Die Taube – Patrick Süskind

AutorPatrick Süskind
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 24. April 1990
FormatTaschenbuch
Seiten112
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257218466

„Er sei zu Tode erschrocken gewesen – so hätte er den Moment wohl im nachhinein beschrieben, aber es wäre nicht richtig gewesen, denn der Schreck kam erst später. Er war viel eher zu Tode erstaunt.“ (Zitat Seite 15)

Inhalt

Jonathan Noel ist über fünfzig Jahre alt. Er arbeitet als Wachmann in einer Bank in Paris. Seit vielen Jahren wohnt er zufrieden und zurückgezogen in einem kleinen Einzimmerappartement im sechsten Stock eines Hauses in der Nähe seines Arbeitsplatzes. Doch an diesem Freitag im August des Jahres 1984 wird die ruhige Routine seines Tagesablaufs empfindlich gestört. Eine Taube sitzt im Flur, nicht weit von seiner Türschwelle entfernt, und scheint ihn anzustarren. Dies versetzt ihn in Panik und seine geordnete Welt gerät völlig aus den Fugen.

Thema und Genre

In dieser Novelle geht es um einen Mann, dessen genau festgelegter Tagesablauf durch das zufällige Auftauchen einer Taube gestört wird.

Charaktere

Jonathan Noel verabscheut Überraschungen, denn es gab gravierende Ereignisse in seinem Leben, die er am liebsten vergessen möchte, die sich dennoch immer wieder in seine Erinnerung drängen. Pflichtbewusst, genügsam, manchmal in den Gedanken leicht überheblich gegenüber seinen Mitmenschen, ist Jonathan keine besonders sympathische Hauptfigur, dennoch empfindet man Mitleid mit ihm.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt an einem einzigen Tag. Es ist ein heißer Freitag im August, der mit einem unvorhergesehenen Ereignis beginnt. Diese Taube im Hausflur versetzt Jonathan Noel in einen Schockzustand, mit spontanen Entscheidungen, die ihn im Laufe des Tages ins Chaos stürzen. Es sind nicht nur seine Erlebnisse, sondern vor allem seine Gedanken und Gefühle zwischen Panik und Pflichtbewusstsein, seine verzweifelten Versuche, an seinem korrekten, in seinen Augen untadeligen Verhalten festzuhalten, während seine Gedankenphantasien sich von genau diesen Zwängen zu lösen scheinen.

Fazit

Eine moderne Novelle, beklemmend und psychologisch vielseitig interpretierbar.

Die Nackten fürchten kein Wasser: Eine Reise mit afghanischen Flüchtlingen – Matthieu Aikins

AutorMatthieu Aikins
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 2. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinBarbara Schaden
ISBN-13‎978-3455015133

 „Ich war zuversichtlich, dass wir Afghanistan in jedem Fall gemeinsam verlassen würden. Und mit unserer Flucht würde sich ein Kreis schließen, denn seitdem wir uns kannten, meinte ich, eine Parallelwelt im Verlauf unseres jeweiligen Lebens zu erkennen.“ (Zitat Pos. 183)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der Tatsachenbericht einer Flucht, teilweise geführt von Schleusern, mehrmals gefasst und zurückgeschickt. Millionen von Flüchtlingen nehmen diesen gefährlichen Weg durch die Wüste, über Gebirgspfade in die Türkei und dann über das Meer bis nach Griechenland auf sich.

Omar, ein afghanischer Journalist und Übersetzer, hatte in Afghanistan einige Jahre lang als Dolmetscher für die USA gearbeitet und als er den Entschluss fasst, sein Land zu verlassen, sucht er daher um ein Special Immigrant Visa für Amerika an. Sein Ansuchen wird abgelehnt und so bleibt nur die Schleuserroute nach Europa. Seit 2009 ist er mit dem Journalisten und Kriegsberichterstatter Matthieu Aikins befreundet und dieser beschließt spontan, seinen Freund zu begleiten, ebenfalls als afghanischer Flüchtling und mit einer passenden, genau einstudierten Identität. Dies war im August 2015, im Juli 2016 fällt die endgültige Entscheidung zum Aufbruch. Der ursprünglich geplante Flug nach Istanbul mit einem gekauften Visum im Pass ist jedoch nicht mehr möglich. Dies bedeutet Plan B. Ende August 2016 treten sie den ersten Abschnitt ihrer Reise an: viereinhalbtausend Kilometer über Land, von Kabul aus durch den Iran nach Istanbul.

Umsetzung

Die Geschichte ist in vier große Teile gegliedert: Der Krieg – Der Weg – Das Lager – Die Stadt. Beginnend mit einem kurzen Abschnitt über Geschichte der Familien von Omar und Matthieu und prägende Kindheitserlebnisse, berichtet der Journalist chronologisch über den Verlauf der Reise. Täglich spricht er seine Notizen über den Ablauf und die Ereignisse des Tages auf sein Smartphone und ergänzt diese mit Fotos und Videos. Wo sich ihre Wege zwischendurch trennen, schildert er seine eigenen Erlebnisse und ergänzt diese später mit Omars Erzählungen. Dieser Bericht zeigt auch die Hilfsbereitschaft und den Zusammenhalt, die ihnen begegnen, unter den Flüchtlingen, aber auch von unerwarteter Seite. Auch die Tätigkeit der Schleuser sieht man nach diesem Buch wohl etwas differenzierter. Ergänzt wird die Geschichte ihrer gefährlichen Reise durch Fakten und Daten aus aktuellen Forschungsberichten und Expertenarbeiten, aus Berichten über die politischen Hintergründe, Entscheidungen und Gesetze dieser Jahre und ihre Auswirkungen. Im Anhang folgt ein Namens- und Literaturverzeichnis mit ausführlichen Quellenangaben aller Zitate.

Fazit

Gerade die sachliche, empathische Sprache dieses packenden Tatsachenberichtes prägt sich ein und führt zu einem besseren Verständnis dafür, welche Strapazen und Lebensgefahren jeder Flüchtling voller Zukunftsträume und Hoffnungen auf sich nimmt, wenn das Leben in der Heimat unmöglich geworden ist.

Die Chronik der Dämonenfürsten: Der siebte Thron – Monika Grasl

AutorMonika Grasl
Verlag Shadodex-Verlag der Schatten
Erscheinungsdatum 28. März 2022
FormatBroschiert
Seiten416
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3985280063

„Auch wenn etwas in seinem Inneren lautstark protestierte, er musste gehen. Obwohl ihm unklar war, wie er die benötigte Hilfe je zurückzahlen sollte.“ (Zitat Seite 11)

Inhalt

Luzifer hatte in den vergangenen Jahren ausgleichend auf die unterschiedlichen Mächte gewirkt, doch nun ist er schwer erkrankt, irgend etwas scheint ihn zu lähmen. Was sich vor Jahren angekündigt hat, scheint nun einzutreten. Jemand versucht, den Platz auf dem siebten Thron einzunehmen, jenem Thron, von dem einst beschlossen worden war, ihn weiterhin unbesetzt zu lassen. Doch die Macht, diesen Thron zu schützen, haben nur Gabriel und Luzifer, und zwar gemeinsam. Was geschieht jetzt, wo Luzifer handlungsunfähig ist? Prinz Seere trägt als Luzifers Stellvertreter die Verantwortung und er muss handeln. Doch dazu braucht er Hilfe.

Thema und Genre

Die Chronik der Dämonenfürsten spielt in bekannten Städten Europas, jedoch in einer für die Menschen dystopischen Zukunft und gehört zum Genre Urban Dark Fantasy. Es geht um ein möglichst ausgeglichenes Machtverhältnis zwischen den himmlischen Mächten und den Dämonenfürsten.

