdatum 28. Juli 2021
FormatBroschiert
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3810500540

„Das Dorf begegnet mir wie gewohnt. Nicht unfreundlich, aber auch nicht so, als würde ich dazugehören. Ich fühle mich geduldet, nicht zu Hause.“ (Zitat Pos. 108)

Inhalt

Seit neun Jahren führt Josie eine Dienstags-Beziehung mit dem acht Jahre älteren, verheirateten Bengt. Nun ist Josie schwanger, einundvierzig Jahre alt, doch obwohl Bengt nicht will, dass sie dieses Kind bekommt, zögert sie. Als sie auf der Straße einen Ring findet, lernt sie Kathi kennen, deren Mann Werner nach beinahe fünfzig gemeinsamen Ehejahren gerade verstorben ist. Vorsichtig beginnen die beiden so unterschiedlichen Frauen, miteinander zu reden und Josie trifft mehrere Entscheidungen, für ihr eigenes Leben, doch sie bringt auch Kathi auf neue Ideen, wobei diese erst lernen muss, sich von manchen alten, lebenslangen Vorstellungen zu lösen.

Thema und Genre

Dieser Familien- und Generationenroman handelt von unterschiedlichen Beziehungen und Familienstrukturen. Ein wichtiges Thema sind Konflikte zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, das beharrliche Schweigen statt zu reden. Doch es geht auch um neue Möglichkeiten und Entscheidungen, um den Mut zum Neubeginn.

Charaktere

Josie ist Sozialpädagogin, doch ausgerechnet für ihr eigenes Leben fehlen ihr die Ideen. „Würde, wäre, hätte. Mein Leben mit dem Konjunktiv“ (Zitat Pos. 632) stellt sie in Bezug auf sich selbst fest. Zudem belastet ein Ereignis in der Vergangenheit, über das nicht gesprochen werden darf, das Verhältnis zu ihrer Mutter.

Kathis Ehe war mit den Jahren längst schweigsam geworden, sie lebte für ihr Lebensmittelgeschäft und hatte damals wenig Zeit für ihren Sohn Max. Den aktuellen Veränderungen im Leben von Max steht Kathi sprach- und fassungslos gegenüber.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird abwechselnd von Josie als Ich-Erzählerin und Kathi geschildert, wobei die Autorin hier in die personale Erzählperspektive wechselt. Dies belebt die Handlung. Der Schwerpunkt des Geschehens liegt bei den unterschiedlichen Frauenfiguren, ihrem Leben, den Möglichkeiten und ihren Entscheidungen, die meistens darin bestehen, sich nicht zu entscheiden, lieber zu verharren und zu schweigen. Die Handlung spielt in der unmittelbaren Gegenwart, wird jedoch durch Erinnerungen in Form von Gedanken und Gesprächen ergänzt, sodass sich ein nachvollziehbares Gesamtbild auch der Vergangenheit ergibt. Die Sprache entspricht dem Genre, sie beobachtet und beschreibt das Verhalten der einzelnen Figuren und ist flüssig zu lesen.   

Fazit

Ein Roman, in dessen Mittelpunkt Frauenleben unserer Zeit, problematische Beziehungen und Familienkonflikte stehen.

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