Charaktere

Die Autorin schuf in diesen langen Jahren der Chronik unterschiedliche Figuren, die eines gemeinsam haben: sie sind facettenreich, ambivalent und irgendwo in den vielen Grautönen zwischen Gut und Böse anzusiedeln. Sie können ihre Meinung, Einstellung und Verhalten im Laufe der Jahre durchaus ändern und zwar in beide Richtungen. Dies trifft auch auf die himmlischen Mächte zu, mit ihren Eifersüchteleien und Intrigen kommen sie für mich den Göttern der griechischen Mythologie gleich, haben wenig mit Engeln im traditionellen Sinn zu tun. Figuren, die altern können, lässt die Autorin im Laufe der Jahre erwachsen werden und altern, auch dies macht sie nachvollziehbar und sehr spannend. Wer die Serie ab Band eins kennt, hat wohl  die eigenen Lieblingsfiguren längst gefunden, mit neu hinzugekommenen ergänzt. Diesmal ist es Maja, eine völlig unangepasste, eigenwillige junge Priesterin, die, vernünftig oder nicht, immer ihre Meinung sagt und mich sofort begeistert hat.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung verläuft chronologisch an den unterschiedlichen Handlungsorten wie Wien, London, Paris, Kopenhagen, Neapel, Rom, Himmel und höllischer Unterwelt. Mehrere gleichzeitige Handlungsstränge wechseln einander in einzelnen Kapiteln ab. Getragen wird die Geschichte von den einzelnen Hauptprotagonisten und Protagonistinnen. Daher trägt jedes Kapitel den Namen der jeweiligen Hauptfigur, dies erleichtert die Übersicht, hält gleichzeitig den Spannungsbogen sehr hoch. Große Kämpfe und Schlachten kündigen sich an und es wird intensive Dark Fantasy, denn die Kampfszenen sparen nicht mit heftigen Details, im Gegensatz zu der modernen, saloppen Spache der Dialoge. Die Autorin fordert uns Lesende und auch von ihren Figuren verlangt sie vollen Einsatz. Fantasy ist absolut nicht mein bevorzugtes Genre, doch diese Serie hat mich schon mit Band eins überzeugt und ich warte schon jetzt auf Teil sechs.

Fazit

Diese Reise durch mehrere Jahrhunderte und die damit verbundene Entwicklung der Strukturen und der einzelnen Hauptfiguren sind packend, abwechslungsreich und interessant, es macht Vergnügen, die Chronik zu lesen.

Brooklyn soll mein Name sein – Eduardo Lago

AutorEduardo Lago
Verlag Alfred Kröner Verlag
Erscheinungsdatum 1. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten500
SpracheDeutsch
ÜbersetzungGuillermo Aparicio
ISBN-13978-3520624017

„Ich weiß nicht, nach was ich suche, ich weiß nur, dass es sich hinter den Tausenden von Wörtern verbirgt, die ich nicht aufhören kann zu schreiben. Ich weiß nicht, was es ist, was es sein kann, aber ich würde es gerne herausfinden und ihm eine Form verleihen, nur für dich. Für dich werde ich dieses Buch schreiben, Brooklyn.“ (Zitat Seite 266, 267)

Inhalt

Der Journalist Néstor Chapman entdeckt eines Abends bei einem Spaziergang durch Brooklyn Heights zufällig das Lokal „Oakland Bar & Grill“. Neugierig geworden, betritt er einen erstaunlichen Ort und an einem Tisch in einer Ecke sieht er einen Mann, der völlig unbeeindruckt von dem Trubel der anderen Gäste in ein Heft schreibt. So lernt er den Schriftsteller Gal Ackerman kennen und sie treffen einander regelmäßig im Oakland. Eines Tages nimmt Gal ihn in sein Studio mit und zeigt ihm eine Fülle von voll beschriebenen Heften, darunter auch das besondere „Brooklyn-Heft“, die Notizen für den Roman, den er für seine große Liebe Nadja Orlov schreiben wollte. Doch Gal weiß bereits, dass er nicht in der Lage ist, dieses Buch zu beenden. Néstor „Ness“ soll dies für ihn tun. Kurze Zeit später ist Gal tot und Néstor weiß, er hatte im Grunde nie eine Wahl, als das ihm anvertraute Archiv zu übernehmen und Gals Bitte zu erfüllen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben, um Literatur, um Freundschaft und Liebe. Wir treffen unterschiedliche Protagonisten und ihre Geschichten, die diesen Roman tragen. Natürlich geht es auch um New York, vor allem jedoch um Brooklyn und das Oakland, eine Bar in den Docks von Brooklyn, die für viele Menschen eine Art von Heimat geworden ist. „Sieh mal, dieses Licht, Néstor. Es ist das Licht, über das Louise in ihrem Gedicht spricht. Das Licht Brooklyns.“ Zitat Seite 26)

Charaktere

Es sind viele unterschiedlichen Protagonisten, die diese Geschichten beleben, jede Person ist auf ihre Art einzigartig und besonders. Manche tauchen nur kurz auf, stehen im Mittelpunkt einer Episode, eines Ereignisses, andere bleiben und begleiten uns durch das gesamte Buch.  

Handlung und Schreibstil

Der Roman wird nicht chronologisch erzählt, die einzelnen Kapitel reisen kreuz und quer zwischen den Jahren und Personen. Im Anhang findet sich eine genaue Chronologie der Ereignisse und ein ausführliches Personenregister. Die Rahmenhandlung, die alle weiteren Geschichten immer wieder eint und sich zwischen die einzelnen Episoden setzt, trägt Néstor als Ich-Erzähler. Er verbindet die Geschichten der einzelnen Hefte, erinnert sich an die Gespräche mit Gal, an Ereignisse, die Gal ihm aus seinem Leben und seiner Vergangenheit erzählt hat. Vor allem schildert Néstor diese besondere Zeit, die er selbst mit dem Sichten der Unterlagen, weiteren Recherchen und Gesprächen, und dem Schreiben verbracht hat. Diese Art des Erzählens in Verbindung mit den eindrücklichen, bunten, lebhaften Beschreibungen der Menschen und prägenden Orte, macht den besonderen Sog und Charme dieses außergewöhnlichen Romans aus.

Fazit

Es ist schwer, dieses beeindruckende Leseerlebnis zu beschreiben, die Vielfalt der Figuren, Schicksale, Orte, die tiefe Freundschaft, welche die Personen verbindet und sich durch die Geschichten zieht. Ich hatte das Buch gerade erst erhalten, wollte nur kurz die ersten Seiten lesen und geriet sofort in den Bann dieser faszinierenden Erzählform und Sprache. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und es reihte sich sofort in die Liste meiner zeitlos gültigen Lieblingsbücher ein.

Landverstand – Timo Küntzle

AutorTimo Küntzle
Verlag Kremayr & Scheriau
Erscheinungsdatum 24. März 2022
FormatBroschiert
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3218012904

„Allerdings ist das Meinungsklima der vergangenen Jahre durch einige wenige Umweltgruppen viel stärker geprägt, als es deren Fachkompetenz und Wissenschaftstreue rechtfertigen würde.“ (Zitat Seite 9)

Thema und Inhalt

Dieses Sachbuch trägt den Untertitel „Was wir über unser Essen wirklich wissen sollten“, und genau darum geht es. Thema sind die vielen unterschiedlichen Aspekte der brisanten Frage, ob das globale Ernährungssystem auch nachhaltig und biologisch funktionieren kann. Damit verbunden die Überlegungen, welche Zugeständnisse in Landwirtschaft, Nahrungsmittelproduktion und Tierhaltung  notwendig sind, um die Menschen weltweit ernähren zu können.

Umsetzung

Der Autor, Agrarwissenschaftler und Journalist, ist selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen. Er beginnt mit einem Vorwort, welches das Themenfeld beschreibt, die Zielsetzung und seine Intentionen.  Es folgen neun in Abschnitte unterteilte Kapitel. Die vielfältigen Themenkreise beginnen mit dem Urprinzip der Landwirtschaft und führen weiter über die Bedeutung der Landnutzung für das Klima und entsprechende Lösungsansätze, und zu den Fragen rund um den Schutz der Artenvielfalt. In den letzten drei Kapiteln geht es um die heftig diskutierten und sehr umstrittenen Themen Kunstdünger, Pestizide und Gentechnik. Jedes Kapitel stellt Vorstellungen, Forschung und Praxis in einen größeren Kontext und endet mit einer kurzen Zusammenfassung. Kapitel zehn ist ein persönliches Resümee des Autors, gefolgt von einem Anhang mit den Quellenangaben zu den verwendeten Statistiken und Forschungsberichten. Die Sprache entspricht den wissenschaftlichen, informativen Anforderungen von Sachliteratur, ohne jedoch fachlich überladen zu sein. Dadurch ist sie sehr gut lesbar und bleibt verständlich. Auf Seite 172 fragt er uns Lesende: „Sind Sie noch da?“ und ich persönlich konnte antworten: „Klar, Sie haben mich auf keiner Seite und keine Minute lang verloren.“

Fazit

Auch wenn man, wie auch ich, in einzelnen Kapiteln und Aussagen sicher nicht die Meinung des Autors teilen wird, ist dieses Sachbuch eine wichtige, sehr interessant zu lesende und umfassend recherchierte Zusammenfassung der derzeit wichtigsten Themen und vielseitigen Aspekte im Zusammenhang mit Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Ernährung. Der Autor stellt viele Fragen, zeigt mögliche Antworten aus Sicht der Landwirtschaft, untermauert diese mit Untersuchungen des Weltklimarates. Er selbst fordert in seinem Resümee auf, dieses Buch, aber auch alle Statistiken und Informationen der Umwelt-NGOs kritisch zu hinterfragen. Dieses Buch brachte mir perönlich nicht nur mehr aktuelle Fakten und dadurch mehr Wissen zu den Themenschwerpunkten der Kapitel sieben bis neun, sondern führte zum Nach- und teilweisen Umdenken in meiner bisherigen Meinung.

Der Schrank – Simon Sailer

AutorSimon Sailer
IllustratorJorghi Poll
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 28. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten104
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650608

„Eine Wand gehörte dem Schrank. Er lehnte daran, als wäre er der eigentliche Bewohner des Raums, der wahre Herr des Hauses, und blickte verärgert auf das verhängte Bett.“ (Zitat Seite 30)

Inhalt

Lena Kovac ist Möbelpackerin. Eigentlich wäre der Auftrag an diesem Nachmittag kein Problem: einen Schrank in einer Villa im neunzehnten Wiener Bezirk abholen und in eine Wohnung im ersten Bezirk bringen. Doch dann hat das Team vom Vortag den Wagen nicht vollgetankt und Korni, neben Yilmaz der Dritte in ihrem Team, kommt wie immer zu spät. Die Zeit wird knapp, denn der Schrank muss unbedingt noch am selben Tag ankommen. Sie holen den wuchtigen Schrank ab, doch als sie ihn im Wagen fixieren, bricht ein Bein ab. Lena trifft die erste von mehreren Entscheidungen, und ihre Welt gerät aus den Fugen.

Thema und Genre

Eine erstaunliche, schwer zuordenbare Erzählung, die als Wiener Alltagsstudie beginnt und rasch ins Genre Phantastik wechselt.

Charaktere

Die toughe Lena ist mit ihrem Leben zufrieden, sie ist gewohnt, verlässlich und effizient zu arbeiten. Das ist nicht einfach an solchen Tagen, wo der Chef sie unter Zeitdruck setzt, die beiden Kollegen mehr Pausen verlangen und sie selbst am Abend pünktlich zu Hause sein wollte.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt am Abend, Lena kommt nach Hause, Feierabend, während ihr Freund Hakan seinen Nachdienst antritt. Am Nachmittag des nächsten Tages wartet der letzte Auftrag. Sobald sie den Schrank abgeholt haben, passieren eigenartige Dinge, die immer rätselhafter und skurriler werden. Wir wissen nicht, wer die Geschichte Lenas erzählt und der Erzähler überlässt es uns, über mögliche Erklärungen nachzudenken. Er berichtet über erstaunliche Ereignisse und Begegnungen, vielleicht als Folge von Lenas Entscheidungen, wir wissen es nicht. Vielleicht ist es ja auch nur ein schlimmer Alptraum und Lena erwacht am Morgen, der Tag mit dem Schranktransport beginnt erst.

Fazit

Eine erstaunliche Geschichte, in deren Mittelpunkt ein robuster alter Schrank und viele Tiere stehen und deren zunächst gemütliche, humorvolle Szenen rasch ins grotesk-phantastisch-Schaurige kippen und viel Raum zum Nachdenken über mögliche Hintergründe und Erklärungen lassen.   

Spanische Dörfer: Wege zur Freiheit – Maria Braig

AutorMaria Braig
Verlag BookRix
Erscheinungsdatum 15. Juni 2022
FormatKindle Ausgabe
Seiten204 (Printversion)
SpracheDeutsch
ASINB0B471VJKF

„Vielleicht gibt es gar kein Ziel, sondern nur verschiedene und immer neue Wege?“ (Zitat Seite 152)

Inhalt

Sie löscht ihre Vergangenheit aus ihren Gedanken und nennt sich zunächst La Marche, der Weg. Sie flieht allein aus Afrika, denn sie will frei sein. Als sie in Spanien aus dem Meer steigt, voll Hoffnung auf dieses Europa, begegnen sie einander für einen kurzen Augenblick. Er zählt niemandem von dieser Begegnung, doch er vergisst sie nicht. Auch sie behält seine Stimme im Ohr, auf einer langen Reise, die sie schließlich nach München führt. La Marche, jetzt nennt sie sich Manso, Enrique und Leon, sie sind anders und nirgendwo zu Hause. Bis Leon, Enriques bester Freund, der schon immer die schrägsten Ideen hatte, einen Artikel in einer Zeitung liest und plötzlich eine besonders verrückte Idee hat, er weiß, das ist die Lösung.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um brisante Themen unserer Zeit, um Schicksale von Menschen, die nicht in das allgemeine Bild der „Norm“ passen: Manso, Afrikanerin, Flüchtling ohne gültige Papiere, Enrique, ein junger Architekt, aufgewachsen als Henriqua, und Leon, der ein Chromosom mehr hat, als die meisten anderen Menschen. Lesealter junge Erwachsene, nach oben offen.

Charaktere

Manso, Enrique und Leon sind auf der Suche nach einem Leben nach ihren Vorstellungen. Manso will frei und unabhängig sein, aber was genau ist es, das sie sucht? Enrique ist noch unsicher, wie seine Zukunft aussehen soll. Zur Zeit ist er ein arbeitsloser Architekt, der in München als Kellner jobbt und seine Heimat Spanien und das Meer vermisst. Leon weiß genau, was er will: er studiert Lehramt und will als Lehrer unterrichten, doch werden die Kinder und ihre Eltern ihn so akzeptieren, wie er ist?

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt und durch Erinnerungen ergänzt. Eine wichtige Rolle spielen die Gedanken, Gefühle und Hoffnungen der drei Hauptfiguren. Enrique und Manso stehen abwechselnd im Mittelpunkt einer personalen Erzählform, während Leon als Ich-Erzähler die Lesenden direkt anspricht. So wissen wir manche Ereignisse schon vor seinem besten Freund Enrique, der jetzt in München lebt und Neuigkeiten aus Leons Leben erst durch Briefe, Telefongespräche oder bei den seltenen persönlichen Besuchen erfährt. Diese abwechslungsreiche Erzählweise ist mit einer modernen, geradlinigen Sprache kombiniert. Die Autorin folgt ihren Figuren einfühlsam, zeigt ihre Probleme und Konfliktsituationen, lässt sie Entscheidungen treffen, die von Zufällen zu möglichen Lösungen führen.

Fazit

Eine nachdenklicher, positiver Roman über aktuelle Probleme unserer Zeit, aber auch über Träume, Hoffnungen und Freundschaft. Eine Geschichte auch für alle, die ihre eigene Meinung und Standpunkte vielleicht überdenken wollen.

Der gute Hirte: Ein Fall für Taifun Çoban – Cornelius Hartz

AutorCornelius Hartz
Verlag Ullstein Taschenbuch
Erscheinungsdatum 28. Juli 2022
FormatTaschenbuch
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3548066295

„Die Farben des Fotos waren ausgeblichen, der Abzug war definitiv älteren Datums. Soweit er das beurteilen kann, mussten Kleidung und Frisuren aus den Siebzigern stammen.“ (Zitat Pos. 901)

Inhalt

Taifun Çoban leitet beim LKA Kiel die Abteilung für Identitätsfeststellung von unbekannten Toten. Daher wird der Kommissar selten in Dörfer wie Harmsbüttel gerufen, wo meistens alle einander kennen. Doch hier ist es anders. Niemand kennt den unbekannten Toten, der zufällig am 10. Mai 2021 im Kellerfundament des geplanten neuen Hauses der Familie Landmann gefunden wird. Am 13. Mai 2021 trifft Taifun Çoban daher in Harmsbüttel ein, um gemeinsam mit Polizeihauptmeister Raimund Wernersen, dem Polizisten vor Ort, und der Kriminalkommissarin Fanta Braun von der Kripo Ratzeburg zu ermitteln. Çoban kennt den Ort Harmsbüttel im Zusammenhang mit einem Cold Case, der vor nunmehr einundvierzig Jahren stattgefunden hat. Ein kleiner, verschlafener Ort, zwei Gewaltverbrechen, gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Fällen, fragt sich Çoban.

Thema und Genre

In diesem Kriminalroman, der in Norddeutschland spielt, geht es um die Ermittlungsarbeit in einer geschlossenen Dorfgemeinschaft, um prägende Kindheitserinnerungen und ihre Folgen.

Charaktere

Taifun Çoban ist Deutscher, doch seine türkischen Wurzeln sind offensichtlich und dies führt in Harmsbüttel zu einigen Missverständnissen, was Çoban meistens mit Humor nimmt, ein bemühtes „Salam Aleikum“ beantwortet er mit einem knappen „Moin“. Er ist ein intensiver, kreativer Ermittler und weiß, zusammen mit der toughen Fanta Braun und dem etwas bequemen Raimund Wernersen wird er irgendwo das Schweigen der Dorfbewohner durchbrechen können und das Rätsel lösen.

Handlung und Schreibstil

Die drei unterschiedlichen Handlungsstränge, die einander abwechseln, spielen in der Vergangenheit, im Mai 2021 und einige Zeit später. Dies macht die Geschichte interessant und gibt uns Lesenden Hinweise und Details für eigene Vermutungen. Doch obwohl man vielleicht manche Zusammenhänge erkennt, sorgt der Autor bis zum Schluss für Überraschungen, wobei die Geschichte im Bereich des Logischen und Nachvollziehbaren bleibt. Es ist ein interessanter, sehr gut aufgebauter Fall mit brisanten Hintergrundthemen. Die Sprache passt zum Genre, ist sehr angenehm und spannend zu lesen und wird durch Szenen mit einem humorvollen Augenzwinkern aufgelockert.

Fazit

Ein interessanter Fall, eine sehr gut und schlüssig aufgebaute Handlung mit zeitlos aktuellen Themen und eigenwillige Charaktere, die während der gemeinsamen Ermittlungen ein originelles Team in einem ebenso originellen Umfeld ergeben.

Samson und Nadjeschda – Andrej Kurkow

AutorAndrej Kurkow
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 27. Juli 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinnenSabine Grebing, Johanna Marx
ISBN-13978-3257072075

„Dem musste er einfach zustimmen. Und erkannte plötzlich, dass manchmal das Denken störte. Genau dann, wenn man nur ohne zu überlegen etwas Wichtiges tun konnte. (Zitat Seite 211)

Inhalt

Am 11. Mai 1919 ermorden Kosaken Samsons Vater. Er selbst entkommt verletzt, doch dieser Tag verändert sein Leben für immer. Als kurze Zeit später der Schreibtisch seines Vaters requiriert wird, folgt er dem Möbelstück in das Milizrevier. Den unrechtmäßig beschlagnahmten Schreibtisch erhält er zwar nicht zurück, dafür aber einen Posten bei der Polizei, an seinem Schreibtisch. Seine Aufgabe ist es, Diebstähle zu bekämpfen und die Ordnung zu hüten. Er entdeckt einige Kisten mit von Rotarmisten eindeutig unrechtmäßig beschlagnahmtem und nicht abgeliefertem Diebesgut und auf Grund der Besonderheit einiger Gegenstände beginnt er zu recherchieren.

Thema und Genre

Dieser sozialkritische, politische Kriminalroman spielt in Kiew, im Jahr 1919, mitten in der Zeit der politischen Umbrüche. Es geht um das Leben der Menschen in dieser gefährlichen, unsicheren Zeit, um Armut, Korruption, aber auch um Anständigkeit, Freundschaft und die Liebe.

Charaktere

Samson glaubt an die Ordnung, das Recht und ist überzeugt von der Tätigkeit der neuen Miliz. Doch obwohl er rasch in seine Arbeit als Polizist hineinwächst, ist er auf Grund seiner Jugend etwas naiv und manchmal zu vertrauensselig. Andererseits besitzt er seit dem Anschlag eine besondere Gabe, die ihm bei seinen Ermittlungen hilft. Nadjeschda hat Pharmazie studiert, arbeitet jedoch aus Überzeugung in der Statistikabteilung des Gouvernementsbüros, sie glaubt an die Zukunft und will etwas Sinnvolles für die Gesellschaft tun.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in einer politisch spannenden Zeit der Umbrüche, des Aufbruchs, doch noch herrschen große Armut und eine gefährliche Unsicherheit. Die Handlung verläuft chronologisch von Tag zu Tag. Der Autor nimmt sich Zeit, nicht nur Samsons Ermittlungen und Erlebnisse zu schildern, sondern auch die unterschiedlichsten Menschen, die Samson dabei trifft und die alltäglichen Lebensumstände und Probleme dieser Zeit. Als Schauplatz wählt er die Stadt Kiew, die in diesem bedeutungsvollen Jahr 1919 im Mittelpunkt der Kämpfe unterschiedlicher Gruppierungen und politischer Umstürze stand. Genau diese Themen bilden die wichtige, abwechslungsreiche Handlung, die den Kriminalfall umschließt.

Fazit

Ein interessanter historischer Kriminalroman, der in einer Zeit der Unruhen, Straßenkämpfe und politischen Umbrüche in der Stadt Kiew spielt. Der junge Polizist Samson Koletschko, eigentlich studierter Elektromaschinenbauer, ermittelt in seinem ersten Kriminalfall. 

Lektionen in Dunkler Materie – Ursula Knoll

AutorUrsula Knoll
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 28. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten248
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650684

„Dunkle Materie ist für alles der Grund. Ein Zeug, von dem man nur weiß, dass es Schwerkraft ausübt, dass es viermal so viel davon gibt wie von sichtbarer Materie und dass es durch seine Gravitation wie ein Kitt die Strukturen im Universum zusammenhält.“ (Zitat Seite 51)

Inhalt

Während Katalin gerade auf der Raumstation ISS im Weltall unterwegs ist und mit der KI Simon diskutiert, sorgt ihre Zwillingsschwester Eszeter als Polizistin für Ordnung im Alltag von Wien und als Managerin ihres Hedgefonds auch im internationalen Dschungel der Finanzwelt. Die Umweltaktivistin Dr. Milka Andrić ist Mitglied einer NGO und setzt sich für menschenwürdige Arbeitsbedingungen bei der Produktion von Lebensmitteln ein, denn für sie ist das Gegenteil von Armut nicht Reichtum, sondern Gerechtigkeit. Seit beinahe zwanzig Jahren teilt Milka eine WG mit Martin und Ines. Ines Geiger, die in der Asylbehörde Anträge prüft und dabei laufend von ihrem Vorgesetzten mit internen Weisungen unterbrochen wird, zusätzliche Schulungen, Nachschulungen, Formulierungshilfen für ablehnende Bescheide. Fatima leitet einen Kindergarten, dessen Öffnungszeiten mit den Arbeitszeiten der seit ihrer Trennung von Katalin alleinerziehenden Mutter Heide unvereinbar sind – sie alle erkennen plötzlich, dass man immer etwas tun kann, und jede von ihnen trifft eine spontane Entscheidung.

Thema und Genre

Es ist ein Roman, der unterschiedliche Geschichten erzählt, mit einzelnen Situationen und Episoden als Auslöser für Veränderungen. Es geht um gesellschaftspolitische Probleme, Forschung, Wirtschaft, Finanzmärkte, doch auch um Themen wie zwischenmenschliche Beziehungen in ihren unterschiedlichen Formen, Freundschaft, Familie.

Charaktere

Im Zentrum dieses Romans stehen Frauen, jede auf ihre Weise individuell, mutig, zunächst der jeweiligen persönlichen Situation noch irgendwie angepasst, werden sie aktiv, als sie immer wieder an ihre Grenzen stoßen.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman spielt in Wien. Die Handlung greift viele brisante Themen unserer Zeit auf, konfrontiert die Protagonistinnen mit spontanen Konfliktsituationen und gibt ihnen Raum, Entscheidungen zu treffen, spontan und teilweise chaotisch. Nicht immer verlaufen die Ereignisse chronologisch und auch mögliche Beziehungen zwischen ihren Figuren deckt die Autorin nicht sofort auf, sondern lässt uns die Zusammenhänge erst nach und nach erkennen, manchmal treffen die Figuren unerwartet und zufällig aufeinander. Diese Geschichten sind keine Wohlfühllektüre, dennoch ist man ihnen und vor allem den einzelnen Protagonistinnen sofort verfallen, folgt ihrem Alltag, ihren Entscheidungen. Denn die Autorin schreibt engagiert, direkt, aber auch mit viel Einfühlungsvermögen und Humor. Es ist diese schwer zu beschreibende Mischung, die diesen Roman lesenswert und empfehlenswert macht.

Fazit

„Was also sollten sie mit diesem bisschen ungebetenen Glücks namens Leben in Zukunft anstellen?“ (Zitat Seite 247). Das Leben stellt unterschiedliche Anforderungen an die modernen Frauen in diesem Roman, doch sie haben eines gemeinsam: sie wollen etwas verändern, im persönlichen Umfeld, aber auch im großen Ganzen.

Die Schrecken des Eises und der Finsternis – Christoph Ransmayr

AutorChristoph Ransmayr
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 1. Januar 1987
FormatTaschenbuch
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3596254194

„Tatsächlich aufmerksam wurde ich auf Mazzini erst, nachdem er im Eis verschwunden war. Denn das Rätselhafte und Beklemmende an diesem Verschwinden begann seine Existenz rückwirkend und in einem Ausmaß zu durchdringen, daß allmählich alles, was dieser Mann getan und womit er sich beschäftigt hatte, rätselhaft und beklemmend wurde.“ (Zitat Seite 24, 25)

Inhalt

Anfang Juli 1872 erreicht die  „Admiral Tegetthoff“ Tromsø, von wo aus sie am 14. Juli 1872 die Segel Richtung Nowaja Semlja setzt. Damit beginnt die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition unter dem Kommando von Carl Weyprecht und Julius Payer, deren Ziel die Entdeckung und Erforschung bisher unbekannter Gebiete der Arktis ist. Bereits am 30. Juli friert die Tegetthoff zum ersten Mal im Eis fest, denn in diesem Jahr 1872 breiten sich die Treibeisfelder sehr früh und wesentlich weiter südlich aus, als erwartet. Der Mannschaft der Admiral Tegetthoff stehen Monate voller Gefahren, unvorstellbarer Kälte, Entbehrungen und die endlose Dunkelheit der langen arktischen Wintermonate bevor.

Mehr als einhundert Jahre später entdeckt Josef Mazzini in einer Wiener Buchhandlung den Expeditionsbericht aus dem Jahr 1876, verfasst von Julius Ritter von Payer. Er ist sofort fasziniert und sammelt alle Unterlagen über diese abenteuerliche Entdeckungsreise. Am 26. Juli 1981 beginnt Mazzini seine eigene Reise an Bord eines norwegischen Forschungsschiffes mit dem Ziel, den Spuren der österreichisch-ungarischen Eismeerfahrt zu folgen.

Thema und Genre

In diesem facettenreichen Abenteuerroman geht es um die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition, die wichtige Erkenntnisse auf dem Gebiet der Polarforschung erbrachte.

Charaktere

Die bekannten Teilnehmer der Expedition sprechen durch ihre Aufzeichnungen zu uns. Ihre Beweggründe, ihre Ängste und Gefühle werden vom Autor im Laufe der Handlung sprachlich umgesetzt und verdichtet, ebenso wie der Charakter und das Verhalten der fiktiven Figur Josef Mazzini.

Handlung und Schreibstil

Der Autor mischt Ausschnitte aus den vorhandenen Aufzeichnungen der Ereignisse in Logbüchern, Tagebüchern, Handschriften und Briefen und dem von Julius Payer später selbst verfassten Buch mit fiktiven Erzählelementen, welche diese Fakten ergänzen und sie sprachlich bildintensiv und beeindruckend darstellen. Parallel dazu lernen wir den 1948 in Triest geborenen, in Wien lebenden Josef Mazzini kennen, der immer mehr in den Bann dieser Expedition gerät und sich 1981 selbst auf den Weg macht, um diese Reise nachzuvollziehen. Die Erlebnisse dieser fiktiven Figur bilden einen zweiten Handlungsstrang, der abwechselnd zu der Handlung aus den Jahren 1872-1874 geschildert wird, wobei die einzelnen Ereignisse jeweils im Zeitablauf chronologisch  erzählt werden. Das Buch enthält auch ein Verzeichnis der Mannschaft und viele ganzseitige Abbildungen aus dem Originalwerk von 1876.

Fazit

Ein facettenreicher, interessanter Abenteuerroman, der durch die sprachliche Umsetzung und die gewählten Erzählformen packend zu lesen ist und durch Vielseitigkeit und Spannung überzeugt.

Tiefenzone – Andreas J. Schulte

AutorAndreas J. Schulte
Verlag Emons Verlag
Erscheinungsdatum 15. Oktober 2020
FormatTaschenbuch, broschiert
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3740809034

„Das Ganze sah aus wie die Kreuzung aus einem Iglu und einer futuristischen Raumstation auf einem fernen Planeten. Der Komplex hatte einen Namen: Terra Nova II. (Zitat Seite 44)

Inhalt

Die Naturwissenschaftlerin Julia Kern ist als Journalistin für eine deutsche TV-Produktionsfirma tätig. Vor sechs Jahren nahm sie drei Monate lang an Forschungsarbeiten in der Arktis teil. Daher ist es für ihren Chef Harry Gantman klar, dass sie zu der kleinen Gruppe gehört, die als Teil einer internationalen Journalistendelegation eingeladen ist, die Antarktis-Forschungsstation zu besuchen. Terra Nova II ist ein High-Tech Komplex, mit den neuesten, zukunftsorientierten Technologien zur Tiefenforschung ausgestattet. Das Journalistenteam soll an einer wissenschaftlichen Premiere teilnehmen, die hier erstmals weltweit vorgestellt wird. Doch plötzlich geschieht ein Mord und kurz darauf übernimmt kampferprobte, gefährliche und absolut skrupellose Gruppe, die sich als Umwelt-Aktivisten bezeichnet, die Forschungsstation. Für Julia Kern und George O’Connor, ein britischer Fotojournalist, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit: sie müssen versuchen, Hilfe zu holen und gleichzeitig wollen sie unbedingt herausfinden, worum es hier wirklich geht.

Thema und Genre

Dieser Thriller spielt in der Arktis und die Themen sind Wissenschaft, moderne Technologien, Forschung und Umwelt.

Charaktere

Die unterschiedlichen Figuren sind realistisch und ihre Handlungen und Beweggründe sind nachvollziehbar. Besonders interessant ist die Reaktion der einzelnen Charaktere auf die Situation. Julia und George sind sympathisch, agieren kreativ und mutig und geraten so in den Fokus des Anführers der Terroristen.

Handlung und Schreibstil

Die straffe Handlung findet innerhalb von wenigen Tagen statt, was die Spannung der Geschichte noch steigert. Die interessanten wissenschaftlichen Erklärungen fügen sich perfekt in die Handlung ein, sie ergänzen mit wichtigen Details, ohne jedoch je den Spannungsbogen zu unterbrechen. Ein Nachwort erklärt den realen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergrund. Die Sprache entspricht dem Genre und den Themen, nimmt sich auch Zeit für die Konflikte und Gefühle der Figuren und zeigt in den Dialogen immer wieder auch lockeren Humor.  

Fazit

Ein packender Wissenschaftsthriller, spannende Unterhaltung, die überzeugt und gerade an heißen Sommertagen durch die Reise in die eisigen Schneestürme der Antarktis wenigstens gedanklich für Abkühlung sorgt.

Violeta – Isabel Allende

AutorIsabel Allende
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 18. Juli 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinSvenja Becker
ISBN-13978-3518430163

„Verteidige deine Unabhängigkeit, lass nicht zu, dass jemand anders für dich entscheidet. Du musst lernen, alleine klarzukommen.“ (Zitat Seite 127)

Inhalt

Am Ende eines langen, nicht immer einfachen, aber in allen Facetten sehr intensiv gelebten Lebens, schreibt Violeta del Valle ihr Leben für ihren Enkel Camilo auf, chronologisch, als Ergänzung zu ihren zahlreichen spontanen und emotionalen Briefen an Camilo. 1920 während der Pandemie geboren, damals war es die Spanische Grippe, wird ihr Leben in diesen Tagen des Jahres 2020 enden, wieder während einer Pandemie, wie sie es selbst formuliert, diesmal ist es Corona. Violeta hat fünf ältere Brüder und als Jüngste und vom Vater ersehntes Mädchen wird sie während ihrer ersten Lebensjahre nicht nur vom Vater, sondern auch von den ebenfalls im Haushalt lebenden Tanten Pía und Pilar verwöhnt. Violeta ist eigenwillig, wild und störrisch, bis Miss Taylor als englisches Kindermädchen in die Familie kommt, mit der Violeta eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Josephine Taylor fördert ihre Wissbegierde, setzt ihr Grenzen, ohne jedoch ihren widerspenstigen Charakter einzuengen und bestätigt sie in ihrem Wunsch nach Freiheit und Eigenständigkeit, die Violetas späteres Leben prägen werden.

Thema und Genre

Dieses Familien- und Generationenepos ist gleichzeitig ein Bericht über einhundert Jahre der wechselvollen Geschichte Südamerikas mit Schwerpunkt Chile.

Charaktere

Im Laufe der Jahre begegnen wir unterschiedlichen Mitgliedern der Familie del Valle und ihren Freunden. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Violeta del Valle, eigenwillig, unangepasst, leidenschaftlich. Eine starke, gemeinsam mit ihrem ältesten Bruder auch geschäftlich sehr erfolgreiche Frau, die in ihren Aufzeichnungen auch offen über ihre Fehler, Schwächen und Zweifel schreibt.

Handlung und Schreibstil

Violeta verfasst diese Geschichte ihres Lebens für ihren Enkel Camilo und tut dies als Ich-Erzählerin. Daher schwingen in allen Schilderungen ihre persönlichen Gefühle mit, auch  dann, wenn sie über die wichtigen gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen dieser langen Zeitperiode schreibt, besonders über die auch für die Familie gefährliche Zeit der Diktatur, wo jeder Schritt und jedes Wort genau beobachtet wurden. Die Handlung wird chronologisch geschildert, mit einigen erklärenden Erinnerungen und ist in übergeordnete Kapitel eingeteilt, die jeweils zwanzig Jahre umfassen. Zusammen mit den besonders prägenden Erlebnissen, die immer auch mit jenen wichtigen Frauen und Männern verbunden sind, die sie über viele Jahre ihres Lebens begleitet haben, ergibt dies ein großartig zu lesendes Generationenepos, von der ersten bis zur letzten Seite interessant, spannend und überzeugend.

Fazit

Die Bücher der Schriftstellerin Isabel Allende haben eines gemeinsam: von der ersten Seite an folgt man gebannt der Geschichte ihrer Figuren, nicht gewillt, die Lektüre zu unterbrechen, bevor man den letzten Satz gelesen hat. Andererseits möchte man innehalten und wünscht sich, das Buch möge nicht so rasch zu Ende sein – doch dies ist mir auch diesmal nicht gelungen, einmal begonnen, konnte ich diesen packenden, vielschichtigen Roman nicht aus der Hand legen.

Im Atlas – Andreas Jungwirth

AutorAndreas Jungwirth
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 28. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten296
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650677

„Im Laufe einer jeden Reise, gegen Ende hin, gibt es diesen Moment, wo alles, was David in einem Land erlebt hatte, in eine zeitliche Ferne gerückt scheint, sich weit in der Vergangenheit abgespielt hat, obwohl er sich noch in diesem Land befindet.“ (Zitat Seite 266)

Inhalt

David ist Bühnenbildner, sein Freund Stefan ist studierter Betriebswirtschaftler. Beide sind beruflich eingespannt, doch Anfang Oktober ist es so weit, acht Tage Marokko, von Marrakesch aus weiter in Richtung Süden. Stefan hat alles organisiert, inklusive Mietwagen und Fahrer. Obwohl am Tag vor Beginn ihrer Reise über die Ermordung von zwei jungen Touristinnen nahe Imhil berichtet wird, überredet David Stefan, die Reise nicht abzusagen. Rasch kommt es zu Spannungen, sie halten es für besser, in einem Land wie Marokko ihre Beziehung zu verheimlichen, aber ihren Fahrer Kalifa können sie mit ihren Geschichten nicht täuschen, doch ist das überhaupt wichtig? Es zeigt sich, dass im Hintergrund ihrer gemeinsamen Reise die Frage, ob und wie es mit ihnen beiden weitergehen soll, immer präsent ist. Als David ausgerechnet nach Imhil will, um mehr über die Hintergründe der beiden Morde zu erfahren, verschwindet ihr Fahrer samt Auto, und David und Stefan sind auf sich alleine gestellt.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht eine Reise durch Teile Marokkos, doch dieser Roadtrip ist nur der vordergründige Rahmen für eine Reise in die jeweils eigene Vergangenheit von David und Stefan, es geht um Geheimnisse, Ehrlichkeit in einer Beziehung und den Mut, den Partner wirklich in das eigene Leben zu lassen.

Charaktere

David ist sechsundvierzig Jahre alt und hat bisher länger dauernde Beziehungen vermieden, hat immer für eine rasche Trennung gesorgt. Als Künstler hofft er immer noch auf den großen Durchbruch. Stefan ist ein Jahr älter, er ist der organisierte, erfolgreiche Geschäftsmann, provoziert David auch rhetorisch bewusst, fordert ihn heraus, endlich ehrlich Stellung zu beziehen.

Handlung und Schreibstil

Der Erzähler schildert diese Tage chronologisch, ergänzt durch Rückblenden in Form von Erinnerungen an prägende Ereignisse. Er berichtet personal, wird aber einige Male in seinen Andeutungen auch allwissend, was das Lesen abwechslungsreich, intensiv und interessant macht. Im Mittelpunkt der Geschichte steht David, wir kennen seine Gedanken und Gefühle, seine Hoffnungen als Künstler, durch ihn erhalten wir Einblick in die Welt des Theaters, das Erarbeiten einer neuen Inszenierung, während wir von Stefan nicht mehr wissen, als David von ihm erfährt. Die Gedanken, die Stefan vor David geheim hält, kennen auch wir nicht. Mit jedem Tag dieser Reise lesen wir lebhafte Beschreibungen der Schönheiten und Eigenheiten des Landes Marokko, seiner Menschen, Landschaften und Natur. Andererseits tauchen wir immer weiter in die Hintergründe dieser noch relativ jungen Beziehung ein und verfolgen gespannt Seite um Seite nicht nur die abenteuerlichen Erlebnisse von David und Stefan, sondern fragen uns, ob die Erfahrungen dieser acht Tage sie verändern werden.

Fazit

Ein Roman mit vielen Facetten, die Schilderung einer Reise durch Marokko, ein Roadtrip, das Reisen aber auch als Metapher für die Wege in eine Beziehung und zu den Möglichkeiten, welche die Zukunft bietet, wenn man bereit ist, Entscheidungen zu treffen.

Das Glück im Großen und Ganzen – Teresa Kirchengast

AutorTeresa Kirchengast
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 30. Mai 2022
FormatBroschiert
Seiten200
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650707

„Sie war sich nur noch nicht sicher, wie interessant sie ihr Leben überhaupt haben wollte. Oder ob es ihr nicht besser ginge in einem Leben des Mittelmaßes mit den Extremen am Rand und freier Sicht auf einen unaufgeregten Alltag.“ (Zitat Seite 22)

Inhalt

Die drei Frauen Molly, Anke und Marie teilen sich eine Wohnung und staunen immer wieder, wie gut sie einander verstehen, obwohl sie so unterschiedlich sind. Sie sind Mitte zwanzig und dieser Sommer hat es in sich. Es gibt viel zu besprechen an den Sommerabenden auf dem Balkon mit der schönen Aussicht, auf den gerade drei Sessel passen und natürlich Himbeerkracherl für alle. Molly verliebt sich, zum ersten Mal in ihrem Leben bedingungslos, doch da gibt es ein Problem. Anke dagegen versucht, sich aus ihrer Beziehung zu lösen und Marie könnte sich verlieben, muss aber erst herausfinden, ob sie das überhaupt will. Es ist der Sommer der Fragen des Lebens. Würden sie Antworten finden, zum Beispiel auf die Frage, ob sie sich selbst als glückliche Menschen bezeichnen würden?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die vielen Facetten von Beziehungen, Freundschaft, Familie, aber auch um gesellschaftskritische Themen wie Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen.

Charaktere

Molly, aus einer Professorenfamilie stammend, liebt ihren Beruf als Schusterin, ist resolut, eigenwillig und meistens fröhlich und positiv. Anke arbeitet als Konditorin und Bäckerin, ist eher zurückhaltend. Marie studiert Kunstgeschichte, schreibt an ihrer Magisterarbeit über österreichische Schimpfwörter und macht sich sehr viele Gedanken, über alle und alles.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung spielt während eines Sommers und wird chronologisch erzählt. Geschildert wird der Alltag der drei Hauptfiguren und ihre unterschiedlichen Erlebnisse, ergänzt durch die Schilderung der gemeinsamen Abende und teilweise Wochenenden und durch Erinnerungen, die sie einander erzählen. Es ist die Geschichte einer Frauengeneration von heute im Wissen um die Probleme der aktuellen Zeit, teilweise noch auf der Suche, wie sie sich ihr Leben vorstellen, aber auch mutig, sich auf Erfahrungen einzulassen. Die Sprache ist modern, locker und angenehm zu lesen, passt in die Welt der Mitte-Zwanzigjährigen und durch das besondere Thema der Abschlussarbeit von Marie fließen originelle Wortkreationen locker in die Handlung ein.

Fazit

Eine entspannte Sommergeschichte zwischen nachdenklich und humorvoll, mit drei sehr sympathischen Protagonistinnen, mit denen man gerne befreundet sein würde.

Quatre-Bras – Michael Kanofsky

AutorMichael Kanofsky
Verlag Verlag duotincta GbR
Erscheinungsdatum 7. Juli 2022
FormatBroschiert
Seiten221
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3946086710

„Bringen Sie erst das zu Ende, was Sie begonnen haben, bleiben Sie dabei, und nur dabei, vor allem dann, wenn Sie glauben, zwischen den Worten und Sätzen festzustecken und nicht weiterzukommen und sich fragen, welchen Sinn es hat, Tag und Nacht in die Schreibmaschine zu hacken.“ (Zitat Seite 17)

Inhalt

Es war in diesem besonderen Sommer, als der Ich-Erzähler, wir kennen seinen Namen nicht, damals noch Student der Literaturwissenschaften in München, seine Sommersemesterferien in Paris verbrachte. Schreibend, schon damals mit dem brennenden Wunsch, Schriftsteller zu werden. In einer Buchhandlung erkennt er plötzlich sein großes Vorbild, den Schriftsteller Julio Cortazár und sie kommen ins Gespräch. Dies ist der Beginn einer jahrelangen Freundschaft. Angeregt durch die Gespräche mit dem erfahrenen Schriftsteller wächst im Ich-Erzähler die Idee, eine literarische Biografie über seinen ehemaligen Schulfreund, den erfolgreichen deutsch-brasilianischen Milliardär Antonio-Luiz Kleber zu schreiben.

Thema und Genre

Dieser Roman, der zweite Teil der Packeis-Trilogie, ist fiktiv, obwohl einige der handelnden Figuren real sind. Auch die Schilderungen aus dem Leben eines Schriftstellers, den täglichen Schreibprozess und die Tage, eingeschlossen zwischen Bergen von unbeschriebenen weißen Seiten, daher auch der Titel „Im Packeis“, zeigt einen deutlichen Bezug zum realen Leben des Autors.

Charaktere

Es sind sehr unterschiedliche Hauptfiguren, denen wir in diesem Roman begegnen. Den namenlosen Schriftsteller verbindet eine Jugendfreundschaft und Erinnerungen an diese unbeschwerte Zeit mit dem äußerst erfolgreichen Geschäftsmann Antonio-Luiz Kleber und andererseits eine Freundschaft mit dem berühmten, älteren Schriftsteller, der auch sein Mentor ist. Mir war Julio Cortázar bisher überhaupt kein Begriff, doch nun wurde ich neugierig auf sein Werk.

Handlung und Schreibstil

Quatre-Bras, ein Ort, wo sich vier Wege in vier unterschiedliche Richtungen kreuzen und die Entscheidungen getroffen werden, welcher Richtung man folgen wird. Wer den ersten Teil der Trilogie kennt weiß, dass man bei Michael Kanofsky keine einfache, chronologisch fortlaufende Handlung erwarten sollte. Auch diesmal entführt uns der Autor in Städte wie Berlin, München, Brüssel, Paris, in die Bretagne und zurück, dann sogar in die schillernde Weltstadt Rio de Janeiro. So folgen wir dem herrlich schrägen namenlosen Ich-Erzähler auf seinen Gedankenspaziergängen zurück in die Vergangenheit und sehen ihm an seinem aktuellen Schreibplatz in Berlin über die Schulter. Wie es nach dem Abitur, als sich ihre Wege trennten, mit seinem Freund Antonio-Luiz weiterging, erzählt ihm dieser während des Treffens in Rio. Dazwischen die phantastischen Ideenflüge und Gedankensprünge des Ich-Erzählers, die für Schmunzeln und Überraschungen sorgen, ebenso wie die lebhafte Sprache, die ebenfalls zwischen vielen Ausdrucksvarianten wechselt. „Wichtig ist, wie du erzählst. Du bist ein Maler: deine Leinwand ist das leere Blatt Papier vor dir. Du schafft eine Welt, die vorher nicht da war.“ (Zitat Seite 157)

Fazit

Eine ungewöhnliche Geschichte zwischen Coming-of-Age, Road-Trip, Literatur und Schreiballtag. Auch dieser zweite Teil der Packeis-Trilogie ist Lesevergnügen und macht schon jetzt Vorfreude auf den dritten Teil.

Toxische Tiefe: Ostsee – Karen Kliewe

AutorKaren Kliewe
Verlag Piper Spannungsvoll
Erscheinungsdatum 28. April 2022
FormatKindle-Ausgabe (epub)
Seiten366 (Printausgabe)
SpracheDeutsch
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„Die Monitore auf der Brücke, die zeigen doch unter anderem den Bereich des Sondenraums, in dem sich die Klappe befindet. Warum hat der Befehlshabende nichts gesehen.“ (Zitat Seite 79)

Inhalt

Johanna „Ann“ Arnold steht kurz vor dem Abschluss ihres Journalistik-Studiums. Da ist die Anfrage von Dr. Hanke Martens, Expeditionsleiter eines Forscherteams, das sich mit der Umweltsituation der Ostsee beschäftigt, ihn auf dem Forschungsschiff Neptun zu begleiten, eine einmalige Chance. Anfang November geht sie für zwei Wochen an Bord, um wichtige Untersuchungen und den Forschungsalltag an Bord zu dokumentieren. Auf hoher See zwischen Rostock und Gotland verschwindet plötzlich ein Mitglied des Forschungsteams, kurz darauf ist eine weitere Person verschwunden. Ann glaubt nicht an Zufälle und beginnt mit ihren Nachforschungen, heimlich unterstützt von Polizeioberkommissar Fredde Steinmann und ihrem Freund Marc, der gerade beim BKA Wiesbaden eine Ausbildung zum Kriminaltechniker Biochemie absolviert. Trotzdem gibt es bei jeder ihrer Überlegungen zu viele Wenn und Aber, Lücken, die nicht passen. Wie hängt das alles zusammen, denn sie ist überzeugt, dass es einen großen Zusammenhang gibt.

Thema und Genre

In diesem Kriminalroman mit Ostsee-Bezug, Band drei einer Serie um die Journalistin Johanna Arnold, geht es um Klimaschutz und den Schutz der Meere, hier mit der besonderen Problematik der Ostsee, moderne Umwelttechnologien, Beziehungen und das Leben auf einem Forschungsschiff.

Charaktere

„Für mich klingt das sehr nach Herumschnüffeln. Nach allem, was man hört, scheint das eine Leidenschaft von dir zu sein.“ (Zitat Seite 113) Besser als mit dieser Aussage der Mikrobiologin Ingke kann man die junge Journalistin Ann nicht charakterisieren. Auch die anderen Personen an Bord dieses Forschungsschiffes sind sehr gut beschrieben und ihre unterschiedlichen Eigenschaften und Ansichten geben den Lesenden immer neue Ideen für mögliche Tathergänge und Zusammenhänge.

Handlung und Schreibstil

Der kurze Prolog der Geschichte zeigt vorab eine bestimmte, wichtige Situation, zu diesem Zeitpunkt ist es noch völlig offen, was da genau passiert. Anschließend geht die Handlung mit Kapitel 1 einige Tage zurück und verläuft nun chronologisch, beginnend mit der Entscheidung von Johanna Arnold, diese einmalige Chance zu ergreifen, einen wissenschaftlichen Text für ein bekanntes Magazin zu verfassen. Es ist November, die Tage sind entsprechend dunkel und die Ostsee ist stürmisch. Die unterschiedlichen Charaktere an Bord der Neptun, die möglichen Hintergründe und überraschende neue Informationen garantieren einen hohen Spannungsbogen, der nur manchmal durch ausführliche Schilderungen unterbrochen wird, aber rasch wieder ansteigt. Die Sprache passt zum Genre und ist angenehm zu lesen.

Fazit

Eine neugierige, junge Journalistin mitten in Vorgängen, deren Zufälligkeit sie misstrauisch machen. Die Besatzung und ein Expertenteam mit Mikrobiologen und Geophysikern auf einem Forschungsschiff während der stürmischen Novembertage auf der Ostsee zwischen Warnemünde und Gotland. Zusammen ergibt dies einen spannenden, facettenreichen Kriminalroman.

Die Lüge – Mikita Franko

AutorMikita Franko
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 3. Mai 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMaria Rajer
ISBN-13978-3455013672

„Und obwohl wir einer normalen Familie immer ähnlicher wurden, beschlich mich das Gefühl, dass irgend etwas nicht stimmte.“ (Zitat Pos. 324)

Inhalt

Mikita, doch alle nennen ihn Miki, ist fünf Jahre alt, als seine Mutter stirbt. Sein Onkel Slawa, der Bruder seiner Mutter, ist nur sechzehn Jahre älter als Miki. Er war schon immer wie ein großer Bruder für ihn und nimmt Miki jetzt auf. Doch Slawa lebt nicht allein, er lebt mit dem Arzt Lew zusammen. So hat Miki eine neue Familie, ohne Mutter, dafür mit zwei Vätern und das darf niemand wissen. Je älter Miki wird, desto mehr bedrückt ihn die Situation und dazu kommen noch seine eigenen Gefühle, die ihn in Verwirrung stürzen. Sein Leben ist plötzlich ein wütendes Chaos und er erkennt sich selbst nicht mehr. Was ist nur mit ihm los?

Thema und Genre

In diesem modernen Coming-of-Age- und Gesellschaftsroman, der in Russland spielt, geht es um Freundschaft, Familie, Verständnis, Pubertät, Psychologie. Themen sind alle Facetten von Liebe und unterschiedliche Beziehungsformen.

Charaktere

Mikita verbringt seine Kindheit und Jugend in einer Familie mit zwei Vätern. Zunächst fällt ihm das nicht auf, doch im Schulalter beginnen die mit dieser Situation verbundenen Lügen und Geheimnisse. Dies, in Verbindung mit den Problemen der Pubertät führen zu einem Gefühlschaos zwischen Depression und Aggression.

Handlung und Schreibstil

Mikita wächst mit zwei Vätern auf und erzählt als Ich-Erzähler. Die Handlung umfasst chronologisch und zeitnah die wichtigen Jahre der Kindheit und Jugend. Ergänzt werden die aktuellen Ereignisse durch Erinnerungen an einzelne, prägende Episoden der frühen Kinderjahre. Die Form des Ich-Erzählens lässt auch Raum für die Schilderung der intensiven Gefühle und Stimmungen, Konflikte und Probleme dieser speziellen Familienform in der unterdrückten Öffentlichkeit des konservativen Russland. Mikita ist ein sympathischer, ehrlicher Erzähler und die Geschichte ist nachvollziehbar. Die Sprache passt zum Alter des Ich-Erzählers und wir glauben ihm.

Fazit

Ein einfühlsamer Roman zu einem zeitlos aktuellen Thema, geschrieben in der erfrischend direkten, offenen Sprache eines jungen Ich-Erzählers. Eine trotz zahlreicher Konflikte und Probleme sehr positive Geschichte.

Schreibtisch mit Aussicht: Schriftstellerinnen über ihr Schreiben – Ilka Piepgras

AutorIlka Piepgras
Verlag Kein & Aber
Erscheinungsdatum 3. November 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3036958262

„Von den vielen guten Gründen, trotz widriger Umstände zu schreiben, erzählt dieses Buch. So gesehen hat es sein Ziel erreicht: Es bricht das klischeehafte Bild der zeitgenössischen Schriftstellerin und zeigt ihre Kunst als das, was sie tatsächlich ist: harte Arbeit.“ (Zitat Seite 14)

Thema und Inhalt

Diese Anthologie enthält einen einleitenden Text der herausgebenden Autorin und weitere dreiundzwanzig Texte von dreiundzwanzig bekannten Autorinnen, in welchen sie offen über die beglückenden, kreativen Momente, aber auch über die Selbstzweifel in ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin, ihre Erfahrungen und ihre ganz persönliche Art des Schreibprozesses berichten. Die Liste der Namen beginnt mit Antonia Baum und endet mit Meg Wolitzer und wir finden zum Beispiel Beiträge von Sibylle Berg, Katharina Hagena, Siri Husvedt, Zadie Smith und weitere, ebenso bekannte Namen.

Umsetzung

So unterschiedlich wie das Leben und die Bücher der einzelnen hier präsentierten Schriftstellerinnen sind auch ihre Texte. In dieser Sammlung finden sich Essays, teilweise zum ersten Mal in deutscher Sprache, und Texte, die aus Interviews entstanden sind. Der Autorin ist es sogar gelungen, per E-Mail ein schriftliches Interview mit der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek zu führen und von der Autorin Sheila Heti stammt ein ebenfalls schriftliches E-Mail-Interview mit Elena Ferrante.

Es ist diese interessante Vielfalt von unterschiedlichen Herangehensweisen, Routinen und Vorbildern, die dieses Buch zu einer begeisternden Lektüre macht, die reale Einblicke in das Leben von schreibenden Frauen zwischen Familienalltag und diszipliniertem Arbeiten gibt. Besonders informativ und spannend für alle Lesenden sind die unterschiedlichen persönlichen Auseinandersetzungen mit Erzählformen und den Erzählstimmen der Figuren, denn nicht jede Ich-erzählende Figur ist, wie oft beim Lesen eines Romans angenommen, auch autobiografisch. „In jedem Buch fehlt der Körper des Schreibers, und diese Abwesenheit macht die Buchseite zu einem Ort, an dem wir wirklich frei sind, dem Mann oder der Frau zuzuhören, die spricht. Wenn ich ein Buch schreibe, höre ich auch zu. Ich höre die Figuren sprechen, als wären sie außerhalb von mir, statt in mir.“ (Zitat Seite 66, Siri Hustvedt: Being a Man). Der Text von Zadie Smith trägt sogar den Titel „Das Ich, das ich nicht bin (Seite 184 – 202) und setzt sich intensiv mit diesem Thema auseinander.

Fazit

Ein inspirierendes, interessantes Buch, das zum ersten Mal in dieser komprimierten Form Einblick in den Alltag und das kreative Schaffen von Schriftstellerinnen gibt und auch sprachlich begeistert.  

Es ist ein Mädchen – Camille Laurens

AutorCamille Laurens
Verlag dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Erscheinungsdatum 18. Mai 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ÜbersetzungLis Künzli
ISBN-13978-3423290166

„Morgens nach der Dusche klatsche ich im schummrigen Neonlicht des Badezimmers meine Haare nach hinten, spanne meinen Kiefer an und dort, unter den buschigen Augenbrauen, mit nackter Haut, gleiche ich meinem Vater, in meinem Gesicht steckt ein Junge. Ich kann mich nicht entscheiden.“ (Zitat Seite 138)

Inhalt

Laurence wird 1959 in Rouen geboren, als zweite Tochter der Familie des Arztes Jean-Matthieu Barraqué. Eine große Enttäuschung für den Vater, der nach der ersten Tochter Claude mit einem Sohn gerechnet hatte. Die Kommentare der Familie und Bekannten „Ah, das ist doch auch gut“ hört Laurence natürlich noch nicht, aber ihre Kindheit und Jugend in dieser gutbürgerlichen Familie sind geprägt von den Vorschriften, wie sich Mädchen zu verhalten haben. Ihre Schwester Claude entflieht Rouen und der Familie sofort nach dem Abitur, sie geht nach Kanada, um nie mehr zurückzukommen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester kehrt Laurence nach Studium und Heirat nach Rouen zurück, da sie ihr erstes Kind erwartet – einen Sohn.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die vielen Formen von Misogynie, verdeckt oder offen, denen Frauen schon ab ihrer Geburt als Mädchen in der zweiten Hälfte des modernen zwanzigsten Jahrhunderts ausgesetzt waren und auch heute noch sind.

Charaktere

Laurence lernt rasch, was es bedeutet, ein Mädchen zu sein. Auch später, als erwachsene Frau, kann sie sich den Zwängen ihrer Erziehung und Gesellschaft kaum entziehen. Ich hatte eine stärkere Hauptfigur erwartet, die sich früher und bewusster zur Wehr setzt.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin schildert am Beispiel eines Frauenlebens alle Facetten von Misogynie, Erziehung, Ungleichbehandlung, Rollenbildern, bis zu Unterdrückung, sexuellen Übergriffen und Gewalt, denen eine Frau von Geburt an ausgesetzt sein kann und ist. Durch diesen Fokus auf eine einzige Beispielfigur, Laurence, ergibt sich eine Fülle von erlebten Situationen und Ereignissen, deren Realität und Glaubwürdigkeit man während des Lesens zu hinterfragen beginnt. Vom Verlag werden die Romane von Camille Laurens als autofiktional eingestuft, doch für mich war es an manchen Stellen schwierig, zwischen Phantasien, Fiktion und möglicher, nachvollziehbarer Realität zu unterscheiden. Entsprechend positiv und interessant ist für mich daher der Wechsel zwischen den Erzählperspektiven, wenn die Ich-Erzählerin Laurence bei den Erinnerungen an besonders prägende Ereignisse auf Distanz zu sich selbst geht.

Fazit

Dieser Roman, oder eher eine dichte Beschreibung und Aufzählung der möglichen Diskriminierung von Frauen in Worten und Taten wurde und wird vor allem von Leserinnen mit zustimmender Begeisterung aufgenommen. Obwohl ich mir der Wichtigkeit dieses facettenreichen, zeitlos aktuellen Themas bewusst bin, wurde es für mich im Laufe der Geschichte too much, zu viel gewollt und damit zu konstruiert, um mich zu überzeugen. Dennoch ein lesenswertes Buch, das zum Nachdenken und Diskutieren anregt.

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